Efeu - Die Kulturrundschau

Es entsteht Licht

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.02.2020. Die NZZ bewundert den Illustrator und Weiß-Maler Hannes Binder. In der Welt erklärt Rene Jacobs kühn: Leonore ist der bessere Fidelio. Rekonstruktion oder Moderne? In Hamburg streitet man um den Wiederaufbau der alten Synagoge im Grindelviertel. Die Welt verteidigt Jay Roachs Film "Bombshell": Hier lernt man noch was von willensstarken weiblichen Profis des Taktierens. Dem Van Magazin wird leicht unwohl bei der Authentizitätsrhetorik des Pianisten Igor Levit.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.02.2020 finden Sie hier

Kunst

Hannes Binder: Die Chronik des Zeichners | Limmat Verlag 2014


Die Zeichnungen von Hannes Binder muss man enträtseln wie eine Geschichte, denkt sich Manuel Müller (NZZ), während er sich im Zürcher Strauhof über die Illustrationen des Künstlers beugt. "Binder kombiniert Text und Bild dabei auf gewagte Weise, so etwa in Mörikes 'Um Mitternacht' (1828). Neben dessen Verszeile 'Und kecker rauschen die Quellen hervor' stellt Binder ein ebenso unerwartetes wie überwältigendes Bild. Er breitet die Zürcher Hardbrücke aus, in einer Momentaufnahme. Über die vierspurige Straße rauscht bei Nacht und Regen der dichte Verkehr. Was Hannes Binder berühmt gemacht hat - und anders wäre eine Darstellung wie bei Mörike kaum möglich: Er arbeitet mit Schabkarton. Jedes seiner Werke ist aus dem Schwarz gehoben. ... Während andere ihre schwarzen Linien aufs weiße Papier zeichnen, zieht Binder mit feinen, aber dezidierten Bewegungen seine Messer über die dunkle Fläche. Er erklärt: 'Man nennt mich immer den Schwarzmaler und meint das auch ganz im negativen Sinne: der, der alles so schwarz sieht. Im Gegenteil, was ich mache, ist Weiß-Malen - es entsteht Licht.'"

Besprochen werden weiter eine Ausstellung des Fotografen Beat Schweizer in der Hamburger Freelens-Galerie (taz), die Ausstellung "Fantastische Frauen" in der Frankfurter Schirn (Standard), die Ausstellung "Sound of Sculptures" des Bildhauers und Bühnenbildners Alexander Polzin im Foyer des Pierre-Boulez-Saales der Barenboim-Said-Akademie in Berlin (Berliner Zeitung), der Film "Wir haben die Schnauze voll" des britischen Konzeptkünstlers Jeremy Deller für den Kunstverein Bonn (taz), die Modeausstellung "Show Off" im Wiener Mak (Standard) und die "Erlebnisschau" "Feelings" in der Münchner Pinakothek der Moderne (Tsp).
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Bühne

Im Interview mit der Welt erklärt Dirigent Rene Jacobs, warum er die "Leonore", die Urfassung von Beethovens "Fidelio" aufgenommen hat: Sie sei "ohnehin das viel bessere Stück ... im Grunde eine wunderbare Entdeckungsreise. Das beginnt bereits mit der Ouvertüre. Ich habe mich bewusst für die originale erste von den vier bestehenden Versionen entschieden. Dieses im Konzertgebrauch kurioserweise als zweite Leonoren-Ouvertüre bekannte Stück ist die längste, fast schon sinfonisch, die das Geschehen samt befreiendem Trompetensignal vorab ungeheuer modern durchdekliniert. Das mag zwar nicht theaterpraktisch sein, es setzt freilich extreme Akzente, für all das, was dann kommt. Das Publikum wird sofort gefordert."

Besprochen werden Stef Lernous' Inszenierung von Alfred Jarrys "Ubu Rex" am Berliner Ensemble (nachtkritik), die Uraufführung von Brice Pausets Oper "Les Châtiments" am Opernhaus Dijon (FAZ), Lloyd Newsons Choreografie "Enter Achilles" im Festspielhaus St. Pölten (Standard), Mozarts "Hochzeit des Figaro" am Theater Freiburg (nmz) und Lars Eidinger als Peer Gynt an der Berliner Schaubühne (keinen Kern, "nur immer schärfere Schichten" erkennt FAZ-Kritiker Simon Strauss, der Eidinger furchterregend zeitgeistig findet. Und auch SZ-Kritikerin Christine Dössel kriegt Eidinger "trotz anfänglicher Leerlaufexzentrik und manch einer Luftnummer doch auf seine Seite. Weil dieses Solo einfach radikal authentisch ist.", FR, Tsp, taz)
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Architektur

Die Synagoge am Bornplatz im Grindelviertel, Hamburg, 1906. Foto: Wikipedia


Im Hamburger Grindelviertel soll die alte Synagoge, einst die größte in Nordeuropa, wieder aufgebaut werden, das ist beschlossen. Aber wie? Darüber ist jetzt ein Streit entbrannt, berichtet Till Briegleb in der SZ, denn die jüdische Gemeinde möchte mehrheitlich eine originalgetreue Rekonstruktion, die deutlich macht, dass Hitler nicht gewonnen hat. Miriam Rürup, Direktorin des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg, dagegen sähe das zu sehr nach "Schlussstrich" aus, sie plädiert daher für eine zeitgemäße Version. Aber dieser Streit zwischen "guter" (linker) Moderne und "schlechtem" (rechtem) Historismus ist unsinnig, erinnert Briegleb. Es "gab diese saubere Front niemals. Ein Großteil der 'modernen' Nachkriegsplaner stammte direkt aus dem Wiederaufbaustab von Albert Speer, und die wichtigsten Ahnherren der Moderne - von Mies van der Rohe über Le Corbusier bis zu Philip Johnson - haben allesamt intensiv mit dem Faschismus kollaboriert. Doch deren geistige Erben erklären heute immer wieder mit großem Aplomb ausgerechnet die Bewahrung historischer Qualitäten in der Baukultur als politisch rechts verdächtig."
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Literatur

Im Dlf Kultur spricht Hanns Zischler über seinen Debütroman "Der zerrissene Brief". Besprochen werden unter anderem die Wiederveröffentlichung von Erich Kubys "Rosemarie. Des deutschen Wunders liebstes Kind" aus dem Jahr 1958 (SZ), Jan Costin Wagners Krimi "Sommer bei Nacht" über einen Ermittler, der im pädophilen Milieu ermittelt, aber selber pädophile Neigungen aufweist (FR), Christoph Emanuel Dejungs "Emil Oprecht. Verleger der Exilautoren" (NZZ) und weitere neue neue Sachbücher, darunter die Briefe des Historikers Fritz Hartung (FAZ).

Mehr in unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau. Alle besprochenen Bücher und viele mehr zum Bestellen finden Sie natürlich in unserem neuen Online-Buchladen Eichendorff21.
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Film

Nicole Kidman in "Bombshell"


Jay Roachs Film "Bombshell", der aufarbeitet, wie eine Handvoll Frauen bei Fox News 2016 den sexuell übergriffigen CEO Roger Ailes zu Fall brachten, wurde vom ersten Schwung Kritiken ziemlich verrissen (unser Resümee). Und stimmt ja auch, schreibt Cosima Lutz in der Welt: Ein mitreißend feministischer oder zumindest analytischer erkenntnisreicher Film ist "Bombshell" auf den ersten Blick nicht. Aber es lohnt sich, sich davon nicht verprellen zu lassen und zu beobachten, wie hier "willensstarke weibliche Profis des Taktierens eher neben- als mit- oder füreinander kämpfen. ... Letztlich schrumpelt aller Maskenbildaufwand zu einer bescheidenen und traurigen Einsicht zusammen: Auch weiße, rechtskonservative Karrieristinnen haben das Recht, von dem misogynen Umfeld, das sie selbst mit erschaffen, genutzt und gestützt haben, nicht belästigt zu werden." Und dennoch hat Thomas Klein von der Berliner Zeitung am Ende des Films erhebliche Probleme damit, "dass man den so reaktionären wie rücksichtslosen Rupert Murdoch auch noch feiern soll, wenn er Ailes dann doch endlich feuert."

Weitere Artikel: Viola Schenz tadelt in der NZZ das Gegenwartskino dafür, ein zu unbekümmertes Verhältnis zum Ekel zu unterhalten: "Protagonisten beim Kotzen und Pinkeln zu zeigen, nützt selten der Dramaturgie." Für den Tagesspiegel wirft Gunda Bartels einen Blick in die Berlinale-Sektion "Perspektive Deutsches Kino". Andreas Conrad erzählt im Tagesspiegel Anekdoten aus der Frühgeschichte der Berlinale. Conrads Kollege Christian Schröder weiß, wie Jayne Mansfield im Festivaljahr 1961 alle Aufmerksamkeit von Antonioni und Konsorten auf ihren Busen lenkte.

Besprochen werden Corneliu Porumboius "La Gomera" (Tagesspiegel, unsere Kritik hier), Abel Ferraras "Tommaso und der Tanz der Geister" (Tagesspiegel, unsere Kritik hier), die Computerspielverfilmung "Sonic the Hedgehog" (FAZ) und Sabine Derflingers Doku "Die Dohnal" über Österreichs erste Frauenministerin Johanna Dohnal (Presse).
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Musik

Der Pianist Igor Levit hat es wie kein zweiter seiner Zunft verstanden, zu einem öffentlichen Intellektuellen jenseits des Konzertsaals zu werden. Keine Selbstverständlichkeit im Klassikbetrieb, wo öffentlichkeitswirksame Betätigungen jenseits der reinen Kunst unter Verdacht stehen und schon kleine Brüche im Erscheinungsbild für Stirnrunzeln bei den Insidern sorgen, schreibt Hartmut Welscher in einem langen, aber durchaus kritischen Essay im VAN Magazin. "Eine Kultur, der das Ich-Sagen traditionell verdächtig erscheint, kehrt Levit um in die permanente Ich-Botschaft. Wo andere Musiker*innen ein Über-das-Werk-Stellen tabuisieren, sagt Levit: 'Was wären die Komponisten ohne uns?' Während andere Pianist*innen Werktreue fordern, sagt er: 'Das Werk ist 50 Prozent, die anderen 50 Prozent bin ich.' Wo andere den Weg zu einem Werk noch in der Partitur suchen, findet Levit ihn schon in sich selbst. 'Das ist Musik, in der so unglaublich viel auf engstem Raum passiert! Genau das entspricht mir. So bin ich, so ist meine Persönlichkeit: sehr schnell im Kopf und im Handeln.' Wo andere peinlich darauf bedacht sind, bloß nicht 'vulgär' zu klingen, sagt Levit: 'Es ist so unheimlich geil'. Bisweilen führt das zu einer Authentizitätsrhetorik, die das Triviale als starke Aussage verpackt."

Weitere Artikel: Patrick Wagner (taz) und Jan Kedves (SZ) berichten von der gestrigen Anhörung im Bundestag dazu, ob Clubs künftig als Kulturstätten mit Aussicht auf öffentliche Förderung durchgehen können. Thomas Schacher informiert in der NZZ über die neuen Pläne für das Lucerne Festival. Wolfgang Sandner berichtet vom ECM-Festival in der Elbphilharmonie. Karl Fluch feiert im Standard die Gründung von Black Sabbath vor fünfzig Jahren - je nachdem, welcher Glaubensrichtung man angehört, wurde damit auch der Heavy Metal begründet, "eine der großen Gelddruckmaschinen der Musikindustrie. Viele vermeintliche Jünger Satans verdienen sehr gut." Gerrit Bartels bereitet sich im Tagesspiegel mit Erinnerungen ans Berliner Strokes-Konzert von 2002 auf das Berliner Strokes-Konzert am heutigen Abend vor.

Besprochen werden Jeremy Dellers Dokumentarfilm "Wir haben die Schnauze voll", der das Bonner Beethoven-Orchester bei Proben begleitet (taz), das Solodebüt "Der Rest vom Licht" des Berliner Musikers Jakob Dobers (Tagesspiegel) und eine neue CD des jungen Jazzpianisten Joey Alexander (Standard).
Archiv: Musik