Efeu - Die Kulturrundschau

Wie Picasso, allerdings zu Fuß

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30.07.2018. Triumph! SZ, NZZ und Tagesspiegel sind überwältigt von der litauischen Sopranistin Asmik Grigorians, die in Salzburg eine unbedingt und grausam liebende Salome gab. In der SZ erzählt Wim Wenders von seinen Skurpeln, für seinen Film "Grenzenlos" die Steinigung einer Frau in Szene zu setzen. Die FAZ erinnert daran, dass der in einem russischen Lager einsitzende ukrainische Regisseur Oleg Senzow vor 78 Tagen seinen Hungerstreik begann. Die NYRB feiert Brancusis atemberaubend schöne Abstraktionen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.07.2018 finden Sie hier

Bühne

Asmik Grigorian als Salome mit dem Kopf des Joachanaan. © Ruth Walz / Salzburger Festspiele

Absolut überwältigt kommt Reinhard Brembeck aus Romeo Castelluccis "Salome"-Inszenierung bei den Salzburger Festspielen, bei der er den Triumph der litauischen Sopranistin Asmik Grigorian erlebte, deren Erscheinung er nur mit dem Auftritt von Anna Netrebko vor sechzehn Jahren vergleichbar findet: "Alle sind davon gebannt, niemand im Raum kann sich der Wucht dieser Analyse und Enthüllung entziehen, die mit dem heiligen Ernst des Rituals das Geheimnis der Liebe enthüllt, das laut Wilde größer ist als das Geheimnis des Todes. Größer, grausamer, unbedingter, verheerender. Asmik Grigorian kann diesen Irrsinn spielen und singen. Sie geht nicht an Grenzen, sie hat keine. Die litauische Opernsängerin erzeugt Töne, die lodernd wie ein Fanal von jenem einzigen Urgrund künden, der dem Leben Sinn geben kann."

Erschüttert und begeistert zeigt sich auch Eleonore Büning in der NZZ: "Ein herrliches schwarzes Pferd taucht auf im Brunnen, wirft die Mähne und donnert mit den Hufen: Jochanaan - eine Kleinmädchenphantasie. Entzückt wirft sich Salome auf den Rücken, ihre nackten Beine tanzen Lufttango. Später verteilt sie unfassbar sinnliche, unglaublich obszöne Luftküsse an einen imaginären Propheten-Kopf. Denn nur der Rumpf des Geköpften sitzt auf dem Stuhl - ein Pferdekopf daneben. Die Intensität, mit der Grigorian die Süßigkeit und Verzweiflung dieser zerstörten Seeleneinsamkeit singt und gestaltet, nimmt der Szene jeden Schatten von Widerwärtigkeit. Strauss und die Musik, die Philharmoniker und Welser-Möst sind ohnehin allezeit auf Salomes Seite." Im Tagesspiegel schreibt Frederik Hanssen.

Besprochen werden Mozarts "Zauberflöte" bei den Salzburger Festspielen (Tagesspiegel, FAZ), Johan Simons Inszenierung von Kleists "Penthesilea" in Salzburg (nachtkritik), "Tristan und Isolde" als Wiederaufführung in Bayreuth (Tagesspiegel, NMZ, FAZ), der Solo-Abend "50 Acts" der englischen Theaterperformerin Wendy Houston in Frankfurt (den Sylvia Staude in der FR als so lässig wie intensiv feiert), das Doku-Stück "Cuckoo" des koreanischen Performance-Küsntlers Jaha Koo beim Impulstanz-Festival in Wien (Standard), Rossinis "La Cenerentola" in Schloss Hallwyl (NZZ) und Roger Vontobels Inszenierung von "Siegfrieds Erben" nach Feridun Zaimoglu und Günter Senkel in Worms (FAZ).
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Kunst

Constantin Brancusi: Bird in Space, 1928. Foto: MoMA

Im Blog der New York Review of Books feiert Hugh Eakin die avantgardistische Bildhauerkunst des Constantin Brancusi, dem das Guggenheim Museum eine große Ausstellung widmet: "Der Sohn rumänischer Bauern kam ungefähr zur gleichen Zeit nach Paris wie Picasso, allerdings zu Fuß. Innerhalb weniger Jahre schaffte er es Bekanntschaft mit Rodin zu schließen. Doch er verwarf die Methoden des Meisters und definierte völlig neu, was eine Skulptur sein kann. Er kultivierte von sich ein Bild des schwarzbärtigen Asketen, trug nur einfache weiße Kleidung, lebte allein, kochte sich sein Essen auf einem selbstgemachten Ofen in seinem Hinterhof-Atelier in Montparnasse und verwandelte all seine Lieblingssujets - Vögel, Fische, aristokratische Frauen - in atemberaubend schöne Abstraktionen aus poliertem Marmor oder glänzender Bronze."

Besprochen wird die große Frida-Kahlo-Schau "Making her self up" im Londoner Victoria and Albert Museum in London (taz) und die Ausstellungen des Edinburgh Art Festival (Guardian).

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Musik

Im Interview mit der SZ ist Komponist Robert M. Helmschrott wütend, dass die Uraufführung sein neuen Werks "Salamu" zur Eröffnung der "Ingolstädter Orgeltage" in der Kirche St. Moritz vom dortigen Pfarrer abgesagt wurde. Der Grund: Helmschrott wollte bei der Aufführung ein Gedicht von Friedrich Ani gegen die Asylpolitik der CSU vorlesen: "Ich empfinde die Absage als Zensur." In einer nostalgischen Schwärmerei, die die taz aus dem britischen Magazin Q übernommen hat, schwelgen Autor Irvine Welsh, Iggy Pop und das Elektronik-Duo Underworld in Erinnerungen an den Film "Trainspotting", an dem sie alle ihren Anteil haben.

Besprochen wird ein Konzert von Bonnie Raitt in Berlin (Berliner Zeitung).
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Literatur

Die amerikanische Schriftstellerin Andrea Scrima lebt seit 34 Jahren in Berlin. Wenn sie zu Besuch nach Amerika fährt, fühlt sie sich zusehends fremd, erzählt sie im Interview mit der NZZ: "Ich fühle mich oft wie ein Alien. Man gehört nicht mehr wirklich zu einem Ort, man lebt in der Distanzierung, sowohl zu der eigenen Herkunftskultur als auch zu dem Land, in dem man wohnt. Man ist immer dazwischen, und man wird dadurch teilweise auch suspekt. Ich muss sogar mit meinen amerikanischen Freunden vorsichtig sein, etwa, wenn ich etwas kritisiere. Das hören sie nicht gern, denn wenn man nicht dort lebt, wird das als Anmaßung empfunden - und nicht etwa als ein Zugewinn an Objektivität."

Weitere Artikel: In der Zeit-Serie "Ferienflimmern" erinnert sich heute María Cecilia Barbetta an die wichtigsten sechs Wochen ihrer Jugend. In der NZZ erzählt Karl Corino vom Scheitern Robert Musils als angehender Ingenieur. Im Standard schreibt Oliver vom Hove zum zweihundertsten Geburtstag von Emily Brontë, in der SZ schreibt Susan Vahabzadeh. Zum Tod des russischen Schriftstellers Wladimir Woinowitsch schreibt in der FR Harry Nutt, im Tagesspiegel schreibt Gregor Dotzauer.

Besprochen werden unter anderem Henry James' Roman "Lady Barbarina" (NZZ), Alexandra Tischels "Affen wie wir. Was die Literatur über uns und unsere nächsten Verwandten erzählt" (taz), Charlie Englishs "Die Bücherschmuggler von Timbuktu" (Tagesspiegel) und Jan Böttchers "Das Kaff" (Tagesspiegel).
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Architektur

Der Wolkenkratzer "Antilia" in Mumbai
Roman Hollenstein ist für die NZZ nach Mumbai gereist und begutachtet die dortige Hochhausarchitektur, die die Stadt immer mehr prägt: "Globale Aufmerksamkeit erregte die Hochhausstadt Mumbai aber erst 2010 durch die Turmvilla Antilia, die sich in Cumbala Hill 173 Meter hoch über die vornehme Altamount Road erhebt. Der Privatwolkenkratzer des Multimilliardärs Mukesh Ambani, den das Chicagoer Büro Perkins & Will in Anlehnung an Rem Koolhaas' frühe Projekte konzipierte, besitzt nicht nur eine sechsgeschossige Parkgarage, teilweise begrünte Fassaden und einen Heliport auf dem Dach, sondern auch zahlreiche Gästewohnungen, einen Ballsaal, ein Hallenbad und hängende Gärten. Zusammen mit dem Kanchanjunga und dem Taj Mahal Tower zählt der aus sozialer Sicht fragwürdige, formal aber gelungene Antilia-Wolkenkratzer zu den interessantesten Hochhäusern von Mumbai."

Außerdem: SZ-Autor Till Briegleb besucht die TU in Eindhoven, wo eine Architekturklasse die Zukunft des Betondruckens probt: "Nächstes Jahr soll mit dem 3D-Druck der weltweit ersten Minisiedlung am Rande der holländischen Industrie- und Unistadt begonnen werden."
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Film

James McAvoy in Wenders' "Grenzenlos"


Susan Vahabzadeh erzählt in der SZ von einem Besuch in Spanien, um Wim Wenders bei den Dreharbeiten zu seinem neuen Film "Grenzenlos" zuzusehen. Wenders erzählt frei nach J. M. Ledgards Roman "Submergence" die Geschichte des Ingenieurs James Moore (James McAvoy), der in Dschibuti von islamistischen Rebellen entführt wurde. Eine der Hauptfragen für Wenders war, wie er die Gewalt filmen sollte, zum Beispiel eine Steinigung, die Moore miterlebt: "'Ich hatte vor keiner Szene jemals so viel Angst wie vor dieser', sagt Wenders. 'Letztlich habe ich mich komplett auf James verlassen. Als ich mit ihm darüber geredet habe, hat er genau verstanden, was ich meine - und wir haben dann viel über sein Gesicht ablaufen lassen.' Gedreht hat Wenders die Steinigung zwar schon - aber auch hier ist wieder der Spiegel der Geschehnisse James McAvoy, der nur hört, wie die Frau umgebracht wird. 'Er stellt sich das vor - und das Ergebnis ist erschreckender, als es tatsächlich zu sehen.'"

In der FAZ erinnert Nikolai Klimeniouk daran, dass der in einem russischen Lager einsitzende ukrainische Filmregisseur Oleg Senzow heute vielleicht seinen 78. Tag im Hungerstreik verbringt: "Vielleicht, weil man an jedem Morgen seines Hungerstreiks nicht weiß, ob er am Abend noch leben wird. Der IRA-Kämpfer Bobby Sands starb nach 66 Tagen Hungerstreik in einem nordirischen Gefängnis. Der sowjetische Dissident Anatolij Martschenko hielt seinen Hungerstreik in einem Hochsicherheitslager 117 Tage lang und starb etwa eine Woche, nachdem er ihn beendet hatte. Er wurde aber zwangsernährt, eine erniedrigende und qualvolle Prozedur."

Weiteres: Uwe Killing unterhält sich für die Berliner Zeitung mit dem Filmproduzenten Artur Brauner, der am 1. August seinen 100. Geburtstag feiert. In der FAZ gratuliert Andreas Platthaus dem Schauspieler Jean Reno zum Siebzigsten. Besprochen wird eine Schau zu 100 Jahren Ufa-Filmgeschichte im Kunstfoyer München (Welt).
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