Efeu - Die Kulturrundschau

Der Puls im Innern

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02.04.2019. Die Jelinek-Verfilmung "Kinder der Toten" des Nature Theater of Oklahoma lässt Clemens Setz im Standard vor Glück taumeln. Die SZ lernt im Neuen Frankfurt, das Alte, Erstarrte hinter sich zu lassen. Die FR erlebt in Franz Schrekers Oper "Der ferne Klang" Nerven aus Stahl. Die NZZ sucht den Eingang ins Schweizer Zollfreilager. Die taz bewundert die Musikalität in den Bildern Jack Whittens.  Und das CrimeMag huldigt der komischen Literatur des Chester Himes.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.04.2019 finden Sie hier

Film

Punk und Jelinek in den Alpen: "Die Kinder der Toten"
Völlig aufgelöst berichtet der Schriftsteller Clemens J. Setz im Standard von seinem Filmerlebnis mit "Die Kinder der Toten", einer losen Super8-Adaption von Elfriede Jelineks gleichnamigem Roman, die bereits auf der Berlinale für einige glückselige Irritationen gesorgt hat. Verantwortlich dafür zeichnet das Nature Theater of Oklahoma. "Nach dem Ende dieses Films fühlte ich mich durchgespielt wie ein Computerspiellevel. Ich glaube, ich habe in meinem Leben noch nie etwas so Irres gesehen. Etwas so Narrisches. ... Mein Dauergedanke beim Schauen war: Punk. Denn ich hatte schon ganz vergessen, wie sich Punk anfühlt, seine Blütezeiten sind bekanntlich vorbei. Selbst die Zwischentitel, die nach alter Stummfilmmanier Dialoge und Handlungsbeschreibungen liefern, erinnern in ihrer poetisch verdichteten Strenge an die Strophen von Punksongs." Und: "Wo gibt es heute noch so nackte, mit Camp und Frechheit aufgeladene Punk-Kunst?"

Besprochen wird Robert Zemeckis' "Willkommen in Marwen" (SZ).
Archiv: Film

Architektur

Bruchfeldsiedlung, Donnersberger Straße. © Hermann Collischonn / DAM


Das Deutsche Architekturmuseum erinnert mit der Ausstellung "Neuer Mensch, neue Wohnung" an das Neue Frankfurt, und Laura Weißmüller findet in der SZ, dass sich die Stadt absolut zu Recht zu seiner eigenen Vision erklärte. Im Hochbauamt des Architekten Ernst May wurde für den neuen Menschen gebaut, im Kollektiv, zehntausend Wohnungen in zehn Jahren: Kindergärten, die nach maria Montessori das Kind in den Mittelpunkt stellten, Margarete Schütte-Lihotzkys Frankfurter Küche, in der die neue Frau mit ihrem Bubikopf stand: "Dass nicht nur Schütte-Lihotzky, sondern alle Protagonisten des Neuen Frankfurt klare Vorstellungen davon hatten, wie die Menschen in ihren Entwürfen leben sollten, zeigt Ernst Mays Zitat von 1928: 'Für uns hat neues Bauen den neuen Menschen zur Voraussetzung, den Menschen, der entschlossen ist, das Alte, Erstarrte hinter sich zu lassen.' Bei Grete und Walter Dexel klingt das im selben Jahr sogar noch fordernder: 'Der Vergangenheit müssen wir den Kampf ansagen. Die Lebens- und Wohnsitten unserer Väter haben sich für uns erledigt.'"

Die Schweizer Zollfreilager waren einst extraterritoriales Gebiet, heute sind sie in Zürich und Basel zu Hotspots der Stadtentwicklung geworden. Schick geht es in diesen Arealen zu, meint Sabine von Fischer in der NZZ, aber betreten möchte man sie nicht. Fischer zufolge ist die Frage der Grenze nicht bedacht geworden. Es gibt keine Übergänge: "Das Leben im Basler Freilager pulsiert vor allem dank jenen, die ohnehin schon drinnen sind. Wer sich sonst hierher verirrt? Einzelne, die eine Ausstellung im HeK, im Haus der elektronischen Künste Basel, sehen möchten. Sonst wenige, denn an den Rändern ist der Puls im Innern nicht ablesbar. Möchte man böse sein, könnte man sagen: Der Kontextbezug beschränkt sich in Zürich wie in Basel auf Parkplätze und Verkehr." Vor Jean Nouvels neuem Nationalmuseum von Qatar macht sich Stefan Trinks in der FAZ Gedanken über nationale und metaphorische Architektur.

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Design

Staunend schreitet taz-Kritikerin Annabelle Hirsch durch die Helena Rubinstein gewidmete Ausstellung im Pariser Musée d'art et d'histoire du judaisme, bei der sie die Kosmetikunternehmerin und Gründerin eines weitreichenden Beautyimperiums als resolut pragmatische Frau kennenlernt: "Man hat die Geschichte dieser Frau, die 1872 als Chaja Rubinstein im jüdischen Viertel von Krakau in eine bescheidene Familie geboren wurde und fünfundneunzig Jahre später als eine der reichsten Frauen der Welt in New York starb, erstaunlicherweise kaum auf dem Schirm. ... Rubinstein wird ein Pfeiler des Paris der Jahrhundertwende: In ihrem prachtvollen Haus, das man in der Schau in schwarz-weißen Video-Ausschnitten besucht, gehen Schriftsteller und Künstler ein und aus. Hemingway, Joyce, Man Ray, Marc Chagall werden Freunde, Raoul Dufy, Salvador Dalí, Marie Laurencin und viele weitere malen ihr Porträt."

Weiteres: Für die taz wirft Donna Schons einen Blick auf die Shortlist des LVMH-Preises: "Gemein ist den meisten Nominierten eine nachhaltige Praxis. " Das ZeitMagazin bringt eine Strecke von der China Fashion Week.
Archiv: Design

Literatur

In der neuen Ausgabe des CrimeMag porträtiert Thomas Wörtche in einem "milde redigierten" Vortrag von epischen Ausmaßen den Kriminalschriftsteller Chester Himes, der "das Leben eines Schwarzen in einer rassistischen Gesellschaft wie der amerikanischen als absurd verstand. Um aus dieser lebensweltlichen Absurdität Literatur zu machen, hat er die Absurdität forciert. Zwischen sich und seine Texte schiebt sich der 'Unernst der Betrachtung'. Mit dem hat er blutig ernst gemacht." Seine Romane "sind komische Literatur. In dem Sinn, in dem seit Rabelais, Cervantes bis Kafka und Musil komische Literatur nicht bratzwitzisch sein muss. ... Himes ist einer der seltenen Schriftsteller, die aus Intuition, Instinkt, Kreativität, Sensibilität, literarischer Intelligenz oder Genie (egal, welche 'Magien' man bemühen möchte) auf eine Methode gestoßen sind, aus erkannten und erlebten Realitäten Literatur zu formen. Und gleichzeitig mit dieser Methode eine Art 'Paradigmenwechsel' einzuleiten."

Weitere Artikel: Für die taz hat Paul Wrusch die Lit.Cologne besucht. Gregor Dotzauer wirft für den Tagesspiegel ein Blick in das Berliner Literaturmagazin Stadtsprachen. Thomas Ribi plädiert in der NZZ für Latein als Fremdsprache. Online von der FAZ nachgereicht, gratuliert der Schriftsteller Jaroslav Rudiš seinem Berufskollegen Milan Kundera zum 90. Geburtstag. In der FR gratuliert Arno Widmann. Alexandru Bulucz schreibt im Tagesspiegel zum Tod des Schriftstellers Dieter Schlesak. Peter Kultzen schreibt in der NZZ einen Nachruf auf den Schriftsteller Rafael Sánchez Ferlosio.

Besprochen werden unter anderem Annie Ernauxs "Der Platz" (NZZ), Natasha Staggs "Erhebungen" (Tagesspiegel), eine Bildband-Edition von James Baldwins Essay "The Fire Next Time" (CulturMag), Saša Stanišićs "Herkunft" (Berliner Zeitung), Virigine Despentes' "Vernon Subutex"-Trilogie (CulturMag), Antonio Ortuños "Die Verschwundenen" (CulturMag), Jan-Christoph Hauschilds Biografie "Das Phantom. Die fünf Leben des B. Traven" (CulturMag), A. G. Lombardos "Graffiti Palast" (CulturMag), Albrecht Selges "Fliegen" (Zeit), Marko Dinićs "Die guten Tage" (SZ) und Dacia Marainis "Drei Frauen" (FAZ).
Archiv: Literatur

Musik

Viel Freude hat ZeitOnline-Kritiker Daniel Gerhardt an Ebows Album "Kanak for Life", immerhin gilt die Rappern "als Hoffnungsträgerin einer im weitesten Sinne deutschsprachigen Rapmusik, die sich nicht an Feuilletonschreiber wendet, aber all das überwindet, was Feuilletonschreiber an im weitesten Sinne deutschsprachiger Rapmusik stört. Sie textet politisch korrekt und grammatisch unkorrekt über Frauenverachtung in ihrer Szene und Fremdenverachtung in ihrem Land." Ein aktuelles Video:



In der SZ-Retrokolumne stellt Jonathan Fischer Veröffentlichungen aus dem Werk Andre Williams' vor, der vergangene Woche gestorben ist: Dessen Singles aus den 50ern "gehören zwischen derangiertem Doo-Wop und schlüpfrigem Blues zum Wildesten, was jemals auf Vinyl gepresst wurde. Souverän über einen Beat bramarbasieren, in lakonischem Bariton von Keksen, Pussies und Schweineschnauzen palavern - das konnte er wie kein anderer."

Weitere Artikel: Michael Jäger berichtet im Freitag von zwei Abenden bei der Berliner Maerzmusik, die von Olga Neuwirth geprägt wurden. Im Tagesspiegel plaudert Jenni Zylka mit Terry Hall von den Specials. Frederik Hanssen gratuliert im Tagesspiegel Christian Thielemann zum gestern gefeierten 60. Geburtstag. Hannes Hintermeier hat für die FAZ die Jazzwoche in Burghausen besucht.

Besprochen werden Connie Constances Debüt "English Rose" (Pitchfork), Marvin Gayes "You're the Man" (Tagesspiegel, mehr dazu hier), der Düsseldorfer Auftakt von Bob Dylans Europatournee (Presse), ein Beethoven-Abend mit Igor Levit (SZ) und der Berliner Auftritt von Die Heiterkeit (FAZ).
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Kunst

Jack Whitten: Sweet Little Angel, For B.B. King, 2015. © Courtesy the Jack Whitten Estate and Hauser & Wirth. Foto: John Berens

taz
-Kritikerin Lorina Speder freut sich sehr, im Hamburger Bahnhof in Berlin die erste Schau des afroamerikanischen Künstlers Jack Whitten in Europa zu sehen. Der im vorigen Jahr gestorbene Whitten war in Alabama aufgewachsen, seine Kunst vom amerikanischen Süden geprägt: "Es waren Personen, mit denen sich Whitten verbunden fühlte. Die Hommage an B. B. King entstand 2015, also in dem Jahr, in dem der Musiker starb. Dort schlängelt sich auf pechschwarzem Untergrund eine Farbspur, die durch die vielen Farben an Lebendigkeit zunimmt. Wie ein einziger Ton von B. B. King, der Akkorde stets vermied und mit seinen Solo-Einlagen die Blues-Welt prägte, besticht das Gemälde durch die Einfachheit und Exaktheit. Whitten schaffte es so, B.B. Kings Musikalität und Geist einzufangen. Das allein demonstriert seine künstlerische Größe."

Weiteres: Auch die taz leistet es sich, ihre Kunstkritikerin zur Art Basel Hongkong reisen zu lassen: Brigitte Werneburg kommt dort auf den Gedanken, dass der neue Erfolg von Frauen zeige, dass Kunst nicht nur Markt ist. Besprochen werden die Schau "Nacktheit in der Renaissance" in der Royal Academy in London (Tsp) und die Ausstellung "48 h Blackpool" der Berliner Fotografin Benita Suchodrev im Willy-Brandt-Haus (Berliner Zeitung).
Archiv: Kunst

Bühne

Franz Schrekers "Ferner Klang" an der Oper Frankfurt. Foto: Barbara Aumüller

Dass Franz Schreker von den Spielplänen deutscher Opern verschwunden ist, hält FR-Kritikerin Judith von Sternburg für eine Schande - und für den leider anhaltenden Erfolg nationalsozialistischer Diffamierung. Umso mehr freut sie sich, dass die Oper Frankfurt nun sein Werk "Der ferne Klang" auf die Bühne gebracht hat, das von einem glücklosen  Opernkomponisten erzählt: "Mit immenser Sorgfalt entfalten Sebastian Weigle und das Orchester mit strahlenden Solisten auch die raffinierten Gleichzeitigkeiten der verwickelten Ensembleszenen. Schreker glüht dabei vor Ehrgeiz, die Frankfurter aber zeigen Nerven wie Stahl und lassen hundert Details hören und dazu Dutzende Stimmen, mit immer eigenen Farben: ein kleines Fest der menschlichen Stimme." In der FAZ ist Jan Brachmann inhaltlich nicht ganz von der Oper überzeugt, ist aber musikalisch von ihrer Poesie bezaubert.

Besprochen werden Manfred Trojahns Oper "Orest" an der Wiener Staatsoper (in der Standard-Kritiker Ljubiša Tošić geradezu vulkanische Eruptionen erlebte), das Festival Tanzmainz (FR), Anne Lenks Inszenierung von Molieres "Menschenfeind" mit einem radikalmisanthropischen Ulrich Matthes am Deutschen Theater in Berlin (SZ), Tina Engels Aufführung von Flavia Costes Komödie "Nein zum Geld" am Renaissance-Theater in Berlin (Tsp) und Pinar Karabuluts Inszenierung von Tennessee Williams' "Endstation Sehnsucht" am Volkstheater in Wien (FAZ).
Archiv: Bühne