Efeu - Die Kulturrundschau

Wandelnde Kritiker des Daseins

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.08.2018. Dezeen und der Guardian lernen in Helsinki mit dem neuen Museum Amos Rex, wie aufmüpfige Architektur  aussieht. SZ und Berliner Zeitung betrachten noch einmal den bunt blühenden Irrsinn der West-Berliner Kunst. Die taz vermisst auf dem Atonal-Festival die subkulturelle Wucht. Zeit Online erklärt das amerikanische Kino-Phänomen der "Rich Asian Americans". Und mit Riccardo Chailly ist nicht Claudio Abbado zum Lucerne Festival Orchestra zurückgekehrt, betont die NZZ .
9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.08.2018 finden Sie hier

Architektur

Verspielte Landschaft: Erweiterung des Amos Rex in Helsinki. Foto: Mika Huisman 

Auf Dezeen stellt Tom Ravenscroft den Lasipalatsi in Helsinki vor, einen sehr eleganten funktionalistischen Bau aus den dreißiger Jahren, der künftig das neue Museum Amos Rex beherbegen wird. Weil die Stadt eine Erweiterung nur im Untergrund erlaubte, musste der Grund unter dem alten Busparkplatz ausgebaut werden. Im Guardian blickt Oliver Wainwright recht vergnügt auf diese verspielte Landschaft aus Hügeln und Trichtern: "'Es scheint, als fühlte sich das Museum im Untergrund nicht ganz wohl', sagt Asmo Kaaksi von der Architekturfirma JKMM, die das Projekt erdacht und durchgeführt hat, 'deswegen wirft es Blasen auf den Platz'. Es ist eine passend aufmüpfige Metaphor für die Stadt, die 2016 die Aussicht auf ein eigenen Guggenheim Museum ablehnte, nach fünf Jahren bitterer öffentlicher Kontroverse. Während der für das Guggenheim erwogenen Standort am Hafen leerblieb (und seit voriger Woche als möglicher Ort für ein Architektur- und Design-Museum gilt), wird die Eröffnung des privat finanzierten Amos Rex das Argument stützen, dass Helsinki als Kultur-Destination aus eigenem Recht Weltrang genießt, auch ohne den Zweig eines amerikanischen  Franchise-Unternehmens."
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Bühne

Im Standard-Interview mit Stephan Hilpold bilanziert Intendant Markus Hinterhäuser die Salzburger Festspiele und verteidigt sich gegen die Kritik, alle inhaltliche oder politische Kontroversen aus dem Programm gehalten zu haben: "Die Kunst kann den Syrien-Krieg nicht beenden, kann das Migrationsproblem nicht lösen, und nach dem Jedermann wird wohl aus Läuterungsgründen kein wohlhabender Münchner sein Auto oder seine Villa verkaufen. Aber was wir können, ist, im Sinne Flauberts zur 'Erziehung des Herzens' aufzurufen."

Weiteres: In der FAZ schreibt Simon Strauss den Nachruf auf den amerikanischen Drama und Broadway-König Neil Simon. Till Briegleb berichtet in der SZ von der Biennale Wiesbaden.

Besprochen werden Franz Liszts aus der versenkung geholte Monumentaloper "Sardanapalo" in Weimar (Welt), die neuen Stücke der Choreografinnen Sasha Waltz und Constanza Macras vom Wochenende in Berlin (taz), Tanznacht zum 40. Geburtstag der Tanzfabrik (taz), ein Gastspiel des französischen Choreografen Boris Charmatz am Zürcher Theaterspektakel (NZZ).
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Kunst

West-Berlin (Oranienstraße), 1980er Jahre. Foto: Michael Hughes/ Künstlerhaus Bethanien
Auch in der SZ findet Peter Richter nun die Ausstellung "Berlinzulage" im Kreuzberger Künstlerhaus Bethanien große Klasse. Und das Beste an der Kunst aus West-Berlin sei hier, dass sie ganz ohne Punk und Malerei auskomme. Stattdessen: "Skulptur, Performance, analytische Spaziergängereien wie die von Raffael Rheinsberg und anderen 'durch den Stadtraum wandelnden Kritikern des Daseins', wie (Bethanien-Chef Christoph) Tannert das im Gespräch ausdrückt. Dazu kommt die hypertrophierende Klamaukproduktion von Klaus Theuerkauf, der mit seiner Guerilla-Gruppe 'endart' ausgezogen war, sowohl kunstsinnige Bürger als auch konservative Punks zu irritieren. ... Die Grenzen zwischen sehr ernsthafter Auseinandersetzung mit den kontaminierten Topografien der ehemaligen Reichshauptstadt, gut gelaunten Übermütigkeiten und dem bunt blühenden Irrsinn von verschrobenen Kiez-Originalen waren augenscheinlich fließend damals."

In der Berliner Zeitung betont Gunnar Lützow, dass sich die Blüte eigenwilliger Kunst nicht den hohen Subventionen verdankt, sondern dem Willen zur schonungslosen Subjektivität: "Der Mut zur Verweigerung und die in der Ausstellung dokumentierte Aneignung des öffentlichen Raums wären kaum denkbar ohne die Hausbesetzerbewegung, deren Heftigkeit sowohl in den Fotos von Michael Hughes als auch in dem mit einem Soundtrack der 'Notorischen Reflexe' unterlegten Video 'Schlacht am Nolli' dokumentiert wird."

Weiteres: Lothar Müller porträtiert in der SZ die Holocaust-Überlebende und Fotografin Claudia Andujar, die für ihre Bilder der Yanomami die Goethe Medaille erhält.
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Film

Anzhelika Sauer klärt in der SZ über ein neues Gesetz in Russland auf, das russische Festivalveranstalter als gezielten Angriff auf ihre Arbeit wahrnehmen. "Organisatoren müssen fortan beispielsweise für jeden Film, der mehrmals in Kinozentren gezeigt werden soll, eine schriftliche Erlaubnis im Kulturministerium einholen." Und "künftig sollen nur noch Festivals stattfinden dürfen, die auf einer Liste des Ministeriums geführt werden. Die Liste wird jährlich neu erstellt - die Organisatoren werden also immer wieder bangen müssen. Für einige internationale Festivals könnte dies das Ende bedeuten. Noch ist nicht bekannt, nach welchen Kriterien die Auswahl stattfindet."

In Deutschland läuft Jon Chus "Crazy Rich Asians" fast schon unter Ausschluss der Öffentlichkeit in den Kinos, in den USA hingegen hat sich die auf Kevin Kwans gleichnamigem Roman basierende Komödie längst zum heißdiskutierten Kulturphänomen an der Spitze der Kinocharts entwickelt. Auf ZeitOnline erklärt Khuê Phạm, was sich hinter dem Film verbirgt: Nämlich "kein Problemfilm, in dem es um die qualvolle Identitätssuche einer unterdrückten Minderheit ginge. Es ist eine gut gelaunte, selbstironische romantische Komödie". Aber "es ist ein Hollywood-Film, der ohne Weiße auskommt ... Für das eigene Selbstwertgefühl macht es eben einen riesigen Unterschied, ob man in Werbespots, Fernsehserien oder Kinofilmen auch ab und zu Leute entdeckt, die so aussehen wie man selbst. Es ist ein bisschen so wie mit demokratischer Repräsentation: In dem Moment, in dem ein Vertreter des eigenen Typus vorne Platz nimmt, fühlt man sich automatisch stärker als Teil der Gesellschaft." Warum dann in dem Artikel zwar explizit darauf hingewiesen wird, dass der Regisseur asiatisch-stämmig ist, ohne aber auch dessen Namen zu nennen, bleibt indessen ein Rätsel.

Besprochen werden Klaus Lemkes neuer, vom ZDF online gestellter Film "Bad Girl Avenue" (FR), die Arte-Doku "The Cleaners" über die Menschen in Manila, die Facebook sauber halten (taz, NZZ), die von Thomas Pynchon inspirierte Amazon-Serie "Lodge 49" (online nachgereicht von der FAZ), Andreas Dresens "Gundermann" (FAZ) und Axel Ranischs Fernsehfilm "Familie Lotzmann auf den Barrikaden" (FAZ).
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Literatur

Perlentaucherin Thekla Dannenberg bespricht neue Krimis: Tief beeindruckt hat sie Tom Franklins "Krumme Type, krumme Type", "ein großartiger Roman über fehlenden Gemeinsinn und mangelnden Mut, über Einsamkeit und Rassismus, der bei Franklin die historische und politische Tiefenstruktur des Südens bildet, in der jedoch immer der einzelne Mensch agiert. Der Roman ist unendlich traurig, aber nicht noir." Und mit Mercedes Rosende lässt sich eine neue, vor allem aber: weibliche Stimme aus dem literarischen Lateinamerika entdecken: "Mit bösem Witz und Sinn fürs Skurrile" gelingt der Uruguayerin in "Krokodilstränen" eine "vergnügliche Gaunerkomödie".

Weitere Artikel: Für die FAZ war Kai Spanke beim Poetenfest in Erlangen, dessen Leitmotiv in diesem Jahr "bodenständige Wahrhaftigkeit versus Salti schlagende Fiktion" war. Peter Berger plaudert in der Berliner Zeitung mit Timur Vermes über dessen neuen Satire "Die Hungrigen und die Satten". Gustav Seibt erzählt in der SZ die Anekdote, wie Goethe sich einmal im Datum irrte und sich fälschlicherweise betrank.

Besprochen werden Patrick Modianos "Schlafende Erinnerungen" (FR), Olivier Guez' "Das Verschwindnen des Josef Mengele" (Standard), eine Neuauflage von Thomas Manns "Betrachtungen eines Unpolitischen" (FR), Rachel Kusks "Kudos" (SZ), Warlam Schalamows "Über die Kolyma" (NZZ), Jurek Beckers "Am Strand ist allerhand los" (Standard), María Cecilia Barbettas "Nachtleuchten" (NZZ), Stephen Kings "Der Outsider" (Welt), Stanisław Strasburgers "Der Geschichtenhändler" (online nachgereicht von der FAZ) und Steffen Menschings "Schermanns Augen" (FAZ).
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Musik

Seit drei Jahren und noch bis 2020 leitet Riccardo Chailly das Lucerne Festival Orchester. Anlass für NZZ-Kritiker Christian Wildhagen, eine Bilanz zu ziehen, zumal demnächst über eine Vertragsverlängerung diskutiert werden dürfte. Wer mit Chailly die Hoffnung auf eine Wiederkehr Claudio Abbados verband, dessen Assistent Chailly einst war, ging mit dieser "rückwärtsgewandten Sehnsucht" natürlich in die Irre, sagt Wildhagen: Chailly ging es um Weiterentwicklung durch Öffnung des Repertoires. "Noch agiert er hier etwas zögerlich, in dieser Hinsicht offenbar deutlich eher zum Kompromiss bereit als Abbado, worauf einige auffällige Programmänderungen jeweils vor Probenbeginn hindeuten", wobei in diesem Jahr druchaus einige Triumphe gelangen. "Auf der Habenseite steht für Chailly wie für das Orchester nach diesem Sommer folglich ein mehr als erfreulicher Ertrag, und über die weiterhin nötige Schärfung des Programmprofils wird man reden. Vor allem aber steht dort nach drei Jahren genügend, um gemeinsam weiterzugehen - auch über den Sommer 2020 hinaus."

Gar so rundweg begeistert berichten die Kritiker in diesem Jahr nicht vom Atonal Festival in Berlin, wo akustische Drastik die Ohren des Publikums einer Belastungsprobe unterzieht. Markus Schneider von der Berliner Zeitung vermisste zuweilen die "kuratorische Strenge", erlebte am Ende aber doch eine kleinere Epiphanie, da zuvor nichts "so überwältigend modern und künstlerisch durchdacht klang wie die zugleich fließenden und eckigen Sounds von Darren Cunningham alias Actress. Weil er lieber rätselhaft bleibt, stellte er eine metallene Schaufensterpuppe auf, die im unregelmäßigen Flow seiner hyperbeweglichen Sounds bestrahlt wurde und verwirrend glitzerte. In seiner Originaltität, seinem Mut, seiner Entschlossenheit bescherte einem das Konzert einen starken Moment der Erhabenheit." Tazler Philipp Rhensius hingegen verzeichnete in diesem Festivaljahrgang nicht nur einen sanften Verlust, was die "einstmalige subkulturelle Wucht" betrifft, sondern auch eine spürbare soziale Erkaltung beim Festivalgeschehen, die er als "sozialen Kollateralschäden der smartphonifizierten Gesellschaft" einschätzt: Denn "im Publikum herrschte eine außerordentliche Unwilligkeit zu spontanen Unterhaltungen".

Weitere Artikel: Beim Jazzfestival Saalfelden befand sich Standard-Kritiker Ljubiša Tošić mitunter "in den unendlichen Weiten der Zögerlichkeit". Im online nachgereichten FAS-Interview plaudert Florentin Schumacher ausgiebig mit Marteria und Casper. Bernd Graff berichtet in der SZ von Iggy Pops neuesten Aktivitäten zwischen Aushängeschild der Deutschen Bahn, Techno-Kollaborateur und Andy-Warhol-Nachahmer.

Besprochen werden Ariana Grandes neues Album "Sweetener" (Standard), Mark Lanegans und Duke Garwoods "With Animals" (SZ), ein Konzert von Yo La Tengo (taz), der Auftakt des Musikfests Stuttgart (FAZ, Stuttgarter Nachrichten) und neue Wiederveröffentlichungen, darunter Julee Cruise' zweites, von David Lynch produziertes Album "The Voice of Love" aus dem Jahr 1993 (SZ, Pitchfork). Wir hören rein und wappnen uns schon mal für den Herbst:

Archiv: Musik