Efeu - Die Kulturrundschau

Das furchtbare Köln Concert

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22.07.2020. Die FAZ feiert den Maler K.H. Hödicke, der seine Farbe so frei und gezielt lancierte wie ein Bogenschütze seine Pfeile. Völlig betört geht sie auch vor dem Gambisten Vittorio Ghielmi in die Knie. Die Zeit lässt sich von der Jazzmusikerin Johanna Summer ins Glücksdelirium versetzen. Die SZ vermutet hinter dem Streit in Marbach eine Auseinandersetzung um die Digitalisierung.  Und die Welt klagt über die Moderne, die jetzt auch noch den Denkmalschutz für sich beansprucht.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.07.2020 finden Sie hier

Kunst

K.H. Hödicke: Schneemann/Schornsteinfeger, 1990/91. Foto: Staatliche Graphische Sammlung, München

Als Bogenschützen, der dem Pfeil einen Moment der Freiheit gewährt, erlebt FAZ-Kritikerin Brita Sachs den Maler und Neoexpressionisten K. H. Hödicke in der großen Retrospektive der Münchner Pinakothek der Moderne: "Ob eine Schlangenbeschwörerin, Schneemann und Schornsteinfeger beim Händedruck, der Künstler mit neugeborenem Sohn oder auch 'Nur ein Kratzer in Grau und rote Tröpfchen' oder eine 'Raumschleife', rundweg alle diese Blätter aus den siebziger und achtziger Jahren bestechen durch atemberaubende Dynamik und Farbkraft. Und nicht zuletzt durch die Freiheit, mit der der Künstler hier wie im gesamten Werk in einer zwischen Figuration und Gegenstandlosigkeit schwingenden Stilvielfalt vagabundiert."

Émile Auguste Carolus-Duran: Porträt von Mademoiselle Croizette zu Pferde, 1873. Bild:  MUba Eugène-Leroy

Die Ausstellung "Soleils noirs", mit der der Louvre Lens die Farbe Schwarz untersucht, musste coronabedingt auf viele Exponate verzichten. SZ-Kritiker Joseph Hanimann erlebte dennoch ein breites Spektrum aus Nacht- und Machtsymbolik, Erhabenheit, Trauer oder Mode quer durch die Jahrhunderte: "Eine Epoche nur wusste mit den Reizen des Dunklen offensichtlich wenig anzufangen. Die Aufklärung war schon von ihrem Namen her ein Gegenprogramm dazu, obwohl auch ihr deren Zauber nicht verborgen blieb. 'Die Nacht ist erhaben, der Tag ist schön', schrieb Immanuel Kant. Erst in den romantischen Todesfantasien aber und in den mondänen Festen der Belle Époque, bei Édouard Manet oder in Carolus-Durans 'Dame mit Handschuh', strahlte das Schwarz wieder in all seinen Nuancen. Das Gegenstück dazu war die Schwärze der Rauchwolken über den Fabrikschornsteinen, der Ruß und das Sozialelend an den Stadträndern."

Nur im Westen gilt Kalkutta als Inbegriff einer städtischen Katastrophe, betont Thomas Ribi in der Ausstellung "Kalkutta schwarzweiß" im Völkerkundemuseum Zürich, für die der Fotograf Samuel Schütz und dre Ethnologe Thomas Kaiser die Stadt in einer Fülle von Bildern zeigen: "Wenn Bengalen von Kalkutta erzählen, tun sie es mit Begeisterung. Für sie ist Kalkutta die unbestrittene Kulturhauptstadt Indiens, Mittelpunkt einer lebendigen Literatur- und Kunstszene, wo Kleinverleger, Regisseurinnen, Filmemacher, Künstlerinnen und Künstler einen Ort zum Arbeiten finden. Die Stadt, in der das ländlich-archaische auf das städtisch-moderne Indien trifft. Mit aller Gewalt. Und aller Zärtlichkeit." 

Besprochen werden eine Ausstellung des zwei Tage vor der Vernissage verstorbenen Fotografen Wolfgang Schulz im Berliner Museum für Fotografie (Tsp) und die Ausstellung "Bonds" der Kanadierin Julie Favreau in der Schwartzschen Villa (Berliner Zeitung).
Archiv: Kunst

Literatur

Der Streit am Literaturarchiv Marbach dürfte wohl auch auch mit einem neuen Geldsegen seitens der Politik zu tun haben, schreibt Felix Stephan in der SZ: Naturgemäß gebe es da hausintern Meinungsverschiedenheiten, wo die Mittel am besten wirken würden, zumal die noch immer relativ neue Leiterin Sandra Richter vor allem im Bereich des Digitalen Ausbaubedarf sieht. "Einige Abteilungen sollen dieser digitalen Agenda offen gegenüberstehen, so Richter. Andere, das klingt da durchaus an, zeigen nicht denselben Enthusiasmus. Ungefähr genauso wahrscheinlich aber ist, dass sich die Gespräche über die zukünftige Ausrichtung und den Einsatz der Mittel (...) tatsächlich auf einem guten Weg befinden. Und dass die neue Direktorin aus dem öffentlich ausgetragenen Streit gestärkt hervorgeht. Nachdem ihr in aller Öffentlichkeit schlechter Stil, schlechte Stimmung, schlechte Germanistik und häufige Abwesenheit vorgeworfen wurde, könnten sich die Zuwender demonstrativ hinter Richter stellen, um das ganze Gefüge zu stabilisieren."

Weitere Artikel: Für die NZZ spricht Bernd Noack via Skype mit Cécile Wajsbrot über deren neuen Roman "Zerstörung", in den sich die Autorin - zu ihrer eigenen Verwunderung - derzeit selbst ein bisschen versetzt fühlt: "Diese leeren Straßen, die Landschaften, die Gefühle der Menschen haben Ähnlichkeiten mit den erdachten im Buch." In der Jungle World stellt Jonas Engelmann das Comicprojekt "Redrawing Stories from the Past" vor, das die Lebensgeschichten von Opfern des Nationalsozialismus erzählt.

Besprochen werden unter anderem Friederike Mayröckers "da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete" (Standard), Jean-Henri Fabres "Erinnerungen eines Insektenforschers" (taz), Thomas Kapielskis "Kotmörtel. Roman eines Schwadronörs" (Berliner Zeitung), Andreas Schäfers "Das Gartenzimmer" (SZ) und Ulrike Almut Sandigs "Monster wie wir" (FAZ).
Archiv: Literatur

Film

In der Berliner Zeitung spricht die Münchner Filmemacherin Uisenma Borchu, deren bereits auf der Berlinale gezeigter Film "Schwarze Milch" jetzt in die Kinos kommt, unter anderem über ihre Erfahrungen als Kind mongolischer Migranten im Ostdeutschland der frühen 90er. Silvia Bahl versenkt sich für den Filmdienst in Patricio Guzmáns Kino (mehr zu dessen aktuellen Film bereits hier). Im Filmdienst gratuliert Thomas Klein John Landis' Kultfilm "Blues Brothers" zum 40-jährigen Jubiläum.

Besprochen werden Werner Herzogs "Family Romance LLC" (Tagesspiegel) und ein Biopic über Thomas Edison mit Benedict Cumberbatch in der Hauptrolle (FAZ).

Archiv: Film

Architektur

In den Siebzigern sollte der Denkmalschutz die Städte vor der Flächensanierung bewahren, mit der die architektonische Moderne Ornament und Schönheit unter sich begrub, klagt Dankwart Guratzsch in der Welt. Heute nutzt ihn genau diese Moderne für sich: "Je mehr sich die Konservatoren des Bauerbes der Moderne und der Wiederaufbaujahre nach dem Zweiten Weltkrieg annehmen, desto mehr müssen sie sich bewusst sein, dass sie sich damit in Widerspruch zu den Auffassungen breiter Bevölkerungsschichten begeben. Die Gleichförmigkeit dieser Architekturproduktion, ihr serieller Charakter, ihre Anspruchslosigkeit und Maschinenästhetik, all dies lässt sie nicht als 'einzigartig' oder 'Kunst', sondern als Dutzendware einer Notzeit erscheinen." Sollen wir wie im 18. Jahrhundert leben?
Archiv: Architektur

Bühne

taz-Kritikerin Sabine Leucht lässt sich von Walter Heun erklären, wie er und die Dramaturgin Veronika Wagner die Münchner Tanzwerkstatt erfolgreich durch Abstandsregeln und Hygienekonzepte manövrierten. Ab dem 28 Juli wird sie in analog und echt über die Bühne gehen.
Archiv: Bühne

Musik

Wenn Vittorio Ghielmi in Zürich auf seiner Viola da Gamba einen Tanz spielt, schmilzt FAZ-Kritikerin Anja-Rosa Thöming dahin: "Von den Impulsen der akzentuierenden Bogenhand geht eine unerhörte Gestaltungskraft aus. Scheinbar einfache Melodien werden subtil verändert, auch ins Orientalische hinein. Die Gambe singt im Hier und Jetzt; die Affekte der Vergangenheit verbinden sich wie durch Zauberhand mit unseren eigenen. ...  Hören wir in einer schmerzlichen Dissonanz oder in einem Echo das Flüstern von Seelen? Ghielmis Gambe wurde 1688 gebaut. Für ihre Zeitgenossen waren Stimmen aus dem Jenseits womöglich real; es gab ein Purgatorium. Es ist dieses Durchschimmern des Geistigen durchs Technische, das an der Kunst Ghielmis so fasziniert." Eine kleine Kostprobe seines Könnens:



Auch der Musiker Malakoff Kowalski schmilzt, wiewohl in der Zeit, dahin. In einer schlaflosen Lockdown-Nacht ist er durch Zufall auf die ihn zunächst an Schumann erinnernde, die Grenze zum Jazz aber rasch transzendierende Klaviermusik von Johanna Summer gestoßen, die ihm damit ein Glücksdelirium ersten Ranges verschafft hat: Diese Musik ist "frei, verbindlich, offen in viele Richtungen sprudelnd, dabei introvertiert. ... So reich sind die Ideen, dass man nicht mehr weiß, wo man selbst steht, wo Schumann steht, wo Summer steht. Niemals vergreift sie sich an Klischees, und doch gibt es in ihrem Jazz Passagen, in denen sich völlig originär der Geist von Skrjabin mit Scarlatti unterhält, dann auf Bach verweist, dann auf Bartók, um am Ende doch wieder mit Schumann zu antworten und mit dem Steckenpferd zu suggerieren, wie das furchtbare 'Köln Concert' hätte klingen können, wäre Keith Jarrett schon damals mehr bei sich selbst geblieben." Mit dieser Playlist hören wir gern ausführlich rein:



Weitere Artikel: In der FAZ denkt der Philologe Gerhard Poppenberg über sein Verhältnis zu Beethovens Siebter nach. Besprochen werden Art Blakeys "Just Coolin" mit Aufnahmen aus dem März 1959 (Standard), neue Alben von Ellie Goulding (Standard, Pitchfork), den Pretenders (Standard, Pitchfork) und The Chicks (Pitchfork), sowie weitere neue Popveröffentlichungen, darunter das Debütalbum von Coriky ("ein Album voll Schönheit und Verzweiflung", meint SZ-Popkolumnist Max Fellmann).
Archiv: Musik