Efeu - Die Kulturrundschau

Hase, da glitzert ja gar nichts!

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20.08.2019. Die New York Times feiert die Wiederentdeckung der Malerin Lee Krasner, die stets im Schatten ihren Mannes Jackson Pollock stand, aber nun in London und Frankfurt große Retrospektiven bekommt. Die SZ riskiert freudig Netzhautflimmern in einer Bridget-Riley-Ausstellung in Edinburgh. Artechock hält vom diesjährigen Locarno-Festival gar nichts, sondern erkennt auf cinephile Gerontokratie. Der Freitag bemerkt zu #dichterdran: In Pose geworfen sei heute jede Autorschaft, egal welchen Geschlechts. Und die Welt stürzt sich todesmutig in die Salzburger Gesellschaft.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.08.2019 finden Sie hier

Kunst

Lee Krasner: Desert Moon, 1955. Los Angeles County Museum of Art. © The Pollock-Krasner Foundation /The Barbican Gallery


Die Malerin Lee Krasner wurde durchaus auch schon zu Lebzeiten gewürdigt, betont Jason Farago in der New York Times, sie bekam Ausstellungen und Retrospektiven. Aber so umfassend wie jetzt in der Barbican Art Gallery in London und ab Oktober in der Frankfurter Schirn Kunsthalle wurde ihr Werk noch nie gezeigt: "Tough, gewissenhaft und todernst, wenn es um die Kunstgeschichte, war Krasner wahrscheinlich die intelligenteste all der MalerInnen, die in den vierziger Jahren die Welt davon überzeugten, dass New York Paris als Epizentrum der modernen Kunst abgelöst hat. Diese Intelligenz zeigte sich in einer Kunst, die wie eine Flipperkugel durch Stile und Medien jagte, von festgefügten Collagen bis zu großen Abstraktionen von Matisse'schem Reichtum. Ihre Intelligenz reichte aber nicht, um ihr den Ruhm amerikanischer Malerei zu sichern, und es konnte sogar hinderlich sein für eine Frau in der machistischsten Ära der amerikanischen Kunst. Krasner erhielt, bis sie sechzig wurde, wenig Aufmerksamkeit von Museen, und sie konnte selten aus dem Schatten Jackson Pollocks heraustreten, mit dem sie von 1945 bis zu seinem frühen Tod 1956 verheiratet war."

Bridget Riley: Chant 2, 1967. © Bridget Riley / Scottish National Gallery


Mitunter musste SZ-Kritiker Alexander Menden die Augen schließen, um Bridget Rileys Bilder in der Scottish National Gallery in Edinburgh ertragen zu können, doch dann konnte er auch wieder gar nicht aufhören, ihre höchst präzisen Bilder zu erforschen. Kaum eine Kunst vermag es so sehr, dem Betrachter seine körperliche Interaktion mit dem Werk bewusst zu machen, wie die Bridget Rileys. Ihre Bilder sind keine Tapeten, kein Hintergrundrauschen. Sie verlangen Aufmerksamkeit. Ihr neurologischer Effekt macht sie im bestmöglichen Sinne ungemütlich, weil sie ihr Nachbild eben nicht nur allein auf der Netzhaut, sondern im gesamten Realitätsempfinden hinterlassen. Dabei muss man nichts tun, nichts nachvollziehen, nichts "verstehen". Man muss nur die Augen öffnen, solange es geht.

Besprochen werden Kandidatenschau zum Preis der Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof (FR), eine Ausstellung zur Wagenfeld-Leuchte, dem "It-Piece moderner Raumkultur", im Bremer Wilhelm Wagenfeld Haus (taz), eine Schau mit den mittelalterlichen Schätzen aus der Leonhardskirche im Frankfurter Dommuseum (FAZ).

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Bühne

Salzburg satt. Welt-Kritiker Manuel Brug hat sich ein ganzes Wochenende gegeben, mit fünf Vorstellungen, Essen mit dem Plattenchef und jede Menge Marillenknödel. Zum Glück hatte er noch Zeit für ein bisschen gehobene Gesellschaft: "Eine Geburtstagsfeier am Wallersee: "Die Jubilarin kam schon mit ihren Eltern zu den Festspielen, Bayreuth und Salzburg, das ist ihr Sommerurlaub. Man hat schon Barrie Koskys schweinigelnde 'Orpheus in der Unterwelt'-Inszenierung gesehen, kichert immer noch über die vielen strassbesetzten (der Sponsor war not amused) Pimmel. Die Gastgeberin, ganz Dame, kichert: 'Als mein Mann heute aus der Dusche kam, sagte ich nur: Hase, da glitzert ja gar nichts!' Daneben sitzt die Protokollchefin der Festspiele, lächelt und schweigt, eines der heißesten, ungeschriebenen Bücher der Republik im Kopf."

Weiteres: Valeria Heintges berichtet in der Nachtkritik vom Zürcher Theater Spektakel, bei dem Intendant Matthias von Hartz "genreübergreifend und großzügig" Welten aufeinander krachen lässt. Im Tagesspiegel berichtet Sandran Luzina vom Streit um die Entlassung der Wuppertaler Tanztheater-Intendantin Adolphe Binder, der jetzt gerichtlich in die zweite Runde geht. Tagesspiegel-Kritikerin Elisabeth Nering blickt von Berlin aus neidisch zum Movimentos-Tanzfestival nach Wolfsburg.

Besprochen werden Heiner Müllers kurzes "Herzstück" im Maxim-Gorki-Theater (taz, Berliner Zeitung), Theresia Walsers Boulevardkomödie "Die Empörten" bei den Salzburger Festspielen (FR, Standard, Nachtkritik), Kornél Mundruczós Molnár-Inszenierung "Liliom" (FAZ) und Barrie Koskys Inszenierung von Offenbachs "Orfeus in der Unterwelt" in Salzburg (NMZ).
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Architektur

Brüssels einst imposanter Justizpalast ist marode, meldet Karoline Meta Beisel in der SZ, die Decken stürzen ein, die Wände bröckeln, Wasser und Schimmel breiten sich aus. Seit vier Jahren ist das Gebäude eingerüstet, bauarbeiten kamen nicht voran, weil die Baupläne von Architekt Joseph Poelaert verschollen waren: "Bis jetzt: Wie die belgische Tageszeitung Le Soir berichtet, haben Studenten der Freien Universität Brüssel die Pläne bei Recherchen für ihre Masterarbeit wiedergefunden. 30 Kisten mit von Poelaert unterzeichneten Grundrissen, Zeichnungen und Notizen hätten die Studenten in den Kellern der königlichen Archive aufgestöbert. Bis dahin hatte man geglaubt, die Pläne seien im Jahr 1944 verbrannt, als die Nazis die Kuppel des Justizpalastes in Brand steckten."
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Literatur

Durchaus schon Spaß hat Freitag-Literaturchef Mladen Gladić an der Twitter-Aktion #dichterdran, bei der Autorinnen den Spieß umdrehen und über ihre männlichen Kollegen so schreiben, wie oft über sie selber geschrieben wird: nämlich anhand von Äußerlichkeiten. Allerdings erinnert Gladić auch daran, dass es schon auch eine Bewandnis damit hat, warum - dies war der Stein des Anstoßes - Martin Ebel über Sally Rooney geschrieben hatte, sie sehe aus "wie ein aufgeschrecktes Reh mit sinnlichen Lippen": "In Pose geworfen ist Autorschaft heute grundsätzlich, egal, welchen Geschlechts. Dafür sorgen die Marketingabteilungen der Verlage. Autorinnen und Autoren machen mit: ein Takis Würger, der verstrubbelt und rehäugig (ja!) in Karojacke eine Vitalität ausstrahlt, die jedem Shitstorm das Wasser reichen kann, ein verträumter Simon Strauß, dessen Antlitz sich nur so weit verfremdet auf den Schutzumschlägen seiner Bücher findet, um zum Gesicht seiner Figuren zu werden, eine Katerina Poladjan, deren Bild im Katalog die Frage stellt, ob das Löwen sein könnten in dem Dickicht hinter ihr. Wenige konnten sich entziehen. Salinger eben, Pynchon, von dem nur Jugendfotos existieren, Ferrante, die ohne Gesicht bleibt."

Im Tagesspiegel erinnert Gerrit Bartels daran, dass es Siegfried Lenz' Roman "Deutschstunde" war und "nicht zuletzt sein überwältigender Erfolg gerade international sowie der Ruf des lauteren, moralisch untadeligen Schriftstellers", die "den Antisemiten und Nazi Emil Nolde lange Zeit geradezu sakrosankt machten" - umso verwunderlicher findet es Bartels, dass auch bei der jüngsten Neuausgabe darüber kein Wort seitens des Verlags verloren wurde. "Der neue Film kommt nun Anfang Oktober in die Kinos. Man kann davon ausgehen, dass der von Tobias Moretti gespielte Maler abermals eine von antisemitischem Gedankengut und vom Nazismus freie, sich dem Polizisten Jepsen hartnäckig widersetzende Figur ist."

Weitere Artikel: Auch der Lyriker Jan Wagner ist vor Magnus Klaue und dessen "Lahme Literaten"-Kolumne in der Jungle World nicht sicher. Mit Hemingway und Nabokov im Gepäck zieht es Tagesspiegel-Autor Marius Buhl in den Wald. Für die FAZ plaudert Axel Weidemann ausführlich mit dem Science-Fiction- und Fantasy-Autor George R.R. Martin, der die literarische Vorlage zur Serie "Game of Thrones" geschaffen hat.

Besprochen werden unter anderem David Wagners "Der vergessliche Riese" (taz, Dlf Kultur hat mit dem Autor gesprochen), Andreas Maiers "Die Familie" (online nachgereicht von der FAZ), Michael Martens' Biografie über den Literaturnobelpreisträger Ivo Andric (FR), Max Annas' Krimi "Morduntersuchungskommission" (Standard), zwei postume Veröffentlichungen der schwedischen Autoren Tomas Tranströmer und Lars Gustafsson (NZZ), eine Ausgabe von Gerhard Fritschs Tagebüchern (SZ) und Ulrike Draesners "Kanalschwimmer" (FAZ).
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Film

Auch Artechock-Kritiker Rüdiger Suchsland ist in Locarno gewesen, zieht anders als seine Kolleginnen und Kollegen (unser Resümee) allerdings kein allzu begeistertes Fazit: Einst war Locarno ein Jungbrunnen des internationalen Kinos, wo die aufregenden Talente von Morgen zu entdecken waren, heute ist das Festival - wie weite Teile des Festivalbetriebs - fest im Griff einer cinephilen Gerontokratie, was sich für Suchslans auch in der Auszeichnung Pedro Costas zeigt: "Welchen Sinn macht es, in einem Festival, das immer eines des Nachwuchses, der Jugend und der Entdeckungen gewesen ist, einen Regisseur auszuzeichnen, der über 60 Jahre alt ist, der eher am Ende seiner Karriere steht? Und einen Film, der allenfalls für ein Nischenpublikum und das Festival-Stammpublikum der immer gleichen hundert Kuratoren, Einkäufer, TV-Redakteure und Filmkritiker attraktiv ist, das breite Publikum aber sehr bewusst ausschließt? ... Die beschriebene Entwicklung spiegelt im Übrigen die auch ansonsten spürbare Überalterung des Autorenkinos wie auch dessen zunehmendes stilistisches Auf-der-Stelle-treten. Seit 15 Jahren gibt es kaum noch wirkliche ästhetische Innovationen im Kino."
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Musik

Die antisemitische BDS-Kampagne hat sich nun die drei Musikclubs Golden Pudel (Hamburg), Conne Island (Leipzig) und ://about blank (Berlin) herausgepickt, die man nicht mehr aufsuchen solle, da diese der Hetze des BDS keine Bühne geben wollen, meldet Julian Weber in der taz: "Golden Pudel, Conne Island und ://about blank als 'repressive Orte' zu bezeichnen, das ist schon drollig, mindestens aber hilflos. ... Die nun vom Boykott betroffenen Clubs reagieren gelassen auf ihre 'schändliche Komplizenschaft' (BDS) mit Israel."

Weiteres: In der Welt berichtet Manuel Brug von seinem Festivalmarathon der letzten Wochen, von dem er detailliert auch in seinem Blog berichtete. Für die SZ porträtiert Peter Münch den bosnischen Sänger Božo Vrećo, der als bärtiger Mann in Frauenkleidern traditionelle Lieder zwischen Tenor und Sopran singt. Ein Video:



Besprochen werden das neue, von St. Vincent produzierte Album von Sleater-Kinney (Pitchfork), Igor Levits Konzert beim Rheingau Festival (FR) und neue Klassikveröffentlichungen, darunter eine CD des SWR Vokal Ensembles mit moderner Chormusik aus Japan (SZ).
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