Efeu - Die Kulturrundschau

Eine andere Tiefenstruktur

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14.12.2016. Einen Hauch transzendentaler Perfektion verspürt die NZZ in der großen Agnes-Martin-Schau im New Yorker Guggenheim. Die taz hört im Frankfurter Städel die Angstschreie der weißen Frau auf der Flucht. Die FAZ verfällt der Schönheit der litauischen Sopranistin Asmik Grigorian. Außerdem kommt Gareth Edwards neuer Star-Wars-Film "Rogue One" in die Kinos: Die Welt genießt ihn als schmutziges Kriegskino, die SZ verzieht das Gesicht angesichts der ausgequetschten Zitrone. Der Freitag besucht in Paris lieber die schönste Rumpelkammer der Filmgeschichte.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.12.2016 finden Sie hier

Kunst


Agnes Martin: Untitled, 1959.

Geradezu hypnotisiert kommt Andrea Köhler aus dem New Yorker Guggenheim, das Agnes Martin seine schönste Ausstellung seit Jahren widmete, wie Köhler in der NZZ schwärmt: "Was ist zu sehen? Zunächst einmal nichts als Weiß. 'The Islands I-XII' aus dem Jahr 1979 sind zwölf monochrome Gemälde, die auf den ersten Blick identisch sind. Doch ein jedes Bild erhält durch minimal abgetönte horizontale Farb-Streifen und gitterartig aufgetragene Bleistiftlinien eine andere Tiefenstruktur. Erst auf den zweiten, dritten und vierten Blick erkennt man die filigranen Muster, die auf der Fläche zu tanzen scheinen, als wehte ein leichter Wind durchs Bild. Je länger man schaut, desto intensiver beginnt die Optik zu flirren; zuletzt entsteht eine vibrierende, fast immaterielle Fläche aus Licht. Ja, so könnte er aussehen, der im Buddhismus beschworene Zustand der Erleuchtung, den Martin in ihrer Kunst anstrebt."

Furchtbar komisch und verstörend zugleich findet Katharina Cichosch in der taz die Ausstellung "Geschlechterkampf" im Städel Museum Frankfurt, die "von Franz Stuck bis Frida Kahlo" von Verwirrung, Verführung und Gewalt erzählt: "It's a Man's World! Aber die Frau, sie schlägt zurück: Manchmal gar, wie in der pubertär düsteren Grafik von Aubrey Beardsley, mit einem echten, Pardon, Riesenpimmel, der den Penisneid in männlicher Variante konterkariert. Während nebenan die weiße Frau Angstschreie auf der Flucht vor King Kong ausstößt, setzt sich der morbide Abstieg fort: So kann man der verstörenden Balz zweier prächtiger Vögel um eine nackte Frau zuschauen, changierend zwischen Sodomie und Symbolismus. Eine Mädchenlolita thront auf einem Berg aus toten Verführten, während im Netz der weiblichen Spinne schon die Gebeine ihrer Beute baumeln." (Bild: Jeanne Mammen, Frau am Kreuz, 1908-1914)

Besprochen werden außerdem die Ausstellung "Was übrig bleibt" des Berliner Fotografen Sascha Weidner im Fotografie Forum Frankfurt (FR), eine Olafur-Eliasson-Schau in der Berliner Galerie Neugeriemschneider (Berliner Zeitung), eine Ausstellung zu Frans Posts exotischen Landschaften im Amsterdamer Rijksmuseum (FAZ), eine Schau mit Werken Ker-Xavier Roussels im Kunstmuseum Winterthur (deren "dionysischen Wahnsinn" Maria Becker in der NZZ apart "arrangiert findet").
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Bühne


Asmik Grigorian in "Fedora". Foto: Oper Stockholm

In der FAZ besingt Eleonore Büning Christof Loys Inszenierung von Umberto Giordanos Verismo-Oper "Fedora" an der Oper Stockholm, wobei es ihr besonders die junge litauische und "wunderschöne" Sopranistin Asmik Grigorian in der Titelpartie angetan hat: "Grigorian ist auch vokal eine echte Schönheit. Glänzend, leidenschaftlich, höhensicher singt diese Fedora. Unerschütterlich wirkt sie in ihrer pausenlosen Bühnenpräsenz über neunzig Minuten, wie ein Fels in der Brandung, alles ist auf sie fokussiert. Und ist zugleich immerfort außer sich, wütend in ihren Fortissimo-Ausbrüchen, kämpferisch in ihren Mezzoforte-Klagen, ein Pianissimo wird ihr gar nicht erst abverlangt."

Im Tagesspiegel meldet Rüdiger Schaper, dass Chris Dercon wieder ein festes Ensemble an der Volksbühne aufbauen will: "Derzeit gibt es an der Volksbühne kein Ensemble mehr, nur noch einige sogenannte unkündbare Künstler, die sporadisch zum Einsatz kommen. Das soll sich ab der kommenden Saison offenbar ändern. Ein entscheidender Punkt: Dercon-Gegner argumentieren immer wieder damit, dass er das Ensembletheater abschaffen wolle."

Weitere Artikel: Zum fünfundzwanzigjährigen Bestehen würdigt Simone Kaempf in der taz die Berliner Theatergruppe Thikwa als Vorreiter des Inklusionstheaters.

Besprochen werden Mario Martones Inszenierung von Mascagnis "Cavalleria Rusticana" an der Pariser Opéra Bastille (die Manuel Brug in der Welt als großes Diven-Duell zwischen Elina Garanca und Anna Caterina Antonacci genoss), Simon Stones bereits viel gepriesene "Drei-Schweistern"-Inszenierung am Theater Basel (SZ) und Keith Warners "alte, aber frische" Don-Giovanni-Inszenierung am Theater an der Wien (Standard).
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Literatur

In der taz ärgert sich Brigitte Werneburg unter der hübschen Überschrift "Kein Schwanz ist abgelutschter" über Gerhard Falkner, der in seinem Roman "Apollokalypse" ihrer Meinung nach ein sehr misogynes Hühnchen mit der Berliner Künstlerin Betty Stürmer rupft. In der Trivialliteratur-Debatte, die gerade bei Tell geführt wird, nimmt Sieglinde Geisel gängige Irrtümer über Trivialliteratur auseinander. Die Berlin-Brandenburgische Akademie feiert den 70. Geburtstag des Goethe-Wörterbuchs, berichtet Stephan Speicher in der SZ.

Besprochen werden die Wiederveröffentlichung von Anne Garrétas "Sphinx" (Freitag), Jarett Kobeks "Ich hasse dieses Internet" (Freitag, NZZ), Denton Welchs "Die Freuden der Jugend" (NZZ), Annie Dillards "Pilger am Tinker Creek" (FR), Jamie Attenbergs "Saint Mazie" (online nachgereicht von der Zeit) und Harry Rowohlts Briefesammlung "Und tschüs" (FAZ).

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Stichwörter: Kobek, Jarett

Musik

Nach einem Konzert unter dem Titel "Händels Heldinnen" liegt NZZ-Kritiker Thomas Schacher der Mezzosopranistin Cecilia Bartoli zu Füßen: "Phänomenal sind ihre Koloraturen, ihr grosser Stimmumfang oder ihr Pianissimo in höchsten Lagen. Darüber hinaus elektrisiert sie das Publikum mit ihrer unvergleichlichen Identifikationsgabe und ihrer mimetischen Ausdrucksfülle. ... Den absoluten Höhepunkt bildet aber die Arie 'Oh, ecstasy of happiness'. Als von Jupiter verlassene Semele besinnt sich die Sängerin auf ihre eigene Schönheit und Unsterblichkeit."

Weiteres: Für den Standard spricht Daniel Ender mit dem Bassbariton Florian Boesch. In Berlin versucht das in den Nullern lange Zeit sehr angesagte, im Zuge der Finanzkrise 2008 jedoch untergegangene Label Tomlab wieder Fuß zu fassen, berichtet Andreas Hartmann in der taz. Die Zeit hat Stefan Hentz' Porträt des Jazzmusikers Daniel Erdmann online nachgereicht. Und ganz zentral: Die 50 Lieblingsalben des Jahres von The Wire.

Besprochen werden die große Box mit rarem Material aus den frühen Jahren von Pink Floyd (Pitchfork), ein Konzert von Marissa Nadler (taz) und ein Hans-Zender-Konzert des Ensemble Modern (FR).
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Film


Kein Kinderkram: In "Rogue One" wird aus dem Sternenkrieg waschechtes Kriegskino.

Mit Gareth Edwards "Rogue One" kommt diese Woche der erste "Star Wars"-Film außerhalb der klassischen Skywalker-Saga in die Kinos. Die Kritiker reagieren gemischt auf diesen düster gehaltenen Film, der davon handelt, wie die Rebellion gegen das Imperium in den Besitz der Todesstern-Pläne gekommen ist, die im allerersten Teil der Saga aus den 70ern eine wichtige Rolle spielen: Sehr sämig findet ihn etwa der rundum zufriedene Kritiker Holger Kreitling: "Ein superteures B-Picture", gibt es zu bestaunen, schreibt er in der Welt, "eine Genrevariation hin zum Kriegsfilm. Seine Welt ist schmutzig, gewalttätig, die Raumschiffe sind rostige Kästen, die Sturmtruppen tragen dreckverschmierte Rüstungen. ... Action is character. Der zynische Grundton wird mit aller Konsequenz durchgehalten, und die Lakonie des reinen Handelns erinnert erfreulich oft an 'Das Imperium schlägt zurück'." Susanne Ostwald gibt sich in der NZZ als bestens orientierter Fan zu erkennen und freut sich mit entsprechender Begeisterung über diese geglückte "Wiederbelebung eines Mythos". Aber auch eben nur solchen beinharten Fans kann FAZ-Rezensent Andreas Platthaus diesen Film auch wirklich reinen Gewissens empfehlen.

Die kritischen Stimmen: Michael Pekler vom Standard ist ziemlich entgeistert, wie der Film nach einem manierlichen Beginn "von einer Szene zur nächsten förmlich implodiert." Wenig angetan ist auch Christian Schlüter von der Berliner Zeitung, der es per se zwar sympathisch findet, dass Edwards' Film ohne übliche "Star Wars"-Schnörkel auskommt, doch der Regisseur habe "das Star-Wars-Universum entleert, ohne ihm etwas hinzuzufügen. Sein Film führt eine prekäre, da parasitäre Existenz." SZler Tobias Kniebe sieht mit diesem Film die "Star Wars"-Geschichte endgültig zur ausgequetschten Zitrone degradiert und sehnt sich darüber nach ein bisschen Frieden. "Allzu erdenschwer" findet auch Birgit Roschy von epdFilm diesen Weltallblockbuster, dem das Märchenhafte der bisherigen "Star Wars"-Filme gründlich ausgetrieben wurde.

Vom modernen Digital-Blockbuster zur analogen Handwerkskunst der Film-Frühgeschichte: In der Cinémathèque in Paris gibt es derzeit nämlich "die wertvollste und schönste Rumpelkammer der Filmgeschichte" zu bestaunen, wie ein begeisterter Hannes Brühwiler im Freitag berichtet: Apparate, Technik, Tüftler und Experimentierfreude wohin man blickt. Doch auch ins Grübeln gerät der Kritiker, wenn es am Ende der technikhistorischen Ausstellung um die Digitalisierung des Kinos geht: Hier werde "vor allem eines deutlich: International operierende Firmen haben die Namen der Ingenieure und Tüftler abgelöst. Wer sind eigentlich die Erfinder des digitalen Kinos?"

Weiteres: In epdFilm schreibt Andreas Busche über das Kino von Sergei Loznitsa, über dessen aktuellen (auf ZeitOnline besprochenen) Film "Austerlitz" Ekkehard Knörer und Bert Rebhandl kommenden Sonntag in Berlin diskutieren werden. Das berühmte, vom deutschen Filmemacher Marcus Vetter betriebene Cinema Jemin im Westjordanland wurde mangels Publikumszuspruch trotz Spenden und institutionellen Zuwendungen geschlossen und wird jetzt einem Einkaufszentrum weichen, berichtet Susanne Knaul in der taz. Barbara Wurm hat für den Freitag die Russische Filmwoche in Berlin besucht. Christian Schröder (Tagesspiegel), Andreas Kilb (FAZ) und Willi Winkler (SZ) gratulieren Jane Birkin zum 70. Geburtstag.
Archiv: Film