Efeu - Die Kulturrundschau

Es ist alles Illusion

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29.08.2018. Neuestes aus Chaville liefert der Freitag im großen Interview mit Peter Handke. Die SZ stimmt auf das Filmfestival von Venedig ein, das heute Abend eröffnet wird und nur eine Regisseurin im Wettbewerb hat. Auf ZeitOnline wehrt sich Regisseur Sergei Loznitsa gegen den Vorwurf der Propaganda. Die taz erblickt Europas Schicksal in den Bildern des melancholischen Thessaloniki.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.08.2018 finden Sie hier

Film

Szene aus Sergei Loznitsas "Donbass"

Im Gespräch mit ZeitOnline spricht der ukrainische Regisseur Sergei Loznitsa über seinen Film "Donbass", der Szenen in dokumentarischer Anmutung aus dem südostukrainischen Kriegsgebiet nachstellt, und weist kategorisch den Vorwurf der Propaganda zurück, den Interviewer Steffen Dobbert immer wieder kolportiert, ohne ihn namhaft zu machen: "Propaganda ist, wenn man etwas erfindet. Ich habe aber in meinem Film nichts erfunden. Es gibt echte Amateuraufnahmen von den Szenen im Film. Er zeigt also die Wahrheit. Außerdem ist es mir wichtig, dass ich keinen Film aus Sichtweise der ukrainischen oder der russischen Regierung gemacht habe. Ich präsentiere lediglich meine Sichtweise auf diesen Krieg.  ... Dieser Film ist ungemütlich und unakzeptabel für beide Seiten dieses Kriegs. Schon komisch, wenn ich dafür als Propagandist bezeichnet werde. Denn wenn mein Film Propaganda ist, dann ist die Realität Propaganda." Hier die ersten Einschätzungen des Films nach seiner Cannes-Premiere.

Das Filmfestival in Venedig, das heute Abend eröffnet wird, gibt sich in diesem Jahr nach erstem Blick ins Programm besonders politisch, schreibt Tim Caspar Boehme in der taz. Überhaupt zeigt sich das Festival, zumindest was das Programm angeht, von seiner besten Seite, schreibt Susan Vahabzadeh in der SZ: Insbesondere aus Hollywood schöpfe Venedig, da es das letzte große Festival vor Beginn der Oscar-Saison ist, gehörig den Rahm ab und sagt auch zu den Netflix-Filmen gern Ja, die in Cannes vor verschlossenen Kinos standen. Nur bei der Parität hapert es: Es läuft nur ein Film einer Frau im Wettbewerb: Jennifer Kents "The Nightingale" - was bereits entsprechende Reaktionen nach sich zog. "Biennale-Chef Paolo Barrata hat auch eingeräumt, dass 21 Prozent der Einreichungen von Regisseurinnen gewesen seien. In den Wettbewerb fand dann aber nur einer dieser Filme, das sind nicht einmal fünf Prozent. Die Festivalleitung gibt sich bei dem Thema trotzdem stur. (Mostra-Chef Alberto) Barbera sagte, wenn man ihn dazu brächte, einen Film in die Auswahl aufzunehmen, nur weil er von einer Frau gemacht wurde, werde er zurücktreten."

Weitere Artikel: Für die deutsche Oscarnominierung 2019 kommen erstaunlich viele Filme in Betracht, schreibt Hanns-Georg Rodek in der Welt (eine Liste der Vorauswahl gibt es bei kino-zeit.de). Jörg Seewald spricht in der FAZ mit Martina Gedeck über deren neue Comedy-Serie "Arthurs Gesetz", bei der, wie die Schauspielerin beteuert, "die Klischees nicht wieder durchgekaut" würden. SZ-Kritikerin Kathrin Hollmer hat jedenfalls schon mal großen Spaß an dem schwarzhumorigen Treiben, bei dem sich Jan-Josef Liefers für Gedeck eine Hand absäbelt. Evelyn Vogel erinnert in der SZ an die Dreharbeiten zu May Spils' "Zur Sache Schätzchen" in Schwabing.

Besprochen werden Detlev Bucks Berliner Gangsterfilm "Asphaltgorillas" (Berliner Zeitung), das Terence-Hill-Comeback "Mein Name ist Somebody" (kino-zeit.de), Andreas Dresens "Gundermann" (online nachgereicht von der FAZ), Susanna Fogels Actionkomödie "Bad Spies" mit Mila Kundis und Kate McKinnon als Laienagentinnen (taz, Standard), Axel Ranischs TV-Komödie "Familie Lotzmann auf den Barrikaden" (FR) und Rudi Gauls Online-Dating-Komödie "Safari - Match Me If You Can" (SZ).
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Kunst

Socratis Iordanidis, Die Internationale Messe, Detail, 1960er-Jahre © Sokratis Iordanidis Archive / Thessaloniki Museum of Photography

Melancholie überkommt taz-Kritiker Ingo Arend in der Fotoausstellung über Thessaloniki im Museum Europäische Kulturen, auch wenn viele prekäre Aspekte in der Geschichte der Stadt, vor allem die deutsche Besatzung, umschifft werden: "Trotzdem gelingt es der kleinen Schau, eine Ahnung von der komplexen, widersprüchlichen, oft brutalen Realität hinter der scheinbaren Idylle am Thermaischen Golf zu vermitteln. Schon zu Zeiten Alexanders des Großen kulminierten in der Stadt an dem späteren Kreuzweg zwischen Rom, Byzanz und dem Balkan all die Krisen, an denen Europa heute zu zerbrechen droht: Naturkatastrophen, Flucht und Vertreibung."

Weiteres: Alexandra Wachmann besucht die Wiesbaden-Biennale, für die auch das Staatstheater seine Türen der Kunst geöffnet hat. Allerdings grübelt sie noch über die Botschaft einer goldene Erdogan-Statue, die mitten in der Stadt postiert wurde und entsprechend partizipative Momente der Bevölkerung provozierte. In der FR empfiehlt Sylvia Staude die Ausstellung "Virtual Insanity" in der Mainzer Kunsthalle, in der sie die Monster der künstlicher Intelligenz erlebte, nur Menschen mit starken Nerven.

Besprochen werden die Ausstellung "Aus Rembrandts Werkstatt" im Berliner Kupferstichkabinett, die sehen lehrt, wann eine Zeichnung Rembrandt und wann seinen Schülern zugeschrieben wird (Tagesspiegel) und die Ausstellung "Musica Femina" über weibliches Musikschaffen in der Schönbrunner Orangerie (Standard).
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Bühne

In der SZ sieht Jürgen Berger bei der Vorschau auf die neue Theatersaison die psychologisch-naturalistischen Klassiker im Trend: Allüberall werden Tschechow, Ibsen, Strindberg und Hauptmann neu adaptiert: "Für Theatermacher sind diese dramatischen Vorlagen jetzt wieder so attraktiv, weil die darin ausgebreiteten Sehnsuchts-, Leidens-, Liebes- und Hassgeschichten in gutbürgerlichen Haushalten bestens geeignet sind, die Zwiespältigkeit und Zerrissenheit aktueller gesellschaftlicher Strukturen widerzuspiegeln."

Weiteres: Jürgen Kesting schreibt in der FAZ den Nachruf auf die Sopranistin und Tragödin Inge Borkh, der ein französischer Kritiker einst "frenetische Leidenschaft, erhabene Liebe, phantastischer Hass" bescheinigte. Im Tagesspiegel rollt Udo Badelt den Zwist um die Kammeroper Schloss Rheinsberg auf.
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Literatur

Unfangreich und mäandernd, manchmal brillant und manchmal gehässig spricht Peter Handke im Interview mit Mladen Gladic und Jan C. Behmann vom Freitag bei einer Privataudienz in Chaville über Freunde, Feinde und das Leben: "Joschka Fischer und Marcel Reich-Ranicki sind die schlimmsten Typen der Nachkriegszeit in Deutschland. Und Daniel Cohn-Bendit, das können Sie aufschreiben. Fischer hat überhaupt keine Ahnung von nichts. Essen vielleicht. Ahnung ist die Hauptsache im Leben. Ahnung und Gegenwart." Und als Heimat würde er seinen Wohnort Frankreich nicht bezeichnen: "Das Wort Heimat darf man nicht gebrauchen. ...Mit der Heimat Ideologie zu machen, ist das Schlimmste überhaupt. In Österreich habe ich das erlebt, von Kind auf. Die Ideologie der Heimat ist ein Teil des Nazitums. Mit der Heimaterpressung: 'Du hast kein Heimatgefühl', setzen die einen unter Druck." Ratschlag holt er sich bei der Philosophin Simone Weil, die "sagt, andere zu entwurzeln, ist eins der schlimmsten Verbrechen, aber sich selbst zu entwurzeln, ist eine Errungenschaft. Manchmal hab ich ein paar Luftwurzeln. Manchmal sogar ein bisschen Erdwurzeln, aber es ist alles Illusion."

In der FAZ erinnert Verleger Tom Müller an Gabriele D'Annunzios Propagandaflug am 9. August 1918 von Italien nach Wien und daran, wie der Dichter im Sommer 1919 die Stadt Fiume eroberte: "Sechzehn Monate lang regierte D'Annunzio die Stadt im Ausnahmezustand. ... Die Libertins Europas kamen nach Fiume. Orgien, Drogenkonsum, Nudismus waren an der Tagesordnung, Waffen wurden mit Blumen dekoriert, Blüten in Gewehrläufe gesteckt. Man kann das rückblickend durchaus als Hippietum avant la lettre betrachten, mit D'Annunzio als Guru, der das Warten auf die Erlösung durch einen kollektiven Rausch überbrückte."

Weitere Artikel: In der NZZ meditiert Übersetzer Martin Kämpchen über Fragen und Herausforderungen seines Metiers. Besprochen werden Ronald M. Schernikaus letzter Roman "legende", der ab Herbst eine Werkausgabe des Autors einleiten wird (taz), Mela Hartwigs bereits vor 70 Jahren verfasster, aber erst jetzt veröffentlichter Roman "Inferno" (NZZ), Lucy Frickes "Töchter" (online nachgereicht von der FAZ), Patrick Modianos Theaterstück "Unsere Anfänge im Leben" (Tagesspiegel), Emmanuel Carrères "Der Widersacher" (Tagesspiegel), Raja Alebs "Sarab" (FR), Alessandro Bariccos Essayband "Die Barbaren" (Standard), Verena Roßbachers "Ich war Diener im Hause Hobbs" (Zeit), Anna Katharina Fröhlichs "Rückkehr nach Samthar" (FR), Jennifer Egans "Manhattan Beach" (SZ), Familiengeschichten von Mark Mazower und Philippe Sands (NZZ) sowie Wolf Wondratscheks "Selbstbild mit russischem Klavier" (FAZ).

Archiv: Literatur

Musik

Heute wäre Michael Jackson sechzig Jahre alt geworden. Karl Fluch wirft im Standard Schlaglichter auf Jacksons Werdegang und ist sich sicher: "Die heutige Weltführerschaft des Hip-Hop im Musikbusiness wäre ohne Jacksons immensen Erfolg beim weißen Publikum schwer vorstellbar." Mit den drei Alben "Thriller", "Bad" und "Dangerous" "hauchte er einem künstlichen Pop-Monster aus unvereinbar geglaubten Musikstilen Leben und Können ein", schwärmt Jackson-Biograf Hanspeter Künzler in der NZZ. "In westlicher Tradition wird traditionell der Autor, der Künstler in seiner individuellen Prägnanz als Agent kultureller Entwicklung gefeiert. Pop-Musiker wie Bob Dylan oder Patti Smith, aber auch Bands wie die Beatles, Pink Floyd oder The Clash entsprechen dieser Tradition. Michael Jackson hingegen fällt aus diesem Rahmen, weil sich um seine Pop-Figur ein Heer von Musikern, Produzenten, Choreografen scharten, die sein Wirken mit innovativen Ideen befeuerten. Und um die poppigen Pläne in die Praxis umzusetzen, brauchte es jeweils viel Geld und einen gewaltigen industriellen Apparat." Einer von Jacksons schönsten Songs entstand freilich noch vor dem Bombast-Pop, den er ab "Thriller" bediente:



Weitere Artikel: Bei Pitchfork resümiert Alphonse Pierre das Brooklyner Festival Afropunk. In der NZZ porträtiert Florian Bissig den Jazz-Schlagzeuger Fredy Studer. Für den Tagesspiegel hat sich Gregor Dotzauer mit der Harfenistin Kathrin Pechlof getroffen.

Besprochen werden Robert Barrys Buch "Die Musik der Zukunft" (Skug), Thomas Fehlmanns Album "Los Lagos" (taz) und neue Popveröffentlichungen, darunter "Hunter" von Anna Calvi (SZ)
Archiv: Musik