Efeu - Die Kulturrundschau

Kleine Dienstwege

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.01.2020. taz und Tagesspiegel feiern die Wiedereröffnung von Schinkels Friedrichwerdersche Kirche, der Berlins Investoren um Haaresbreite das Fundament zertrümmert hätten. Der Guardian feiert mit dem Futuristen Tullio Crali Schnelligkeit und Schönheit. SZ und FAZ setzen sich nur mit Stahlhelm in Sam Mendes Schlachtenfilm "1917". Der Freitag erkundet die Filmszene Kubas. Und Pitchfork tanzt zu Radio Mogadishu.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.01.2020 finden Sie hier

Architektur

Friedrichwerdersche Kirche von Preußens oberstem Baumeister Karl Friedrich Schinkel. Foto: Staatliche Museen

Nach acht Jahren Reparatur wird wird die Friedrichwerdersche Kirche in Berlin wieder eröffnet, am Wochenende ist Tag der offenen Tür. In der taz erinnert Uwe Rada, dass es die ungebremste Spekulation war, die Schinkels einzigen Kirchenbau in der Stadt beinahe das Fundament weggerissen hätte - der Bau von Luxusapartments durch die Bauwert-Gruppe: "Fingerdicke Risse gingen damals bis zum Gewölbe, das einzustürzen drohte. Bei seinem Amtsantritt hatte der für den Denkmalschutz zuständige Kultursenator Klaus Lederer (Linke) von einer 'Vollkatastrophe' gesprochen, für die 'eine rücksichtslose Verkaufs- und Baugenehmigungspolitik' der Behörden verantwortlich gewesen sei. Zeitweilig stand sogar zu befürchten, dass die Schäden so groß sind, dass die Kirche dauerhaft geschlossen bleiben müsste. 'Ein Teil des Gebäudes hatte sich abgesenkt wie in einem Erdbebengebiet', sagt Ralph Gleis." Im Tagesspiegel freut sich Gunda Bartels über die Auferstehung der Ruine.
Archiv: Architektur

Film

Zwischen Entsetzen und Zuversicht: George McKay in "1917 (Universal Pictures / DreamWorks)

Der Kriegsfilm "1917", in dem der Filmemacher Sam Mendes aus Perspektive seines eigenen Großvaters, einem Front-Sprinter, vom Ersten Weltkrieg erzählt, ist insbesondere eine filmhandwerkliche Meisterleistung, erklärt David Steinitz in der SZ: Der Film tut so, als zeige er das Geschehen des Ersten Weltkriegs in einer nahtlosen Kameraeinstellung. Doch eine solche ästhetische Entscheidung "ergibt nur Sinn, wenn die Handlung ein möglichst atemloses Tempo hat. Nun hat aber der Erste Weltkrieg den dramaturgischen Nachteil, dass er ein Krieg des Stillstands war." Dem und einigen Logiklöchern zum Trotz gelinge Mendes und Kameramann Roger Deakins aber "großes Actionkino. ... '1917' ist eine extrem physische Erfahrung, man fühlt sich als Zuschauer, als bekäme man einen Stahlhelm aufgesetzt." Auch FAZ-Kritiker Andreas Kilb hält Kinoandacht im Schlachtengetümmel und lobt besonders den Schauspieler George MacKay: "Wer in Jacksons Dokumentation in die Gesichtszüge der Überlebenden des Grabenkriegs geblickt hat, möchte nicht glauben, dass man diese Mischung aus Entsetzen, Erschöpfung und verbissener Zuversicht vor einer Filmkamera nachstellen kann. MacKay ist es gelungen, und vielleicht liegt genau darin der Unterschied zwischen einem geglückten Experiment und einem großen Film." In epdFilm spricht der Regisseur über seinen Film.

Für den Freitag hat sich Andreas Knobloch in der unabhängigen kubanischen Filmszene umgehört, die seit September 2019 dank eines neuen Dekretes nun legal arbeiten kann. Zuvor waren diese Filmschaffenden lediglich geduldet, jetzt können sie "ein eigenes Firmenkonto eröffnen und von staatlichen und nicht staatlichen Institutionen angeheuert werden." Der Regisseur und Drehbuchautor Eduardo del Llano kommentiert die neue Lage allerdings mit spürbar zurückhaltendem Enthusiasmus: "Es ist eben ein Dekret und kein Gesetz und hat nicht dasselbe Gewicht. ... Man muss immer auch auf das Kleingedruckte schauen. Mal sehen, wozu es uns verpflichtet." Denn "in Kuba wie überall anders auch ist das eine, was im Gesetz steht, und das andere, was wirklich passiert. ... Hier sind wir daran gewöhnt, dass sich Gesetze in kleine Mängel, in kleine Dienstwege, in kleine Komplikationen verwandeln, sodass ich wenig davon erwarte."

Besprochen werden die BBC-Miniserie "Dracula" der "Sherlock"-Schöpfer Mark Gatiss und Steven Moffat (ZeitOnline), die HBO-Serie "Watchmen", die Alan Moores gleichnamigen Comicklassiker fortsetzt (NZZ), Grímur Hákonarsons "Milchkrieg in Dalsmynni" (Standard), die Amazon-Serie "Treadstone" (FAZ) und die neue Staffel der Animationsserie "Rick & Morty" (FAZ).
Archiv: Film

Kunst

Tullio Crali: Ali tricolori, 1932. Bild: Eastwick Collection

Im Guardian ist Laura Cummings hin und weg von der ersten Ausstellung des italienischen Futuristen Tullio Crali in London, in der Estorick Collection in London: "Cralis Gemälde von Autos, die durch Kurven rasen, sind raffinierter als die seiner Zeitgenossen. Der Wagen ist längst weg und hinterlässt nur noch den Anflug eines Reifens zwischen wunderbar geschwungenen Vektoren aus Schwarz, Rot und Creme, funkelnde Spuren seines schnellen Verschwindens. Und obwohl er dem Flugzeug als ultimativen Symbol des Futurismus ebenso ergeben war wie seine Kollegen, ist Cralis Aeropittura, wie er sie nannte, oft origineller. Auf dem grandiosen Bild 'Tricolour Wings' (1932) steigt ein Flugzeug in abrupten Stufen auf und zerteilt so den Himmel wie aufsteigende Gedankenblasen. Die Geometrie des Flugzeugs, wie in Stop-Motion wiederholt, beschreibt perfekt die Empfindungen eines plötzlichen Anstiegs und fängt jede neue thermische Strömung ein. Der Himmel drum herum ergibt eine gemalte Collage, die alles umfasst von den hyperrealen Wolken bis zur anmutigen Schönheit eines Tizians."

Künstlerisches Exil führt nicht zwangsläufig in mondäne Orte wie Pacific Palisades, meist ist es keine glamouröse Angelegenheit, sondern eine von Bescheidenheit und Solidarität, mahnt Brigitte Werneburg in der taz nach einem Besuch im Zentrum für verfolgte Künste in  Solingen: "Wenn hier nun vornehmlich Künstler und Künstlerinnen zu Hause sind, die vor ihrer Vertreibung keine Erfolgsschriftsteller oder Malerstars waren oder im Exil zu solchen wurden, heißt das nicht, dass in Solingen keine Entdeckungen zu machen wären. Und dabei geht es nicht einfach um Exilschicksale - das versteht sich von selbst -, sondern um herausragende Kunstwerke."

Weiteres: Auf Hyperallergic berichtet Hakim Bishara, dass 37 KünstlerInnen, die an der Golfkriegsausstellung "Theater of Operations" im PS1 in New York teilnehmen, das Mutterhaus Moma aufgefordert haben, sich von Treuhändern zu distanzieren, die ihr Geld mit privaten Gefängnissen, Söldnern oder Verteidigungsaufträgen verdienen (mehr zu Schau im New Yorker, mit der Peter Schjeldahl allerdings wenig anfangen konnte). In der SZ porträtiert Jonathan Fischer die Münchner Künstlerin Karina Smigla-Bobinski, die besonders gern große Installationen schafft, weil der Kunstmarkt nichts mit ihnen anfangen kann. Carolin Vogel erinnert in der FAZ an die Kunstfreundin und Salonière Ida Dehmel. Besprochen wird eine Ausstellung der Künstlerin Carrie Mae Weems in der Galerie Barbara Thumm (Tsp).
Archiv: Kunst

Bühne

Die Nachtkritik ruft ihre LeserInnen zur Wahl der zehn wichtigsten Inszenierungen des vorigen Jahres auf, abgestimmt werden kann bis nächsten Dienstag. Besprochen wird Marius von Mayenburgs Gesellschaftssatire "Stück Plastik" am Tiroler Landestheater (Standard).
Archiv: Bühne

Literatur

Jens Nordalm erinnert in der Welt an die Schriftstellerin Louisa May Alcott, die die literarische Vorlage zu Greta Gerwigs neuem, Ende des Monats anlaufendem Film "Little Women" verfasst hat. Besprochen werden unter anderem Samuel Becketts "Echos Knochen" (Tagesspiegel), Juri Andruchowytschs erstmals auf Deutsch vorliegender Roman "Karpatenkarneval" aus dem Jahr 1992 (Tell-Review), Jérôme Ferraris "Nach seinem Bilde" (NZZ), Brian K. Vaughans Comicreihe "Paper Girls" (Welt), Jochen Schimmangs Erzählband "Adorno wohnt hier nicht mehr" (SZ) und Artur Beckers "Drang nach Osten" ("sein bislang eindrucksvollster Roman", meint Marta Kijowska in der FAZ).

Mehr in unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau. Alle besprochenen Bücher und viele mehr zum Bestellen finden Sie natürlich in unserem neuen Online-Buchladen Eichendorff21.
Archiv: Literatur

Musik

Bei einer Auktion sind Dokumente aufgetaucht, aus denen hervorgehen könnte, dass es in Berlin schon deutlich vor der von Felix Mendelssohn-Bartholdy im Jahr 1829 eingeläuteten Bach-Renaissance ein Interesse an Bachs Matthäus-Passion gegeben hat, schreibt Jan Brachmann in der FAZ. Vor allem in jüdischen Familien habe es einen Überlieferungszusammenhang gegeben, erfahren wir: "Sollten sich nach diesem Fund alle weiteren Überlegungen erhärten, hieße das nicht nur, dass Berlin als wichtigster Kristallisationspunkt der Bach-Pflege nach 1750 ernster zu nehmen wäre als bisher, sondern auch, dass Bachs geistliche Musik um 1770 bereits weniger als konfessionelle Kunst, sondern als säkulare Kulturleistung geschätzt wurde. "

Mit der Compilation "Mogadisco - Dancing Mogadishu (Somalia 1972-1991)" ist Ben Redjef vom Label Analog Africa wieder eine musikarchäologische Glanzleistung gelungen, schreibt Philip Sherburne auf Pitchfork. Grundlage für diese Hebung bilden die Archivbänder von Radio Mogadishu. "Das beste Material, auf das man hier stößt, klingt wie nichts anders sonst. 'Hoobeya' von Shimaali & Killer lässt den im Ruf-und-Antwort-Stil gehaltenen Gesang durch einen blechernen Halleffekt laufen und bettet sie in eine Reggae-Gitarre und eine verführerische Drum-Machine ein. 'Sirmaqabe' von der Iftin Band verbindet spacige Synthesizer mit einem Spaghetti-Western-Tang und einem Schlagzeugspiel wie klappernde Hufe. Beide Stücke unterstreichen doppelt, dass trennende Linien, seien sie nun geografischer oder musikalischer Natur, völlig imaginär sind. Die traurige Ironie besteht darin, dass das weitere Schicksal dieser Musiker, die der Starrheit von Grenzen so entgegenstanden, von den Launen der Kartenmacher bestimmt wurde." Auf Bandcamp kann man sich die Compilation anhören:



Weiteres: Christian Wildhagen rät in der NZZ dazu, sich anlässlich des Beethoven-Jahrs nicht in marketingartigen Lobhudeleien zu ergehen, sondern gezielt nach Entdeckungen im Werk des Komponisten Ausschau zu halten: Seine achte Sinfonie etwa mag für viele "ein grundstürzendes Ereignis sein, weil sie uns den humorvollen, ja stellenweise urkomischen Beethoven vor Ohren führt." Im Standard stellt Karl Fluch Anne Ecks Label Silvertree Records vor, das allein Musik von Frauen präsentieren will.

Besprochen werden ein von Vladimir Jurowski dirigierter Bruckner- und Mozart-Abend in München (der designierte Generalmusikchef der Bayerischen Staatsoper bot "eine frappierende Synthese aus Sinnlichkeit und Intellektualität, aus Gefühlstiefe und Strukturalismus, aus Magie und Handwerk", schwärmt Reinhard J. Brembeck in der SZ, BR Klassik), FKA Twigs' neues Album "Magdalene" (Jungle World), das neue Album der Londoner Musikerin Georgia (Standard), das neue Album "Inland Empire" der Zürcher Avantgarde-Band Superterz (NZZ) und weitere neue Popveröffentlichungen, darunter das neue Album von Algiers, das SZ-Kritiker Julian Dörr damit, "wie niederwalzend und relevant eine Rockband auch im Jahr 2020 noch sein kann", ziemlich überwältigt. Ein aktuelles Video:

Archiv: Musik