Efeu - Die Kulturrundschau

Der illusionslose Blick des Expressionisten

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.02.2017. Die FAZ fragt, ob eigentlich auch Frauenbünde im Opernbetrieb funktionieren würden. Die SZ zeichnet den Architekten, der auf sein Recht besteht, als tragischen Helden. Der Standard erschauert vor der entblößten Wahrheit in den Zeichnungen Egon Schieles. Der Tagesspiegel sinniert nach Peter Bergs Dokudrama-Thriller "Boston" über die innere Leere nach einem Terroranschlag. Die taz fragt, ob das deutsche Kino jemals einen Film mit dem Titel "Breitscheidplatz" zuwege brächte.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.02.2017 finden Sie hier

Kunst


Egon Schiele: Auf dem Bauch liegender weiblicher Akt, 1917. Albertina, Wien.

Die Wiener Albertina zeigt in einer großen Ausstellung die Zeichnungen Egon Schieles. Im Standard ist Roman Gerold zutiefst berührt von der existenziellen Nacktheit in diesem Werk: "Was der illusionslose Blick des Expressionisten auftat, jene deformierten, buchstäblich von innerer Zerrissenheit gezeichneten Körper, kann Betrachter bis heute nicht unberührt lassen... Ängstliche, verlorene Blicke erreichen einen da aus den Bilderrahmen, in denen ausgezehrte, makelvolle Figuren ausgesetzt wirken. Die knochigen Gliedmaßen sind oft in die Länge gezogen, die Haut stellenweise aschfahl. In intensiven Porträts und Akten umreißt Schieles meisterhafte, unzweideutige Linie Ungeheures, die entblößte Wahrheit."

Weiteres: Jürg Zbinden porträtiert in der NZZ den Künstler und virtuellen Raumfahrer Max Grüter vor, der lange Zeit die Titelblätter des NZZ-Folio gestaltete. In der FAZ stellt Georg Imdahl noch einmal den Verein "Neue Auftraggeber" vor.

Besprochen werden Robert-Rauschenberg-Schau in der Tate Modern in London (NZZ), die Schau "Bildschön. Ansichten des 19. Jahrhunderts" im Lenbachhaus in München (SZ) und die Ausstellung "Postwar" im Münchner Haus der Kunst (Presse).
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Bühne

Andrea Lorenzo Scartazzinis "Edward II" wirft bei der deutlich verärgerten FAZ-Kritikerin Christiane Tewinkel die Frage nach Männerbünden im Operngeschäft auf: "Warum ist das von Belang? Weil wir seit langem darauf warten, dass eine mit einer Regisseurin befreundete oder verheiratete Librettistin im Dreier-Team mit einer Komponistin an einem großen Haus eine Oper realisieren kann, in der es um eisenharte Stereotype gegen Frauen geht. Wahrscheinlich werden wir noch lange weiter warten müssen. Denn es ist in der Oper nicht viel anders als früher im Sportunterricht: Zuerst kommen die heterosexuellen Männer, dann die homosexuellen und am Ende die Frauen."

In Wien ist die Oper zum Museum geworden, stellt Daniel Ender in der NZZ nach den jüngsten Premieren fest, besonders affirmativ werde das Repertoire in der Staatsoper gepflegt: "Gegenwärtiges kommt hier allenfalls punktuell vor, und dass Direktor Dominique Meyer erst die letzten Jahre seiner Amtszeit mit drei Uraufführungen im großen Haus würzen wird, bestätigt dieses Bild bloß noch." In der Welt bespricht auch Manuel Brug Werner Egks anrüchige Oper "Peer Gynt", die schon der Führer sehr liebte und die jetzt Peter Konwitschny im Theater an der Wien zur Aufführung brachte.
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Architektur


Die Markthalle von Gent von Robbrecht en Daem Architecten und Marie-José van Hee Architecten.

Die Moderne hat das Holz verachtet, aber jetzt, im Zeitalter der Nachhaltigkeit, schwören Architekten wieder darauf, weiß Robert Kaltenbrunner in der FAZ, und zwar nicht nur im Vorarlberg: "Darüber hinaus knüpft der urbane Holzbau an etwas an, das man das Denkmodell des Fachwerks nennen könnte: Nämlich ein zeittypisches, allgemeinverständliches und akzeptiertes Ordnungsprinzip darzustellen, welches den Rahmen und Maßstab individueller Selbstverwirklichung bildet." besonders gelungen findet Kaltenbrunner die neue Markthalle von Gent: "Die Moderne nimmt, zum ersten Mal vielleicht, die Vergangenheit mit in die Zukunft."

In der SZ porträtiert Gerhard Matzig den Architekten Stephan Braunfels, der nicht erst in München gegen seinen Ausschluss aus einem öffentlichen Wettbewerb klagte, als tragischen Helden: "Öffentliche Bauherren meiden ihn nun. Zu Wettbewerben wird er nicht eingeladen, sondern muss sich einklagen. Es ist tatsächlich eine Tragödie. Denn Braunfels ist ein guter Architekt, dessen Kritik an den Verfahren berechtigt ist. Seine meist stadträumlich klug begründete Kritik an den Hervorbringungen der Kollegen ist ebenfalls oft berechtigt. Recht zu haben, ist aber das eine. Es zu bekommen das andere. Manchmal macht beides einsam." Santiago Calatrava dagegen habe nicht einmal geklagt, als Norman Forster seine Kuppelidee für den Reichstag bauen durfte. "Sagen wir so: Calatrava ist immer noch im Geschäft."
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Musik

Für den Standard spricht Ljubisa Tosic mit dem Keyboarder Philipp Nykrin. Christian Schröder schreibt im Tagesspiegel zum Tod des Gitarristen Larry Coryell.

Besprochen werden ein Zemlinsky-Konzert der Philharmonia Züric mit Arabelle Steinbacher (NZZ), das Austro-Pop Album "Magic Life" von Bilderbuch ("Freigeistmusik, die ob ihrer Individualität durchaus magisch ist", begeistert sich Johann Voigt in der taz) und ein russischer Abend des Bayerischen Staatsorchesters unter Kirill Petrenko mit dem Pianisten Marc-André Hamelin ("eine vielfältige, aufregende Expedition in letztlich ungewohnte Klangwelten", schwärmt Harald Eggebrecht in der SZ).
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Literatur

Roman Bucheli macht in der NZZ Vorschläge, wie die Schweiz das viele Geld sinnvoll ausgeben kann, das ihr zur Literaturförderung zur Verfügung steht. Die SZ dokumentiert Eva Menasses Laudatio auf Katja Lange-Müller, die mit dem Günter-Grass-Preis ausgezeichnet wurde.

Besprochen werden Jochen Schmidts "Zuckersand" (Welt), eine Neuübersetzung von William Goldings "Herr der Fliegen" (Tagesspiegel), James Salters Erzählungsband "Charisma" (Tagesspiegel), Adolf Muschgs "Der weisse Freitag" (SZ)
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Film


Mark Wahlberg in "Boston"

Peter Bergs
Dokudrama-Thriller "Boston" arbeitet die Ereignisse rund um den Anschlag auf den Bostoner Marathon im Jahr 2013 filmisch auf. Der Zufall wollte es, dass die Berliner Pressevorführung genau einen Tag nach dem Anschlag auf der Berliner Breitscheidplatz stattfand und überdies in direkter Nachbarschaft dazu. "Sich unter diesen realen Eindrücken einen Actionfilm anzusehen, der als Traumatherapie gedacht war, mutete surreal an", berichtet dazu Andreas Busche im Tagesspiegel. "Das agitatorische Pathos von 'Boston' erzeugte dann auch den gegenteiligen Effekt, das frivole Gefühl von Abstumpfung. Vielleicht war es auch nur ein Abwehrreflex, als noch nicht abzusehen war, mit welcher Besonnenheit die Berliner auf den Anschlag reagieren würden. Dem Impuls zu widerstehen, das eigene Gefühl der Leere, die Suche nach Antworten, mit konfektionierten Durchhalteparolen zu füllen, fiel nicht schwer."

taz-Kritiker Michael Meyns staunt unterdessen angesichts der Wucht, die der Film entfaltet, darüber, mit welcher Selbstverständlichkeit die amerikanische Unterhaltungsindustrie akute gesellschaftliche Traumata aufgreift. Darin zeigt sich ihm ein entscheidender Unterschied zum deutschen Kino: "Warum überlässt der deutsche Film brennende zeitgenössische Themen dem Fernsehen, statt selber Politdramen zu drehen, die es wagen, den Finger in Wunden zu legen? Ob in vier, fünf Jahren ein Film namens 'Breitscheidplatz' in die deutschen Kinos kommt, darf man bezweifeln."

Beim Filmdienst eröffnet Patrick Holzapfel sein Blog, das er im Rahmen des Siegfried-Kracauer-Preises dort führen wird: Er verspricht in einer Reihe von Essays über das Kino "als unbequemer, unebener, komplexer Körper" nachzudenken, "der in steilen Kurven verläuft, gefährlich und undurchdringbar wie die Natur. Es muss ein Kino geben, das nicht jenen Wegen folgt, die der französische Filmkritiker Serge Daney einmal die 'Straße der Desillusionierung' nannte, sondern ein Kino, das in die Illusion zurückführt."

Weiteres: In der SZ plädiert John Irving für politische Oscardankensreden (hier das ursprünglich im Hollywood Reporter veröffentlichte Original). 2017 könnte das Wendejahr in Sachen deutscher Qualitätsserie werden, prognostiziert Carolin Ströbele auf ZeitOnline.

Beprochen werden Denzel Washingtons Rassismusdrama "Fences" (Standard), Garth Davis' "Lion" (Welt) und Gore Verbinskis "A Cure for Wellness" (FAZ).
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