Efeu - Die Kulturrundschau

Nicht mehr kontrollierbare Synapsenabstürze

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.08.2016. Die taz bewundert in einer Leipziger Schau die organische Moderne des finnischen Designers Tapio Wirkkala. Außerdem erkundet sie mit Thomas Melles die Welt des Wahns. Die FR setzt noch einmal auf die Postmoderne, um die Städte vor der Immobilienwirtschaft zu retten. Die NZZ blickt in die traurigen Augen des Hans Jakob Oeri. Und ZeitOnline sehnt sich im Kino nach einem schönen französischen Wutausbruch.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 31.08.2016 finden Sie hier

Design

"Transparent, klar, elegant": Ingo Arend staunt in der taz über die filigranen, detaillierten Arbeiten des Glasdesigners Tapio Wirkkala, die derzeit in einer großen Schau in Leipzig zu sehen sind: "Wirkkala näherte sich dem Werkstoff Kunstglas als Bildhauer mit Gespür für expressive Effekte und dem Interesse an der Natur. ... Die biomorphen Formen, die er bevorzugte, hatte schon der Architekt Alvar Aalto zum Markenkern der skandinavischen Antwort auf den Bauhaus-Funktionalismus gemacht. Unter Wirkkala gewann das, was Fachleute die 'Organische Moderne' nennen, seine sichtbarste Gestalt." (Tapio Wirkkalas Chantarelle, 1947, für Ittala)

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Literatur

So fasziniert wie erschüttert schreibt Cord Riechelmann in der taz über Thomas Melles Roman "Die Welt im Rücken", der tief hinein in den manisch-depressiven Wahn führe: "Wie Thomas Melle sein eigenes Zerreißen zwischen überfunkenden Nervenenden und nicht mehr kontrollierbaren Synapsenabstürzen als körperlichen wie geistigen Prozess beschreibt, ist schlicht umwerfend. Melle wählt den einzig richtigen Ausweg unserer Tage. Er spricht in nichts anderem als seinem eigenen Namen. Auf seine Art hat er beschlossen, seinen Namen auf die würdevollste Art zu bewohnen, die noch möglich ist: in der verständlichsten Schrift."

Weiteres: Auf Fixpoetry attackiert Bertram Reinecke heftig Charlotte Kraffts Perlentaucher-Essay über die junge Literatur "Das Postpost oder Wege aus dem Ich". Julius Heinrichs stöhnt im Tagesspiegel über Regionalkrimis. Gina Thomas berichtet in der FAZ von Ian McEwans Londoner Pressekonferenz anlässlich der Veröffentlichung seines neuen Romans "Nutshell". In der Welt unterhält sich Matthias Heine mit dem Kölner Germanisten Karl-Heinz Göttert über Luthers Deutsch.

Besprochen werden Martin Pollacks Essays "Topografie der Erinnerung" (NZZ), Fridolin Schleys "Die Ungesichter" (FR),  Reinhard Kaiser-Mühleckers "Fremde Seele, dunkler Wald" (ZeitOnline), Akos Domas "Der Weg der Wünsche" (Tagesspiegel), Bodo Kirchhoffs Novelle "Widerfahrnis" (SZ) und Susanne Neuffers Erzählungsband "In diesem Jahr der letzte Gast" (FAZ). Mehr auf Lit21, unserem literarischen Metablog.
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Film


So schön ist Frankreich: Der Landarzt von Chaussy".

Die Welle französischer Heile-Welt-Komödien macht Heike Kunert geradezu aggressiv. Im aktuellen Film "Der Landarzt von Chaussy" etwa kann sie kaum noch an sich halten, gesteht sie auf ZeitOnline: "Man schaut diesen Film und kommt sich selbst vor wie in einem Warteraum, immer darauf hoffend, dass gegen diese Überdosis Harmonie und Sich-lieb-Haben endlich der Verstand aufgerufen wird. Woran erinnern bloß all diese Filme mit Lavendelsträußchen im Knopfloch? Richtig: Sie erinnern an den deutschen Heimatfilm. ... Man wünscht sich einen schönen französischen Wutausbruch und bekommt nicht einmal einen Seufzer."

Weiteres: Im Freitext-Blog auf ZeitOnline deutet Viktor Martinowitsch die HBO-Serie "Game of Thrones" als Parabel auf die politische Situation im postsowjetischen Raum. "Fromme Langeweile" erlebte Bert Rebhandl im Standard mit dem als Actionreißer neu verfilmten Bibelklassiker "Ben Hur". In der NZZ stimmt Susanne Ostwald auf die heute Abend beginnende Filmfestspiele von Venedig ein. Im Standard hofft Dominik Kamalzadeh, dass das Festival in diesem Jahr wieder etwas weiter vom Mainstream wegrückt. In der taz wirft Tim Caspar Boehme einen ersten Blick ins Programm. Zum Tod von Gene Wilder schreiben Christian Bos (Berliner Zeitung), Daniel Kothenschulte (FR) und Patrick Bahners (FAZ).

Besprochen wird der wiederaufgeführte japanische Avantgard-Animationsfilm "Die Tragödie der Belladonna" aus dem Jahr 1973 (FAZ).
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Architektur

In der FR bricht Robert Kaltenbrunner eine Lanze für die postmoderne Architektur, um der derzeitig ungehemmten Stadtentwicklung etwas entgegenzusetzen: "Die Postmoderne mag in vielerlei Hinsicht eine kulturtheoretische Herausforderung sein. Viele der von ihr aufgeworfenen Fragen aber stehen nach wie vor im Raum: Wie lässt sich das Wechselverhältnis von Architektur und Nutzern beeinflussen? Welchen Beitrag können breitere Theoriekonzepte für die Gestaltung der Umwelt haben? Wie kann Architektur ein gesellschaftliches Mobilisierungsvermögen gewinnen? Just dies ist heute wieder von eminenter Bedeutung. Gegen den derzeitigen, ungehinderten Zugriff der Immobilienwirtschaft auf alles, was nicht niet- und nagelfest ist, müssen sich erneut Stadtbürger mit Kunsthistorikern und Architekten solidarisieren."
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Musik

Für den Tagesspiegel spricht Frederik Hanssen mit dem Dirigent John Wilson, der die Musik von Hollywoodmusicals rekonstruiert.

Besprochen werden Frank Oceans neue Alben "Blonde" und "Endless" (Welt), Aaron Nevilles Album "Apache" (NZZ) Clemens Marschalls Buch "Avant-garde from Below: Transgressive Performance from Iggy Pop to Joe Coleman and GG Allin" (SZ) und das neue Album der Wild Beasts (SZ).
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Stichwörter: Pop, Iggy, Oceane

Kunst

Thomas Ribi freut sich in der NZZ über die Wiederentdeckung des Zürcher Malers Hans Jakob Oeri, dem das Kuntshaus Zürich eine große Ausstellung widmet. Besonders das Selbstporträt hat Ribi berührt: "Ist das der Blick eines Mannes, der sich verfolgt fühlt, einem Schicksal ausgeliefert, aus dem es kein Entrinnen gibt? Schaut so einer aus, der nichts mehr zu verlieren hat? Oder einer, der nichts mehr vom Leben erwartet? Warum malt einer ein solches Selbstporträt? Warum zeigt sich jemand so - als Versehrter, der jeden Halt verloren hat?" (Hans Jakob Oeri: Selbstporträt, 1810)

Kerstin Holm berichtet in der FAZ von einer Pressekonferenz des Centre Pompidou, dem eine umfangreiche Sammlung spätsowjetischer Kunst vermacht wurde.

Besprochen wird die Retrospektive Carl Andre im Hamburger Bahnhof in Berlin (SZ).
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