Efeu - Die Kulturrundschau

Wumm, die Luft ist weg

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09.08.2017. Im taz-Interview verzweifelt der georgische Schriftsteller Zaza Burchuladze an der Dummheit der Orthodoxie. Außerdem bewundert die taz Roberto Burle Marx' Gärten der tropischen Moderne. Die FAZ bewundert den Individualismus in der iranischen Literatenszene. Im NYRB Daily lernt von Barrie Kosky, dass auch die Schönheit nicht über der Gerechtigkeit steht. Und der Tagesspiegel übt mit dem chinesischen Sheng-Musiker Wu Wei die Flatterzunge.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.08.2017 finden Sie hier

Kunst

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Roberto Burle Marx, Garten der früheren Francisco Pignatari Residenz, jetzt Parque Burle Marx, São Paulo, 1956, Foto © Cesar Barreto

Als Ikone der tropischen Moderne feiert Donna Schons in der taz den brasilianischen Landschaftsarchitekten Roberto Burle Marx, dem die KunstHalle der Deutschen Bank in Berlin eine - viel zu kleine - Ausstellung widmet. Die Arbeiten von Burle Marx strotzen vor Begeisterung für Botanik: "Sie ähneln auf den ersten Blick eher modernistischen Gemälden als stadtarchitektonischen Skizzen. Blumenbeete werden zu geschlängelten Klecksen, helle und dunkle Grasgewächse bilden Schachbrettmuster und sternförmig angeordnete Linien stehen für Palmen. Später übertrug Burle Marx seine kubistische Formsprache auf seine Malerei und Schmuckentwürfe, gestaltete farbenfrohe Synagogenfenster, entwarf Kostüme und Bühnenbilder."

In der NZZ macht uns Gabriele Detterer mit der "Spaziergangswissenschaft" des Schweizer Soziologen Lucius Burckhardt vertraut: "Zeitlebens beschäftigte ihn die Frage, 'wie sich Sehen neu erlernen lässt', und er verstand es, mit kreativen Freistil-Methoden unsere Sinne für das ganzheitliche Begreifen der Umwelt, von Stadt und Landschaft, zu sensibilisieren. 'Man sieht, was man sehen lernte', meinte Burckhardt."

Weiteres: Richtig toll findet Hans Jessen das virtuelle Museum der 1000 Orte, das all die Kunstwerke versammeln will, die seit 1950 als Kunst-am-Bau an öffentlichen Gebäuden entstanden sind. Besprochen wird Schau mit Zeichnungen von Raffael im Ashmolean Museum in Oxford (FAZ).
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Literatur

Kein gutes Haar lässt der mittlerweile in Berlin lebende, georgische Schriftsteller Zaza Burchuladze im taz-Interview an seinen Heimatland. An seiner erfrischenden Autoritätsskepsis und Unangepasstheit dürfte sich der hiesige Betrieb durchaus ein Beispiel nehmen: An der Orthodoxen Kirche in Georgien störe ihn etwa vor allem "die Dummheit. 85 Prozent der Kirchgänger in Georgien sind gehirngewaschen, die sind wie Zombies. Der Patriarch der orthodoxen Kirche in Georgien ist viel mächtiger als die ganze Regierung zusammen. Und die Menschen glauben ihm alles. Er hat zum Beispiel einmal gesagt, georgische Frauen sollen nur für ihre Männer leben. Dass sie die Füße ihrer Männer waschen sollen. Das ist völlig normal, dass er so etwas sagt.." Auf seine Glatze hat sich Burchuladze im übrigen zwei Punkte tätowieren lassen: "Das ist wie eine Steckdose. Aber jetzt habe ich noch eine bessere Version. Ich sage, dass ich einmal so hoch gesprungen bin, dass ich Gottes Eier berührt habe."

Jan Röhnert staunt in der FAZ darüber, was die junge Kunst- und Literatenszene in Teheran alles an Neuem hervorbringt: "Es speist sich aus den seltsamsten, kaum in Einklang zu bringenden Quellen und ist in seinen originellsten Hervorbringungen vor allem die Leistung Einzelner, die keiner Gruppe zuzuordnen sind, obgleich sie intensive freundschaftliche Bande untereinander pflegen. Individuelle Lebenspraxis wird in Kunst und Schreiben überführt; gleichzeitig schafft sich das Private seine eigene Öffentlichkeit." Ein Beispiel unter vielen: "Die Verse der 1976 geborenen Sara Mohammadi Ardehali haben einen neuen sachlichen Ton in die Lyrik gebracht, der vom Publikum begeistert aufgenommen wurde."

Weiteres: In der SZ-Reihe über Transiträume und Haltestellen schreibt der polnische Autor Matthias Nawrat über eine Reise mit dem Mountainbike. Der Tagesspiegel bringt einen Ausschnitt aus Otto Julius Bierbaums Anfang des 20. Jahrhunderts veröffentlichtes Buch "Eine empfindsame Reise im Automobil".

Besprochen werden Arundhati Roys "Das Ministerium des äußersten Glücks" (FR), Zoe Becks "Die Lieferantin" (online nachgereicht von der FAS), Bodo Kirchhoffs "Betreff: Einladung zu einer Kreuzfahrt" (Zeit), J.M. Coetzees "Ein Haus in Spanien" (Tagesspiegel), Dave Eggers' "Bis an die Grenze" (NZZ), Alice Socals Comic "Cry Me A River" (Tagesspiegel), ein Band mit Radioarbeiten von Walter Benjamin (Tagesspiegel), Maxi Obexers "Europas längster Sommer" (FAZ) und neue Veröffentlichungen aus dem Bereich Nature Writing, darunter Edward Abbeys "Die Einsamkeit der Wüste" (NZZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Musik

Für den Tagesspiegel porträtiert Gregor Dotzauer den in Berlin lebenden, aus China stammenden Musiker Wu Wei, der die traditionelle Mundorgel Sheng mit einigem Aufwand meistert. Wer das chinesische Musikinstrument nicht nur beherrschen, sondern damit im Klangkörper eines Orchesters zum Publikum durchdringen will, muss ein Athlet sein: "Ich muss manchmal gegen 80 Orchestermusiker ankommen. Ob du laut oder leise spielst, wumm, die Luft ist weg. Du bist ein halber Sportler, also musst du täglich trainieren. Flatterzunge, Zirkularatmung, alles gegen die Natur! Du musst deine Energie über das Publikum werfen, über den ganzen Saal hinweg bis in die letzte Reihe und noch hundert Meter weiter. Sonst bist du von der ersten Sekunde an verloren." In diesem, leider nicht einbindbaren Video stellt Wu Wei das Instrument und die dafür benötigte Spieltechnik vor.

Weiteres: Für die Spex unterhält sich Luise Wolf mit Laurens von Oswald, dem Leiter des Festivals Berlin Atonal, über die akustischen Bedingungen in der Spielstätte des Festivals, dem Kraftwerk Berlin. Christine Käppeler schreibt im Freitag über die Familie als Geschäftsmodell im Popbusiness.

Besprochen werden das Comeback von Randy Newman (Tagesanzeiger), das neue Album der Shitlers (Freitag) und Mirko Bonnés "Lichter als der Tag" (SZ).
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Film


Richtig verrückt: Jacques Tourneurs Kriegsfilm "Days of Glory" mit Gregory Peck.

Beim Filmfestival in Locarno ist Lukas Foerster auch weiterhin am ehesten in der Jacques-Tourneur-Retrospektive anzutreffen. Im Cargo-Blog berichtet er von seinen neuesten Wiederentdeckungen: Tourneurs Kriegsfilm "Days of Glory" etwa hat ihn "verzückt wie lange nichts mehr im Kino". Die minimalistisch-künstlichen Sets skizzieren "eine klaustrophobische Welt, aber auf eine wattierte Art. Terror ruft sie nicht deshalb hervor, weil sie zu eng ist, weil man beim Versuch, sie zu beherrschen, auf materielle, unüberwindbare Grenzen stößt; eher hat die gesamte Welt etwas von einem Provisorium, von einer Skizze, die nur vorübergehend begehbar ist. Weil man nie genau sagen kann, wie weit man seinen Schritten trauen darf, wählt man automatisch einen bedachten, leicht sedierten Bewegungsmodus. Die gesamte erste Stunde besteht aus Stillstellungen, Verzögerungen und poetischen Abschweifungen (die sowjetischen Streitkräfte scheinen mindestens zur Hälfte aus verkannten Dichtern zu bestehen), und wenn am Ende der Krieg doch noch selbst ins Bild tritt, dann wird der Film erst richtig verrückt."

In seinen Kurzkritiken auf critic.de lobt Frédéric Jaeger das Festival für seinen Mut zum Experimentellen. Susanne Ostwald von der NZZ hat unterdessen bislang "viel gutes Erzählkino" gesehen. Patrick Holzapfel von kino-zeit.de lauscht den Vögeln am Morgen und begibt sich dann zu Milo Raus "Kongo-Tribunal", über den er hier Näheres schreibt: "Das Kino wird hier als Gerechtigkeitsmaschine verstanden." Urs Bühler wirft für die NZZ einen Blick auf die Modernisierungsstrategien des Festivals, das nicht nur seine Spielstätten saniert hat, sondern auch vermehrt Werbeprospekte auf Social Media verteilt.

Weiteres: Für die Berliner Zeitung spricht Dieter Osswald mit der Filmemacherin Ceyda Torun über ihren (auf ZeitOnline besprochenen) Dokumentarfilm "Kedi", der den Katzen von Istanbul gewidmet ist. Barbara Schweizerhof kann sich an "Game of Thrones" kaum sattsehen, wie sie im Freitag berichtet. Hanns-Georg Rodek schreibt in der Welt zum Tod des langjährigen Godzilla-Darstellers Haruo Nakajima.

Besprochen werden eine Ausstellung über Tanz und Film im Filmmuseum Potsdam (SZ) und die Stephen-King-Verfilmung "The Dark Tower" von Nikolaj Arcel (FAZ).
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Architektur

Besprochen werden die Ausstellung "Together!" über die neue Architektur der Gemeinschaft im Vitra Design Museum in Weil am Rhein (Tagesspiegel) und Natascha Meusers Band "Architektur im Zoo" (Welt).
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Bühne


Michael Volle als Hans Sachs in Barrie Koskys "Meistersingern". Foto: Bayreuther Festspiele.

Jetzt ist Barrie Koskys Bayreuther "Meistersinger"-Inszenierung auch der New York Review of Books einen Text wert. Larry Wolff sieht von Kosky viele Fragen aufgeworfen, aber nicht unbedingt beantwortet. "Am bewegendsten war jedoch am Ende des dritten Aktes das exquisite "Morgentraum"-Quintett, bei dem die fünf Hauptpersonen in dem ansonsten leeren Nürnberger Gerichtssaal mit versunkener Innerlichkeit und sublimer Harmonie von dem Traum singen, den sie gerade erst zu begreifen beginnen. Das Gerichtssetting erinnert uns daran, dass sich auch die Schönheit rechtfertigen muss, wenn die Träume künstlerischen Schaffens mit den Albträumen der Geschichte verstricken."

Weiteres: Im Standard-Interview mit Margarete Affenzeller spricht die griechische Filmregisseurin Athina Rachel Tsangari über Frank Wedekinds "Lulu", mit der sie bei den Salzburger Festspielen ihr Theaterdebüt geben wird: "Es ist wirklich das Schwierigste, was ich bisher gemacht habe." Irgendwie kleinkariert findet Helmut Ploebst im Standard die Papstsatire "Pontifex" des Grazer Duos Marta Navaridas und Alex Deutinger beim Wiener Festival Impulstanz.
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