Efeu - Die Kulturrundschau

Ein jeder seine Haue

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12.04.2017. Der Tagesspiegel meint: Die Prügel, die Klaus Wowereit jetzt verteilt, hat er selbst verdient. Der Standard huldigt im Wiener Museumsquartier dem politischen Shootingstar Norbert Nadler. Die FAZ lauscht Charlotte Moormans Friedenssonate auf dem Rücken von Nam June Park. Die Welt tanzt an der Schaubühne mit einer Handvoll Nonnen eine satanische Nummernrevue.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.04.2017 finden Sie hier

Kunst


Charlotte Moorman mit TV Glasses von Nam June Paik führt sein TV Cello auf, New York, 1971, Foto: Takahiko iimura

In der FAZ feiert Brita Sachs die hinreißende Ausstellung "Ein Fest des Staunens" (mehr hier), die das Museum der Moderne in Salzburg der Ausnahmekünstlerin Charlotte Moorman widmet: "Insbesondere mit Nam June Paik bestreitet die risikobereite Pionierin diverse Happenings und Fluxus-Aktionen. Sie musiziert, auf dem Rücken liegend, robbt in Soldatenuniform, das Instrument wie eine Waffe umgeschnallt, über die Bühnen, bedeckt mit Paiks 'TVBra' ihre Brüste und spielt die 'Peace Sonate' auf dessen nacktem Rücken."

Schön aktuell, allerdings auch ziemlich unheimlich ist Standard-Kritikerin Eva Walisch die Ausstellung "Mood Swings" im Wiener Museumsquartier, die der Verbindung von Politik und Emotion nachgeht: "An einem Rednerpult kann man per Knopfdruck politische Reden voller leerer Phrasen abspielen, in denen ein Politiker namens Norbert Nadler zum Beispiel fragt: 'What makes a man a man?' Das Künstlerduo Harteg Nadler startete eine fiktive Wahlkampagne, mit einem der Künstler als Politiker Norbert Nadler. Nadler besuchte ein Schützenfest, eröffnete die Fußballsaison und schüttelte bei Wahlveranstaltungen Hände. Sein Slogan lautet schlicht und einfach 'Stimmt', er ist ein ideologieloser Politiker, der sich den gefragten Ideologien und Stimmungen anpasst."

Weiteres: Echte Hightlights konnte Roman Gerold trotz ausfransender Fülle auf der Documenta in Athen nicht entdecken, freut sich im Standard aber immerhin über ein paar menschliche Begegnungen. Als einzigartige Skulptur feiert NZZ-Kritikerin Caroline Kesser den 46 Meter hohen Stornstein, den die Architekten Aeschlimann Hasler Partner auf das Areal des Zürcher Triemlispitals geschmuggelt haben. Die Kritikerin erinnert er "je nach Blickwinkel an eine Schlange, ein Gefäss oder ein Bein mit Netzstrumpf".

Besprochen werden eine Schau im Louvre zum Caravaggio-Jünger Valentin de Boulogne (FAZ).
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Literatur

Mit Skepsis reagiert Gerrit Bartels im Tagesspiegel auf die Versuche des SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz, sich als literaturaffin in Szene zu setzen: "Diese Buchauswahl sieht nach gewissenhafter intellektueller Auseinandersetzung aus. Allerdings erscheint sie eine Idee zu gewissenhaft, zu zielgerichtet, wirkt sie irgendwie demonstrativ ... Es fehlt der Beweis, dass Schulz, wie er es dem Spiegel so hübsch gesagt hat, 'als Paddelbootfahrer im Meer der Bücher und der Literatur unterwegs' sei."

Weiteres: Im Logbuch Suhrkamp erinnert sich Jan Hoffmann mit kaugummiverklebter Hose an einen in Leipzig gehaltenen Vortrag von Karl Heinz Bohrer: "Er war immer noch Punk. Bohrer, der sich für das Plötzliche in der Literatur einsetzte." Die Zeit hat Susanne Mayers hymnisch-umfangreiche Besprechung von Hisham Matars "Die Rückkehr" online nachgereicht.

Beprochen werden Asli Erdogans Essaysammlung "Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch" (NZZ), Robert Deutschs Comic über Computerpionier Alan Turing (Tagesspiegel), Rivka Galchens "Amerikanische Erfindungen" (NZZ), Eduardo Halfons "Signor Hoffmann" (NZZ), Michela Murgias "Chirú" (Freitag) und neue Berlin-Bücher (FR).
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Bühne


Democracy in America. Bild: Gianmarco Bresadola

Bei Romeo Castelluccis an Tocqueville angelehntes Stück "Democracy in America" an der Berliner Schaubühne ist alles auf dem postkolonialen Debattenstand von 2017, versichert Felix Stephan in der Welt, aber es gibt tolle Bilder: "Im zweiten Teil, der ganz ohne Text auskommt, hält eine nackte Schauspielerin eine Fackel in die Höhe, während eine Handvoll Nonnen im Kreis um sie herumtanzt, was aussieht wie eine Art satanische Nummernrevue. Und im dritten Teil schließlich beraten zwei amerikanische Ureinwohner darüber, ob sie die Sprache der Weißen lernen sollten, obwohl sich die Weißen für ihre Sprache doch auch nicht interessieren und Wörter überhaupt nur dann lernen, wenn sie etwas bezeichnen, das man sich nehmen kann."

"Warum bekommt Chris Dercon keine faire Chance" fragt Rüdiger Schaper im Tagesspiegel, nachdem gestern selbst Klaus Wowereit im FAZ-Interview (unser Resümee) gegen den neuen Volksbühnen-Intendanten geschossen hat: "Wowereit sagt staatsmännisch, die Verantwortung für die Dercon-Entscheidung 'muss jetzt ja auch der amtierende Senator übernehmen'. Da wird sich Klaus Lederer freuen. So bekommt ein jeder seine Haue, die Wowereit selbst gebührt. Schließlich hat der sonst so erfolgreiche Kulturpolitiker erheblich mit dazu beigetragen, dass eine Situation entstand, in der man sich an der Volksbühne nur noch die Finger verbrennen konnte."

Im FR-Interview mit Ulrich Seidler empört sich der frühere Theatermanager Ludwig von Otting über die miserable Bezahlung von Schauspielern an deutschen Bühnen: "Es gibt einfach diese skandalösen Fälle: Leute, die über vierzig sind, Kinder haben, in einem deutschen Theater arbeiten und 1850 Euro Gage bekommen. Brutto. Das regt mich auf."

Besprochen werden Jette Streckels Bühnenversion von Nino Haratischwilis georgischer Familiensaga "Das achte Leben" Hamburger Thalia Theater (nachtkritik, SZ), Nikolaus Habjans Inszenierung von Lessings "Nathan der Weise" am Wiener Volkstheater (Standard, FAZ) und Giorgio Battistellis Bibel-Oper "Lot" in Hannover (FAZ, SZ).
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Design

Samt, Art Déco, Ornamentik und sogar Gold als (fein dosiertes) Prunk-Kolorit sind wieder da, berichtet Andrea Eschbach in der NZZ nach dem Besuch diverser Möbelmessen: "Ohne Zweifel: Der Minimalismus und der skandinavische Stil haben glamouröse Konkurrenz bekommen."
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Musik

Bei den Osterfestspielen in Baden-Baden bot sich die Gelegenheit, den noch amtierenden Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker Sir Simon Rattle und dessen Nachfolger Kirill Petrenko zeitlich nahe beieinander zu erleben, berichtet Thomas Schacher in der NZZ. Sein Fazit? Beide Dirgenten bieten Musikgenuss auf höchstem Niveau. "Was für ein sensationeller Klangkörper", jubelt er bei Tschaikowskys von Petrenko dirigierter "Pathétique": "Wie elegant, ja tänzerisch erklingt da der zweite Satz im 5/4-Takt, was für eine rhythmische Ekstase erzeugt Petrenko im Marsch-Scherzo und wie raffiniert wird die bodenlose Depression am Schluss der Sinfonie umgesetzt." Auch Rattles Dirigat von Mahlers Sechster überzeugt vollauf: "Nach dem stampfend musizierten ersten Satz, der die Unerbittlichkeit des Schicksals vergegenwärtigt, führt Rattle im Andante (hier an zweiter Stelle) in eine zerbrechliche Welt der Zärtlichkeit."

Am neuen Album "Raus" von Die Regierung hat Marc Peschke vom Freitag seine helle Freude: "Schnoddrig, leichtfüßig, rumpelig, sperrig, schwer, leicht, traurig, lustig. Alles zusammen. Da gibt es ein paar alte Synthesizer. Da gibt es Rückblicke, Einsichten, Nachdenken, auch über verpasste Möglichkeiten." Eine Hörprobe:



Weiteres: Für die FAZ spricht Jan Brachmann mit Heike Hoffmann, der neuen Leiterin der Schwetzinger SWR Festspiele, die das Festival mit neuen Präsentationsformen wie Installationen und Gartenkonzerten dem Publikum öffnen will. Martin Scholz plaudert in der Welt mit Jim Kerr über 40 Jahre Simple Minds. Zum Bedauern von NZZ-Autor Ueli Bernays schließt das Musikaliengechäft Jecklin in Zürich. Steffen Greiner stellt in der taz das aus dem Geist des Krautrocks hervorgegange Bläserkollektiv Express Brass Band vor, deren "anarchischer Sound" dennoch "melodisch satt und freundlich offen ist." Ein aktuelles Video:



Besprochen werden "Pure Comedy" von Father John Misty (Berliner Zeitung, mehr dazu hier und hier), neue Veröffentlichungen des Splitter Orchesters ("Neue Musik, verkauzte Elektronik, Pink Floyd, Späßchen, es kommt so einiges zusammen", verspricht Andreas Hartmann in der taz) und das neue Album von The Necks (Standard).
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Film


Szene aus "The Birth of a Nation" von und mit Nate Parker (Bild: Fox Searchlight)

Der Film "The Birth of a Nation" über den von Nat Turner angeführten Sklavenaufstand galt im vergangenen Jahr nach einer gefeierten Sundance-Premiere als aussichtsreicher Oscarkandidat. Als durchsickerte, dass Regisseur und Hauptdarsteller Nate Parker vor vielen Jahren wegen einer Vergewaltigung angeklagt (aber freigesprochen) wurde, fiel der Film jedoch aus der Gunst der Branche. Wie nun damit umgehen?, fragt sich Susan Vahabzadeh in der SZ zum deutschen Kinostart. Wie sie erklärt, "steht im Zentrum eine Vergewaltigung, die zu den Dingen gehört, die Parker und Celestin zu Nat Turners wahrer Geschichte dazuerfunden haben. Es zeugt schon von einem unverwüstlichen Gemüt, sich ausgerechnet eine solche Szene auszudenken, zu inszenieren, zu spielen, in der Turner die Revolution anzettelt, weil seiner Frau Gewalt angetan wurde. Die eigentliche Rebellion ist brutal, so wie es die Sklavenhaltung war, von den Vergewaltigungen sieht man im Film wenig."

Verena Lueken von der FAZ hält insgesamt nicht viel von dem Film: An die Geschichte der Sklaverei und des Rassismus zu erinnern, sei zwar eine gute Sache, doch dies sei schlicht "kein guter Film. ... Er macht aus einer grausamen Geschichte ein fragwürdiges Agitprop-Heldenepos."


Reichen als Kritik nicht aus: Glatze und Plautze (Matthew McConaughey) in "Gold" (Bild: Studio Canal)

Stephen Gaghans
Biopic "Gold" mit Matthew McConaughey reiht sich ein in die Abfolge kapitalismusskeptischer Hollywoodfilme der letzten Jahre, berichtet Ekkehard Körer im Tagesspiegel. Überzeugt ist er allerdings nicht: Der von McConaughey mit Glatze und Plautze verkörperte Schatzsucher Kenny Wells ist keine "wirklich überzeugende Figur. ... 'Gold' bleibt durchweg seinem profanen Realismus und dem Glauben an seinen Protagonisten verhaftet. Matthew McConaugheys Method Acting, die totale Immersion in die Rolle, ist sein einziger Spezialeffekt. Als Kritik reicht das nicht."

Unter dem Begriff "Vorbehaltsfilme" werden die problematischsten Filme aus der Nazizeit geführt. An diese geknüpft sind eine besondere Aufführ- und Distributionspraxis, die ein Rankommen - und damit eine Auseinandersetzung - mit den Filmen erschwert. Es sei denn, man befindet sich in den USA, wo die Filme rechtefrei sind und auf DVDs kursieren, die schließlich auch - unkommentiert - auf Youtube landen. Die Vorbehaltspraxis sei angesichts der heutigen Medienrealität "nicht nur weltfremd, sondern scheinheilig", behauptet der Filmhistoriker Dirk Alt im Freitag. Er plädiert daher für eine Freigabe in jenen Fällen, in denen die Propaganda "durchschaubar" sei, und für "historisch-kritische Editionen" bei schwierigeren Fällen: "Warum sollte unmöglich sein, was in einem vergleichbaren Fall geschehen ist: die Herausgabe einer solchen Edition von 'Mein Kampf' im Auftrag des Freistaates Bayern?"

Weiteres: Für die taz resümiert Carolin Weidner das Frauenfilmfestival in Dortmund. Besprochen werden die dritte Staffel des "Breaking Bad"-Ablegers "Better Call Saul" (Welt) und der achte Teil der Autoverfolgungsjagden-Blockbusterreihe "Fast & Furious", die nach Ansicht von Welt-Kritiker Hanns-Georg Rodek allerdings langsam gut beraten wäre, "sich auf ihre anarchischen Ursprünge zu besinnen, statt Weltzerstörungsschurken zu jagen."
Archiv: Film