Efeu - Die Kulturrundschau

Von Wahnsinn dagegen keine Spur

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19.08.2019. Das Filmfestival von Locarno ist mit dem Goldenen Leoparden für Pedro Costas "Vitalina Varela" zu Ende gegangen. FR und Tagesspiegel sind begeistert von dem Film. Verstört beobachtet die Nachtkritik in Kornel Mundruczós Salzburger "Liliom", wie großartige Frauen ihre Demütigung runterschlucken. Die taz begibt sich mit Pauline Curnier Jardin in einen gebärmutterroten Dschungel.  Und große Trauer herrscht in den Feuilletons um Easy Rider Peter Fonda, der schon in den Sechzigern an die Berliner Mauer pinkelte
9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.08.2019 finden Sie hier

Film

Obercool: Peter Fonda in "Eays Rider"

Große Trauer um Peter Fonda, der gemeinsam mit Dennis Hopper in "Easy Rider" dem klassischen Hollywoodfilm den Todesstoß versetzte und New Hollywood kassentauglich machte. In Low-Budget-Bikerfilmen hatte Fonda zwar früher schon gespielt, erzählt David Steinitz in der SZ, doch dieser hier war anders: Denn Fonda hatte im Vorfeld "beschlossen, dass er vielleicht am ehesten eine Chance haben würde, ein echter Filmstar zu werden, wenn er aus dem alten amerikanischen Kino seines Vaters, den B-Picture-Orgien seiner Generation und dem Autorenfilmer-Spirit der Europäer jeweils das Beste mitnahm und es zu einem neuen Filmcocktail zusammenrührte. ... Viele Kritiker prophezeiten damals dem charismatischeren Peter Fonda die größere Karriere, mindestens in der Kategorie eines Clint Eastwood, vielleicht sogar des unerreichten James Dean. Aber erstaunlicherweise hat Fonda an den Erfolg von 'Easy Rider' nie wieder in dieser Form anknüpfen können." Fonda verlieh einer ganzen Generation ihr Gesicht, schreibt Freddy Langer in der FAZ: "kantig, mit stechendem Blick, abgeklärt, dennoch offen für Drogen aller Art."

Ein Rebell also - aber "was heißt schon Rebell", ruft Andreas Conrad im Tagesspiegel: Der von Fonda in "Easy Rider" verkörperte Biker Captain America "war keiner, der mit gereckter Faust und flatterndem Transparent gegen das Establishment aufbegehrte, sondern rebellisch einfach durch seinen Lebensstil. Kein Handelnder, sondern ein beiläufig Beobachtender, dabei obercool schon durch die auf Bike und Klamotten verteilten 'Stars and Stripes'-Insignien." In echt neigte Fonda vielleicht schon eher zur Aktion: Von Harry Nutt erfahren wir in der Berliner Zeitung, dass Fonda in den 60ern empört an die Berliner Mauer gepinkelt haben soll: "Noch ehe die verblüfften Grenzbeamten wussten, wie sie darauf reagieren sollte, habe er gesagt: 'Ich fahre jetzt dadurch, Ihr könnt mich ja erschießen.' Diese trotzige Unangepasstheit war einerseits Protest und Pose mit der Bereitschaft zum Risiko." In der NZZ kommt Urs Bühler auf Fondas Verhältnis zur Stadt Zürich zu sprechen. Weitere Nachrufe schreiben René Hamann (taz), Daniel Kothenschulte (FR) und Jan Küveler (Welt).

Pedro Costas "Vitalina Varela"

Mit einem Goldenen Leoparden für Pedro Costas "Vitalina Varela" ist am Wochenende das für seinen cinephilen Spürsinn und Wagemut bekannte Festival in Locarno zu Ende gegangen - der erste Jahrgang unter der neuen Leiterin Lili Hinstin, nachdem Carlo Chatrian zur Berlinale gewechselt ist. Auch dieser Jahrgang zeichnete sich durch "eine fast schon eklektische, heterogene Bandbreite" aus, schreibt Michael Ranze in seinem FAZ-Resümee, von produktiv "irritierten Sehgewohnheiten" spricht Dominik Kamalzadeh in der taz und kommt auch auf den Gewinnerfilm ausführlich zu sprechen: "Der portugiesische Regisseur setzt seine unnachahmliche Exkursion in die urbanen Slums kapverdischer Einwanderer in Lissabon fort. ... Jedes einzelne der von Costas aus dem Schatten kunstvoll ausgeleuchteten Bilder ist exquisit. Mit Vitalina, die nach dem Tod ihres Mannes bloßfüßig aus dem Flugzeug tritt, kommt er auf eine frühere Erzählung aus 'Horse Money' zurück. Ihr Gesicht bleibt der emotionale Bezugspunkt für das gespenstische Treiben. Trotz ihrer Empörung, ihres Schmerzes, mit denen sie die desolaten Räume ihres Mannes betrachtet, bleibt sie auf einen würdevollen Abschied konzentriert. Costas Kino will uns auf die Seite dieser zu spät gekommenen Richterin ziehen."

Für absolut berechtigt hält auch Tagesspiegel-Kritikerin Anke Leweke die Auszeichnung von Costas Schauspielerin Vitalina Varela, die dem Film und dessen Hauptfigur ihren echten Namen geliehen hat. FR-Kritiker Daniel Kothenschulte ist ebenfalls hin und weg: Costas Film "war der überragende Film bei diesem Festival, ein Kunstwerk, das jeden Rahmen sprengt und doch keinen Augenblick in seiner Konzentration nachlässt. ... Der würdige Gewinner krönte eine denkwürdige Festivalausgabe, mit der sich die neue Leiterin Lili Hinstin auf einen Schlag etabliert hat. Der Blick über den Tellerrand des Eurozentrismus prägte alle Programme." Stimmungsbilder vom ausklingenden Festival hält NZZ-Kritiker Urs Bühler fest.

Weiteres: Im frisch gegründeten Weird-Magazin berichtet Frank Castenholz von Terza Visione, dem Frankfurter Festival zum italienischen Genrefilm (unser Vorabbericht hier). Nicolas Freund meldet in der SZ, dass es nach unzähligen Filmen mit Marvel-Superhelden nun auch endlich via Spotify abrufbare Hörspiele mit Marvel-Superhelden gibt. Besprochen wird die zweite Staffel der Anthologie-Serie "The Terror" (taz).
Archiv: Film

Bühne

Kornél Mundruczós "Liliom": Julie und Luise lassen den armen Mann nach ihrer Pfeife tanzen. © Salzburger Festspiele / Matthias Horn

Kornél Mundruczó
hat für die Salzburger Festspielen Franz Molnárs Sozialmärchen "Liliom" vom prügelnden Rummelplatz-Stenz in die feministische Gegenwart verlegt. Gabi Hift fragt sich in der Nachtkritik, ob das überhapt gutgehen kann: "Ein rührendes Melodram über einen Mann, der seine schwangere Frau schlägt?" Irrwitzig findet sie wie immer bei Mundruczó den Genresprung, am Ende ist sie bewegt, irritiert, verärgert. Nur: "Die Frauen sind alle großartig. Maja Schöne ist als Julie stark und dickköpfig und es rührt, wie sie sich sehenden Auges direkt in den Abgrund hineingevögelt hat und sich selbst so gar nicht böse dafür ist. Oda Thormeyer erschafft als Frau Muskat eine wirklich große Tragödinnenfigur, die ganz unvermittelt in urkomische Scheiß-drauf-ich-brüll-jetzt-einfach-mal-kurz-wie-ein-Vieh-auf-der-Schlachtbank-Ausbrüche verfällt, sich wieder fängt, und ihre Demütigung mit einer Grandezza runterschluckt, dass es einem das Herz zerreißt." Für FR-Kritikerin Judith von Sternburg kam die Inszenierung einem Bummel über den Jahrmarkt gleich: viel los, aber kaum etwas neu. Im Standard spürte Margarete Affenzeller zwar den "tragischen Glutkern" des Stückes, aber auch ein zynisches Moment in der Inszenierung: "MeToo-Verulkung? Die ist leider missraten."

Die Leiter des Wolfsburger Movimentos-Tanzfestival, Bernd Kauffmann und Jürgen Wilcke, sind länger im Amt als Angela Merkel, stellt Dorion Weickmann in der SZ fest und sieht allmählich einige Ermüdungserscheinungen. Gerade die hochgehandelten Aufführungen enttäuschten sie, etwa avon Edouard Lock und der São Paulo Dance Company oder das L.A. Dance Project: "Die 'Movimentos' haben ihr Publikum viele Jahre mit Kunst verzaubert und irritiert. Sie sind einzigartig in der norddeutschen Kulturlandschaft und ein Aushängeschild von VW. Dass es 2019 ästhetisch kriselte, ist eine Chance - für die Macher wie für den Mäzen. Sie müssen das Festival zum Teil neu erfinden und dafür auch den einjährigen Planungshorizont entschieden erweitern."

Enttäuscht muss auch taz-Kritikerin Astrid Kaminski zur Halbzeit des Tanz im August in Berlin gestehen, dass bei allem Respekt für Deborah Hays die Werkschau der Choreografin eitel und langweilig gerät. Im Tagesspiegel berichtet Sandra Luzina.

Besprochen werden Heiner Müllers Vierzehnzeiler "Herzstück", den Sebastian Nübling zum Saisonauftakt am Maxim-Gorki-Theater als "Loblied auf die Arbeitsverweigerung" inszeniert (Nachtkritik, Tsp, Berliner Zeitung) Jérôme Bels beim Festival "Tanz im August" uraufgeführte, "wunderschöne" Choreografie "Isadora Duncan" (FAZ), Verdis "Simon Boccanegra" in Salburg (Valery Gergiev musikalische Leitung lässt Jürgen Kesting durchgehen, aber Andreas Kriegenburgs Regie nennt er ein Desaster).
Archiv: Bühne

Kunst

Pauline Curnier Jardin: Peaux de Dame in the Hot Flashes Forest, 2019. © Nationalgalerie - Staatliche Museen zu Berlin, Foto: Mathias Völzke

Für die taz besichtigt Beate Scheder die Arbeiten, mit denen sich die für den Preis der Nationalgalerie Nominierten im Hamburger Bahnhof präsentieren. Überzeugen kann sie eigentlich nur Pauline Curnier Jardin: "Von dieser stammt der eindringlichste, eigenwilligste Part der Ausstellung, in dem sie sich wie die anderen einem sehr spezifischen Thema unserer Zeit widmet, jedoch einem bislang auch in der Kunst erstaunlich vernachlässigten, der sexuellen Energie älterer Frauen nämlich. Zunächst führt sie einen durch einen gebärmutterroten Dschungel, in dem schlappe Vinylkörper herumliegen, wie Gummipuppen, ausgesonderte Erotikobjekte. 'Damenhäute im Wald der Hitzewallungen', so der Titel der Arbeit in deutscher Übersetzung, könnte als Prolog zu Curnier Jardins neuestem Film 'Qu'un Sang Impur' verstanden werden."

Besprochen wird die Ausstellung "Schwarzwald-Geschichten" im Freiburger Augustinermuseum (FAZ).
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Literatur

Die Presse spricht mit Schriftsteller Roberto Saviano, dessen Roman "Paranza" über Mafiakinder jetzt in die Kinos kommt (unsere Kritik hier). Auch der Freitag spricht mit der venezolanischen Schriftstellerin Karina Sainz Borgo über deren Debüt "Nacht in Caracas", das die Zustände in ihrer Heimat anprangert (ein erstes Gesprächsresümee hier, auch die taz sprach mit der Autorin). Der Standard bringt einen Vorabdruck aus David Wagners Buch "Der vergessliche Riese", in dem der Autor sich mit der Demenzerkrankung seines Vaters auseinandersetzt.

Besprochen werden unter anderem die Neuauflagen von Richard Wrights "Sohn dieses Landes" und Ralph Ellisons "Der unsichtbare Mann" (NZZ), Brigitte Kronauers ""Das Schöne, Schäbige, Schwankende" (SZ), Angela Lehners "Vater Unser" (online nachgereicht von der FAZ), Marlene Streeruwitz' "Flammenwand" (online nachgereicht von der FAZ), R. O. Kwons "Die Brandstifter" (Presse), Karen Köhlers "Miroloi" (Tagesspiegel), Claudio Magris' "Schnappschüsse" (Standard), Joey Goebels "Irgendwann wird es gut" (Welt) und neue Hörbücher, darunter Leonhard Koppelmanns Hörspielinszenierung von Mary Shelleys "Frankenstein" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Nico Bleutge über Pia Tafdrups "Magische Aussicht"

"- Sieh, das Wasser,
sagt mein Vater und wirft einen Blick
über die roten Dächer der Stadt.
..."
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Musik

An den Auftakt des Lucerne Festivals hat Festivalleiter Riccardo Chailly mit Rachmaninows drittem Klavierkonzert in d-Moll op. 30 ein nicht ganz unumstrittenes Werk gesetzt, dessen "kreislerhaft-dämonischen Ruf" den russischen Pianisten Denis Matsuev allerdings wenig beeindruckte, berichtet Christian Wildhagen in der NZZ: Er bot zwar eine "fast makellose Darstellung des horrend anspruchsvollen Soloparts - von Wahnsinn dagegen keine Spur. Dabei könnte 'Rach 3' durchaus etwas Dämonie vertragen", doch die "Interaktion mit dem Orchester" will "bei der überspannten Aufführung am Freitag" nicht gelingen: "Die 'Machtverteilung' zwischen Chailly und Matsuev scheint bis zum Schluss nicht recht geklärt, erst in der rauschhaft-grandiosen Apotheose des Finalsatzes atmet man wirklich im selben Takt. Auf dem Weg dahin steht Matsuev dynamisch zeitweilig mächtig unter Druck, weil auch Chailly den opaken Orchestersatz nicht ausreichend aufzulichten vermag. Dadurch wird sein Anschlag hart, fast stählern, verliert alle Farbe."

Weiteres: Beim Frequency-Festival in St. Pölten hatte Standard-Kritikerin Amira Ben Saoud wenig Freude. Besprochen werden das Konzert des London Symphony Orchestras unter Simon Rattle beim Rheingau Festival (FR), ein Konzert von Daniel Barenboims West-Eastern Divan Orchestras in Berlin (Tagesspiegel), der Auftakt des Grafenegg Festivals (Standard) und der Wiener Auftritt von Metallica (Presse, Standard).

In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Martin Andris über Elton Johns "Tiny Dancer":

Archiv: Musik