Efeu - Die Kulturrundschau

Das Schauspielerfleisch leuchtet

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31.07.2018. Salzburg ganz groß: Auch Johan Simons' "Penthesilea"-Inszenierung mit Sandra Hüller und Jens Harzer haut die KritikerInnen um: So poetisch, intellektuell und lässig haben sie Kleists Stück noch nie gesehen. Der Guardian begegnet in der Ausstellung "Herstory" in Rochdale der weiblichen Seite der Kunstgeschichte.  In der Zeit verzweifelt Georg Seeßlen am Irrglauben des Kinos, mit Remakes in die große Zeit anknüpfen zu können.  Außerdem trauern die Feuilletons um Tomasz Stańko, den großen polnischen Jazzmusiker und Meister der Melancholie.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 31.07.2018 finden Sie hier

Bühne

Jens Harzer als Achilles und Sandra Hüller als Penthesilea in Johan Simons Inszenierung. Foto: Salzburger Festspiele / Monika Rittershaus.

Und schon wieder ein Ereignis in Salzburg. Johan Simons und Vasco Boenisch haben Kleists Bombaststück "Penthesilea" ganz auf die beiden Protagonisten zugeschnitten, auf Penthesilea und Archill. Und was Sandra Hüller und Jens Harzer hier veranstalten, das findet Manuel Brug in der Welt "so schlicht wie grandios". "Das Schauspielerfleisch leuchtet!", ruft Margarete Affenzeller im Standard. In der SZ schwärmt Egbert Tholl: "Beide machen sich Kleists Sprache mit Selbstverständlichkeit zu eigen. Bei Hüller wirken die Worte schwerelos. So körperlich sie spielt, so glitzernd leuchtend fliegen ihr die Sätze davon. Und beide spielen haltlos Liebe, nagen an den Achillessehnen des anderen, können kaum die Hände voneinander lassen. Boenisch gönnt ihnen wie Kleist von der Hälfte des Stücks an die Unmittelbarkeit des Aufeinandertreffens, und Simons schaut ihnen begeistert zu. Er ist gleichermaßen ein Fan dieser beiden Darsteller wie ein geschickter Baumeister, der aus den Angeboten Hüllers und Harzers eine flirrende Komposition zu schaffen weiß. Deren Bestandteile sind das Spiel als Spiel, das Epische des ersten Teils, die poetische und zärtliche Gier des zweiten." In der FAZ betont Simon Strauß, dass diese Inszenierung dem Stück alles Monomanisch-Überspannte nimmt. Intensiv und fordernd findet den Abend auch taz-Kritikerin Regina Müller in ihrem Bericht aus Salzburg.

Weiteres: Im Tagesspiegel stöhnt Christian Peitz über die Hitze, die jede Aufführung im unklimatisierten Bayreuth zum Saunagang macht: "Unsereins traut sich nicht mehr ohne Kreislauftropfen und Fächer auf den Grünen Hügel und bemitleidet die Männer in den dichtgedrängten Reihen, schon weil ihnen keine Riemchensandalen gestattet sind."

Besprochen werden Romeo Castelluccis Inszenierung "Salome" in Salzburg (FAZ) und Performances von Trajal Harrell, Dorothée Munyaneza, Clara Furey und Anne Juren beim Impulstanz-Festival in Wien (Standard).
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Film

Schier zum Verzweifeln ist Georg Seeßlen zumute angesichts der Sequels, Franchises und Remakes, die seit geraumer Zeit die Spitzenpositionen des Kinos bestimmen. "Aktueller" Anlass: Eine Neuauflage von "Papillon", den es in den Siebzgern mit Steve McQueen und Dustin Hoffmann schon einmal gab. "Die Remakebarkeit selbst" sei der eigentliche Inhalt der neuen Version, schreibt Seeßlen in der Zeit: "Das Fehlen von Denkbarkeiten, sozialer Fantasie und Utopie führt zu einer Sehnsucht nach rückwärts, so als käme man in Remakes in eine Zeit zurück, in der das Kino noch geholfen hat. Als es noch Heimat und Gemeinschaft war. Dabei wird vergessen, dass es gerade dies nur war, weil es immer auch nach vorn gesehen hat, Raum und Blick erweitert hat. Unter der Freiheit, in die Papillon entkommt, kann sich indes kaum ein Mensch noch etwas vorstellen, was nicht gefährlich, unnütz oder passé ist. Als Zuschauer heimzukehren an einen Ort der Befreiung, das ist schon ein absurder Retro-Effekt."

Weitere Artikel: Auf ZeitOnline verleiht Wiebke Husmann den Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen im Film für Frauen nach der Lektüre neuer Studienergebnisse noch einmal Nachdruck. In der NZZ stimmt Susanne Ostwald auf das Filmfestival in Locarno ein, das in diesem Jahr zum letzten Mal unter Carlo Chatrians Leitung stattfindet, bevor dieser nach Berlin aufbricht. Im Kracauer-Stipendiaten-Blog des Filmdiensts fragt sich Lukas Foerster, warum es so wenig interessante oder populäre Fußballfilme gibt. Besprochen werden Silvio Soldinis "Die verborgenen Farben der Dinge" (SZ) und Stefano Sollimas "Sicario 2" (Freitag).
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Musik

Die Feuilletons um den polnischen Jazztrompeter Tomasz Stańko, der am Sonntag im Alter von 76 Jahren gestorben ist. Er war "einer der wichtigsten Musiker des Jazz überhaupt", schreibt Thomas Steinfeld in der SZ. Ronald Pohl würdigt ihn im Standard als "Meister der Melancholie", in dessen "tastendem Spiel die Katastrophen der modernen polnischen Geschichte sehr wohl aufgehoben schienen: in brütenden Augenblicken voller Untröstlichkeit." Dass Stańko sich von Polen aus, wo er lange Zeit in Krzysztof Komedas Band spielte, weltweiten Ruhm erspielte, liegt laut Jan Wiele von der FAZ einerseits daran, "dass er den amerikanischen Free Jazz in bisweilen wilder Rohheit fortentwickelte, als auch an seiner melodischen Verwurzelung in älteren Jazztraditionen, die er mit Lyrik, Literatur und Film verband." In der Neuen Musikzeitung erinnert sich der Jazzmusiker Hans Kumpf an Stańko. In der FR resümiert Hans-Jürgen Linke Stańkos Werdegang.

Auf Pitchfork stellt Mark Richardson das Buch "Playing Changes - Jazz for the New Century" des Jazzkritikers Nate Chinen vor - ein Überblick über die Entwicklung des Jazz seit 2000 und seine Öffnung zu anderen Musikstilen. Im Gespräch macht Chinen eine interessante Bemerkung über den Jazz und Streaming - die Art, in der Musik heute üblicherweise gehört wird: "Ich habe noch nie so viel Widerstand gegen das Streaming und vor allem gegen Spotify erlebt wie unter Jazzmusikern. Die Leute denken, das ist ein Spiel für Trottel. Als sogar ECM (das einflussreiche Jazz- und Klassiklabel) mit dem Streamen anfing, sagten mir einige Labelbetreiber: 'Das ist ein Messer in meinem Herzen. Was machen wir jetzt?' Es gab das Gefühl gab, dass wir alle dieses Bollwerk gegen diese böse Macht waren. Wenn du nicht auf diesem Feld, dem Streaming, spielst, existierst du dann überhaupt noch? Letztlich werden die Jazzhörer entscheiden, denke ich."

Als eine der wichtigsten Jazzplatten des angehenden Jahrhunderts überhaupt nennt Chinen übrigens überraschender Weise D'Angelos "Voodoo". Hier das dazu bei Pitchfork eingebette Video von einem Konzert D'Angelos in Montreux. Recht fulminant, muss man sagen:




Weitere Artikel: Für die taz plaudert Stephanie Grimm mit dem Indie-Musiker Stephen Malkmus. Thomas Schacher berichtet in der NZZ vom Verbier-Festival. Hendrik Otremba porträtiert in der Jungle World Genesis P-Orridge. In der SZ-Jazzkolumne wirft Andrian Kreye einen Blick auf die Münchner Jazzszene. Insbesondere empfiehlt er die noch nicht auf Platte erschlossene Gruppe Ark Noir und deren "raumgreifende Düsternis":



Besprochen werden ein von Andris Nelsons dirigiertes Zimmermann- und Mahler-Konzert (Standard), Joan Baez' Auftritt in Berlin (Berliner Zeitung, Tagesspiegel), ein Konzert der Zombies (taz, Tagesspiegel), ein Auftritt der Simple Minds, das FR-Kritikerin Sylvia Staude sehr unspritzig fand, und der von Jörn Peter Hiekel und Wolfgang Mende herausgegebende Band "Klang und Semantik in der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts" (SZ).
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Literatur

Weiteres: Im New Statesman huldigt Rachel Kushner den Romanen Cormac McCarthys, denen sie sogar verzeiht, dass in ihnen keine Frauen vorkommen. Denn von den Cowboys seiner Border-Trilogie über das amerikanisch-mexikanischen Grenzland hat sie eine Menge gelernt: "Sie schlafen unter freiem Himmel. Wir lesen ohne Kommata und fühlen uns frei."

Weitere Artikel: Lars von Törne hat für den Tagesspiegel den Comiczeichner Flix besucht, der gerade ein Spirou-Abenteuer in Ost-Berlin veröffentlicht hat. Frank Nienhuysen schreibt in der SZ zum Tod des Schriftstellers Wladimir Woinowitsch.

Besprochen werden unter anderem wiederveröffentlichte Bücher von Georges Perec (NZZ, Tagesspiegel), Lisa Hallidays "Asymmetrie" (Zeit; die FAZ hat ihr Gespräch mit der Schriftstellerin online nachgereicht), Andrej Platonows "Tschewengur. Die Wanderung mit offenem Herzen" (Berliner Zeitung), John McGregors "Speicher 13" (SZ) und die Neuübersetzung von Cesare Paveses "Das Haus auf dem Hügel" (FAZ).
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Kunst

Catherine Opie: Self-Portrait Pervert, 1994. Collezione Sandretto Re Rebaudengo
Ziemlich aufregend findet Adrian Searle im Guardian die Ausstellung "Herstory" in der Touchstones Gallery in Rochester, die - mit kleinem Budget ausgestattet und mit Leihgaben des Sandretto Re Rebaudengo Museums in Turin Kunst von Frauen zeigt: "Herstory ist eine immer wieder überraschende, bewegende und mitunter auch alarmierende Ausstellung. Das Selbstporträt der amerikanischen Fotografin Catherine Opie von 1994 zeigt sie in der konventionellsten Pose, die überhaupt vorstellbar ist - sitzend, mit gefalteten Händen, Gesicht in die Kamera. Nur dass ihr Gesicht hinter Ledermaske und Halsband verborgen ist und das Wort Pervert mit dekorativen Schnörkeln über der nackten Brust tätowiert ist. Präzise Nadelreihen durchstechen ihre Arme, von den Schultern bis zu den Handgelenken. Die Ruhe dieses Bildes, in dem Opie zugleich unterworfen und Herrin ihrer Selbst ist, passiv und aggressiv, ist ein ganz schöner Hammer."

Besprochen werden Pierre-Philippe Hofmanns Schweizer Video-Tagebuch "Portrait of a Landscape" im Schweizerischen Architekturmuseum in Basel (NZZ), die Schau "Between Art & Fashion" Helmut Newton Stiftung (Tagesspiegel).
Archiv: Kunst