Efeu - Die Kulturrundschau

Aus dem Biedermeier hinausschießen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.09.2016. Joël Pommerats "Ça ira (1). Fin de Louis" ist in Frankreich das Stück der Saison, weiß der Tagesspiegel und stürzt sich freudig in den Debattenlärm von 1789. Die Presse applaudiert dem neuen Wiener Alban Berg Ensemble, das Schönbergs Verein für musikalische Privataufführungen wiederbeleben will. Im Standard erklärt die Katalanin Alia Luque, warum sie so gern Grillparzer spielt. Die dunklen Nächte in der Malerei sind den Nordeuropäern zu verdanken, lernt der Guardian in Eastbourne.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.09.2016 finden Sie hier

Bühne


"Ça ira" am Theater Nanterre-Amandier. Foto: Elisabeth Carecchio

Das französische Theater zeigt sich derzeit wieder hochpolitisch, berichtet Eberhard Spreng im Tagesspiegel. Insbesondere an Joël Pommerats Stück "Ça ira (1). Fin de Louis" macht er das fest, das die bürgerliche Revolution als Prozess nachstellt und sein Publikum "in den Debattenlärm der Zeit ab 1789" versetzt Laut Spreng ist es das Stück der Saison: "Der Theatersaal wird zum Hexenkessel beim Brauen eines Zaubertrankes, in dem sich gute Absichten mit neuen Ideen und nicht nur guten Gefühlen mischen. Pommerat hat bis auf den Monarchen Ludwig XVI. alle üblichen Protagonisten der Zeit verschwinden lassen, kein Robespierre, kein Saint- Just, kein Danton und auch keine Rüschenseligkeit und Sansculotten-Folklore. ... Es geht um nichts als den Kampf der Sprache für und gegen die Macht der Verhältnisse. Um Ausflüchte und um Appelle, um Überzeugungsreden und um Wutausbrüche, um künftige Gesetzestexte und um Tagesordnungsprosa." In Dortmund ist gerade eine deutschsprachige Bearbeitung des Stückes zu sehen.

Am Düsseldorfer Schauspielhaus ist an einen geordneten Spielbetrieb schon lange nicht mehr zu denken, weiß Hans-Christoph Zimmermann in der NZZ, dem es durchaus imponiert, dass Wilfried Schulz der Stadt ein Zirkuszelt auf der Königsallee abgepresst hat. Auch Roger Vontobels "Gilgamesch"-Inszenierung hat ihn beeindruckt: "Vontobels Inszenierung speist sich aus dem Geist einer totalen Aneignung, die überall Gegenwart wittert. Ihr ist nichts Mythisches fremd."

Einer muss entscheiden, meint Claus Peymann, der im Interview mit Spon jede Mitbestimmung von Schauspielern am Theater ablehnt. Außer bei seinem Nachfolger Reese: "Weil Reese als neuer Intendant am BE von 35 Schauspielern offenbar 35 hinauswirft. Von 80 künstlerischen Verträgen will er 70 nicht verlängern. Das ist ein Zerstörungsschlag, den ich unerträglich und unzulässig finde. Im Vertrag des BE-Intendanten steht, dass er die Tradition dieses Hauses zu pflegen hat. Reese aber will es leer fegen, indem er sich über alle sozialen Standards hinwegsetzt und unsere tolle Truppe komplett aus dem Haus jagt."

Weitere Artikel: Die katalanische Regisseurin Alia Luque schwärmt im Standard-Interview mit Margarete Affenzeller vom Abstraktionsvermögen der deutschen Sprache, vom Kulturauftrag des Theaters und von Grillparzer: "Ich merke, wie viel Wucht seine Sätze haben, die aus dem Biedermeier hinausschießen. Die Sprache ist lyrisch, aber keineswegs blumig." Das nach neuesten Forschungen William Shakespeare zugeordnete Manuskript "Die Fremden" liest Felix Stephan von ZeitOnline vor dem Hintergrund aktueller Fremdenfeindlichkeit als Plädoyer für Toleranz und Liberalismus. Rüdiger Schaper schreibt im Tagesspiegel zum Tod des Schauspielers Michael Altmann.

Besprochen werden Philippe Quesnes beim Steirischen Herbst gezeigtes Stück "Die Nacht der Maulwürfe (Welcome to Caveland!)" (ORF, SZ) und Michael Schulz' "Salome"-Inszenierung in Dresden (neue musikzeitung, FAZ).
Archiv: Bühne

Literatur

In der taz schreibt Du Pham über den Peter Hammer Verlag, der nunmehr seit fünfzig Jahren Literatur, Kinderbuch und aktivistische Solidaritätsarbeit mitienander verbindet.

Besprochen werden Sibylle Lewitscharoffs "Das Pfingstwunder" (Zeit), Stephen Kings neuer Roman "Mind Control" (Freitag), Elizabeth Strouts "Die Unvollkommenheit der Liebe" (FR), Elizabeth Harrowers "In gewissen Kreisen" (Tagesspiegel), Shida Bazyars "Nachts ist es leise in Teheran" (SZ) und Lauren Groffs "Licht und Zorn" (FAZ).

Mehr aus dem literarischen Leben auf:

Archiv: Literatur

Film

Ein Filmfestival ist immer. In San Sebastian war William Oldroyds Debüt "Lady Macbeth" ein "ein Lichtblick in dem ansonsten erschreckend schwachen Wettbewerb", schreibt Marco Schmidt in der FAZ, der sich entsetzt darüber zeigt, dass die Jury mit Xiaogang Fengs "Ich bin nicht Madame Bovary" eine ziemlich "krude Sozialsatire" ausgezeichnet hat. Christian Schlüter schreibt in der FR zum Tod des Trashfilmers Herschell Gordon Lewis. Im Guardian widmet ihm auch Peter Bradshaw einen liebevollen Nachruf, betont allerdings, dass Lewis nicht nur Vater des Schlock-Horrors war, sondern auch als Gauner sehr einfallsreich.

Besprochen werden der Thriller "The Infiltrator" mit Bryan Cranston (critic.de), Kai Wessels "Nebel im August" (Welt, Tagesspiegel, Berliner Zeitung) und der neue Pixar-Film "Findet Dorie" (SZ, FAZ).
Archiv: Film

Musik

In der Presse stellt Wilhelm Sinkovicz das neue Alban Berg Ensemble Wien vor, das sich in Anlehnung an Arnold Schönbergs Verein für musikalische Privataufführungen ganz der Verbreitung Neuer Musik verpflichtet hat: "Wobei anders als einst bei den Privataufführungen Applaus ausdrücklich erwünscht ist. Schönberg hatte sich Beifalls- wie Missfallenskundgebungen verbeten. Die Hörer sollten sich auf die Musik konzentrieren und keine Urteile darüber abgeben. Leidvolle Erfahrungen bei den Uraufführungen etwa seines Zweiten Streichquartetts hatten den Komponisten dazu veranlasst."

Beim Beethovenfest in Bonn hat das WDR Sinfonieorchester unter Marek Janowskis Dirigat Hugues Dufourts "Ur-Geräusch (Rilke 1919)" uraufgeführt. Als Klangreise ins Innere von Tönen und Akkorden lässt sich Josef Oehrlein in der FAZ das Stück gefallen, aber mehr nicht: Die Komposition "beginnt mit schnarrenden, schabenden Schlagzeuggeräuschen, die an- und abschwellen und von jaulenden Streicherglissandi abgelöst werden. Über unheilvollem Gegrummel hört man so etwas wie wispernde, klagende menschliche Stimmen, gar Aufschreie, irgendwann scheint sich gar ein röhrender Löwe in die bizarre Klangwelt zu verirren." Hintergründe dazu bringt die Deutsche Welle. Im WDR-Konzertplayer kann man sich selbst ein Bild machen (ab Zählerstand Minute 16).



Weiteres: Andreas Hartmann stellt im Tagesspiegel das Duo Hatam & Hacklander vor, das Musik für Roboter schreibt. Auf ZeitOnline spricht Stefan Ruzas mit Yello, die morgen ihr neues Album (hier einige Hörproben) veröffentlichen und aus diesem Anlass erstmals ein Livekonzert geben werden. Christoph Wagner tut sich für die NZZ in der Klezmer-Szene um. Für die Spex plaudert Philipp Kressmann mit dem Komponisten Yann Tiersen.

Besprochen werden Bruce Springsteens Autobiografie (FR), Devendra Banharts "Ape in Pink Marble" (Pitchfork), ein Konzert von Nite Jewel (taz, Berliner Zeitung), der Kinodokumentarfilm "Raving Iran" (taz) und Dina Ugorskajas Aufnahme von Johann Sebastian Bachs "Wohltemperiertem Klavier" (SZ).
Archiv: Musik

Kunst


Peter Doigs "Echo Lake", 1998

Die Nächte werden länger und dunkler, für Jonathan Jones im Guardian ist das genau der richtige Zeitpunkt für die Ausstellung "Towards Night" in der Towner Art Gallery in Eastbourne: "Die Nacht und ihre Fremdheit sind die großen Gaben des Nordens an die europäische Kunst. Mediterrane Kunst ist sonnig, sie liebt das Licht. Von den klaren blauen Himmeln der italienischen Renaissancemalerei bis zu Cézannes Sonnenschein füllt schillerndes Tageslicht das mediterrane Auge. Es brauchte nordeuropäische Künstler, um die Wunder der Dunkelheit zu enthüllen."
Archiv: Kunst