Efeu - Die Kulturrundschau

Thronverzichte und Thronbesteigungen

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23.01.2021. In der taz stellt die Architektin Imke Woelk ihre Version einer umweltfreundlichen Bandstadt vor. In Saudiarabien ist etwas ähnliches schon im Bau, erzählt der Guardian, der außerdem an die Bandstadt des italienisch Kollektivs Superstudio von 1969 erinnert. Hyperallergic betrachtet in der Royal Academy das verbindende Elend in den Bildern von Tracey Emin und Edvard Munch. In der NZZ erinnert Karl-Markus Gauß an die Weltreisende Alma M. Karlin und ihre Reisegeschichten von unten. Die taz fragt, warum Amazon Sebastián Muñoz' explizit schwules Knastdrama "Der Prinz" aus seinem Programm gestrichen hat: Zuviel Gewalt oder zuviel Sex?
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.01.2021 finden Sie hier

Architektur

Schützt die Natur: Imke Woelks "Hypercity 2130"


In der taz unterhält sich Tom Mustroph mit der Architektin Imke Woelk über ihren Beitrag zur Ausstellung "Human Scale Remeasured" in der Berliner Galerie Aedes und über eine Architektur, die sich nicht gegen das Ökosystem stellt. Woelk hatte dazu die Idee einer "Hypercity", einer Bandstadt entlang der Autobahn A24 zwischen Berlin und Hamburg: "Hinter meinem Projekt steht der Gedanke, die Infrastruktur von Autobahnen, Zug- und Flugnetzen zu nutzen und zu ganzheitlichen Lebensräumen weiterzuentwickeln. Also Versorgungslinien (Mobilität), Versorgungsflächen (Landwirtschaft) und Versorgungsräume (Gebäude) zu verbinden. ... Aktuell wird mit Strom-, Wasserstoff- und Magnettechnologien experimentiert. Zwei Grundprobleme der Verkehrsnetze werden damit verschwinden: die Emissionen und der Lärm. Das öffnet sie gegenüber den anliegenden Räumen und macht sie als Lebensraum attraktiv. Infrastruktur kann viel breiter gedacht werden."

Superstudio, Monumento Continuo, 1969-1970, Positano 1969. Bild: Centre Pompidou, Mnam-CCI


Eine Bandstadt, hundert Meilen lang und autofrei, wird zur Zeit auch in Saudiarabien geplant, berichtet im Guardian Oliver Wainwright, der sich von den Plänen an ein anderes Projekt erinnert fühlt: das Monumento Continuo von 1969 des radikalen italienischen Architekturkollektivs Superstudio, dem gerade eine Ausstellung in Brüssel gewidmet ist: "In einer eindrucksvollen Serie von Collagen stellten die Designer die riesige blockartige Masse dar, die den Globus mit einem unaufhaltsamen Gürtel von Gebäuden umgibt, der die Felsen des Monument Valley in Utah in den Schatten stellt, das amalfitanische Dorf Positano verschlingt und das Gitter von Manhattan mit seinem eigenen unaufhaltsamen Raster erobert. Die Bilder waren erschreckend, aber auch verführerisch, und sie sind es bis heute. Teils endloser Büroklotz, teils minimalistische Land Art, zeigen die kraftvollen Montagen das Monument, das Felder, Berge und Meere in einem einzigen, unberührten Streifen durchschneidet und der natürlichen Welt eine kartesische Ordnung aufzwingt. Adolfo Natalini, ein Gründungsmitglied von Superstudio, beschrieb das Projekt später als eine 'negative Utopie', eine Warnung vor 'den Schrecken, die die Architektur mit ihren wissenschaftlichen Methoden zur Verewigung von Standardmodellen weltweit bereithielt'. Aber zu dieser Zeit waren die Absichten der Gruppe eher zweideutig und gingen oft in der Übersetzung verloren."
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Bühne

Im Interview mit der nachtkritik zeigt sich Olaf Kröck, der Intendant der Ruhrfestspiele Recklinghausen, empört darüber, dass das Ruhrfestspielhaus von der AfD für eine Kreiskonferenz gemietet werden konnte. In der taz berichtet Jens Fischer vom Auftakt der Lessing-Tage am Hamburger Thalia Theater. Besprochen werden Claude Debussys "Pelléas et Mélisande", gestreamt aus dem Genfer Opernhaus (SZ), "Gespenster - Erika, Klaus und der Zauberer" des Theaterkollektivs Raum+Zeit, live gestreamt aus der Therese-Giehse-Halle der Münchner Kammerspiele (SZ)
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Film

Von Amazon weggesperrt: "Der Prinz" (Bild: Salzgeber)

Stefan Hochgesand wundert sich in der taz, was das soll, dass Amazon Sebastián Muñoz' mit FSK 18 zwar angemessen eingestufte, queere, im Chile der Siebziger spielende Knastdrama "Der Prinz" sowohl in UK als auch in Deutschland komplett aus seine VoD-Programm genommen hat: Der Verdacht, dass es um die Zensur explizit gezeigter schwuler Sexualität geht, liege nahe. Klar ist der Film "scharfer Tobak. ... Der Alltag ist von Grausamkeiten der Gefängnispolizei, aber auch der Insassen untereinander geprägt - andererseits aber auch durch poetisch-zärtliche Szenen, die eine große Geborgenheit bebildern, die weit über quasimafiöse Loyalität hinausgeht. Und wir sehen expliziten schwulen Sex. In seiner Verquickung von Gefängnisgewalt mit Homosexualität erinnert 'Der Prinz' an Romane des französischen Schriftstellers Jean Genet, der selbst im Knast saß - und von dem faszinierten Jean-Paul Sartre gefeiert wurde." Im VoD-Angebot des Verleihers ist der Film weiterhin zu finden.

Artechock-Kritiker Rüdiger Suchsland liebt das Max-Ophüls-Festival in Saarbrücken - für ihn eines der wichtigsten deutschen Filmfestivals, das immer wieder das Kino von morgen entdecken lässt. Umso mehr ärgert ihn die Rhetorik der Programmtexte, die vor allem politische Relevanz ventilieren. Um die Filme an sich gehe es da nicht, auch "nicht darum, warum der eine oder andere dieser Filme dem Kino irgendetwas Neues gibt, wo er es weiterbringt. Wir erfahren, was diese Filme mit dem Leitartikel einer x-beliebigen Tageszeitung zu tun haben" und "hören nur etwas über Relevanz. Und Relevanz wird komplett inhaltistisch gedacht, sie wird in Vokabeln von Politik-Redaktionen gedacht." Vor allem wünscht er sich bei soviel  Kapitalismuskritik wenigstens eine Spur "Selbstkritik und Selbstreflexion" und würde "gerne lesen, wie es denn eigentlich zusammenpasst, dass ein Filmfestival, das diese Programmpunkte sehr in den Fokus rückt, in einem sehr wohl kapitalistischen Land und System veranstaltet wird, dass es zur Finanzierung Sponsoren hat, und Gelder aus der öffentlichen Hand, und zwar von einem CDU-regierten Bundesland und einer CDU-regierten Landeshauptstadt."

Weitere Artikel: Irene Genhart blickt für den Filmdienst auf den Fokus "Lob der Kritik" der Solothurner Filmtage. Für Artechock blickt Rüdiger Suchsland mit dem Kino auf Trump zurück. Im Standard schreibt Stephan Hilpold über die Lage der Filmverleiher, die anders als die Kinos keine Aussicht auf Coronastützen haben. Auf critic.de würdigt Robert Wagner die Filmemacherin Catherine Breillat. Nadine Lange schreibt im Tagesspiegel einen Nachruf auf die Schauspielerin Mira Furlan.

Besprochen werden Ramin Bahranis auf Netflix gezeigte Verfilmung von Aravind Adigas Roman "Der weiße Tiger" (Presse, Standard, Zeit, FAZ) sowie die Comedy-SF-Serien "Star Trek: Lower Decks" und "Moonbase 8" (taz).
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Musik

Harry Nutt (FR) und Jan Wiele (FAZ) gratulieren Neil Diamond zum 80. Geburtstag. Besprochen wird das neue Album von Kollegah, der laut SZ-Kritiker Jakob Biazza "Kendgültig zu seiner eigenen Nummernrevue geworden" ist, "eine Art Hantelbank-Haftbefehl also."
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Stichwörter: Haftbefehl

Literatur

Mit Freude blättert Arno Widmann für die FR in Murasaki Shikibus vor tausend Jahren verfasstem japanischen Prosagedicht "Die Geschichte vom Prinzen Genji", das einige Jahrhunderte, bevor im deutschen Epos in Drachenblut gebadet und finsterste Intrigen unter dem Klirren von Schwertern gelöst wurden, vor allem das süße Nichtstun höfischer Daseinsformen literarisch zelebriert: "Geschichte findet statt. Es gibt Thronverzichte und Thronbesteigungen. Aber lange leben alter und neuer Kaiser nebeneinander. Natürlich werden Kinder geboren - Genji wird Großvater - und es wird auch gestorben in diesem Buch. Aber das alles ist der Hintergrund für das Alltagsleben einer höfischen Gesellschaft, die zwischen säkularen Festlichkeiten und religiösen Feierlichkeiten damit beschäftigt ist, zu jedem Anlass gut gekleidet zu sein und sich von nichts in der Pflege des eigenen - vorzugsweise melancholischen - Innenlebens stören zu lassen. Es kommt nicht darauf an, sich unempfindlich zu machen gegen die Welt sondern darauf, sich für sie zu sensibilisieren. Langweilig? Vielleicht. Aber denken Sie an Jane Austen. "

In einem großen Text in der NZZ erinnert Karl-Markus Gauß an die Reiseschriftstellerin Alma M. Karlin, die in ihrer Kindheit darunter zu leiden hatte, dass ihre Eltern mit ihrem Aussehen nicht zufrieden waren und sie mit Verschönerungsprogrammen traktierten. 1919 schließlich brach sie "zu ihrer Weltreise ohne jede finanzielle Sicherheit auf, einzig darauf vertrauend, das Überlebensnotwendige überall in der Welt als Sprachlehrerin oder Dolmetscherin verdienen zu können. Sie reiste im Unterdeck der Schiffe, in der dritten Klasse von Zügen, hatte keine Adressen von wohlhabenden Leuten bei sich, an die sie sich in der Not würde wenden können, litt große Entbehrung, mitunter sogar Hunger, und verfasste, man könnte sagen, Reisegeschichten von unten."

Weitere Artikel: Hannes Hintermeier schreibt in der FAZ einen Nachruf auf die Lyrik-Mäzenin Ursula Haeusgen. Martin Jurgeit schreibt im Tagesspiegel zum Tod des Comicautors Jean Graton. Im literarischen Feature für Dlf Kultur befasst sich Sabine Voss mit Schriftstellern, die in der Unterschicht aufgewachsen sind. In der Literarischen Welt erinnert sich Michael Krüger an seine Zeit als Buchhändler bei Harrods in den 60ern.

Besprochen werden unter anderem Bernardine Evaristos "Mädchen, Frau etc." (taz), Raphaela Edelbauers Science-Fiction-Roman "DAVE" (ZeitOnline), Tarjei Vesaas' "Die Vögel" (FR), Sorj Chalandons "Wilde Freude" (SZ), Thomas Wagners Studie "Der Dichter und der Neonazi" über die sonderbar anmutende Brieffreundschaft zwischen dem jüdischen Lyriker Erich Fried und dem Neonazi Michael Kühnen (SZ), Seweryna Szmaglewskas "Die Frauen von Birkenau" (Literarische Welt), Margaret Laurence' "Der steinerne Engel" (NZZ) und Hans Christoph Buchs "Robinsons Rückkehr" (FAZ).
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Kunst

Tracey Emin, You kept it Coming, 2019


In der Royal Academy in London kann man derzeit eine ungewöhnliche Paarung besichtigen: die Ausstellung "The Loneliness of the Soul" spannt Tracey Emin und Edvard Munch zusammen. Was bitte haben die zwei gemeinsam, fragt sich Michael Glover in Hyperallergic. "Das erste Werk, mit dem wir konfrontiert werden, wenn wir die erste von drei schummrig beleuchteten (in ihrer Stimmung vielleicht ein wenig religiös) Galerien betreten, - es ist eine Konfrontation, denn Emins großes Gemälde versperrt den Weg vor uns wie ein bulliger Türsteher vor einem Nachtclub und verlangt, dass wir nach rechts oder links ausweichen, um daran vorbeizukommen - entblößt sie, mit gespreizten Beinen, jegliches Privates nicht mehr privat. Das Werk ist 2007 entstanden und gehört Elton John. Die Farbstriche sind fadenscheinig und fragmentarisch. Sie versanden, bevor sie ganz vollendet sind. Der Titel lautet 'Ruined'. Dreht man den Kopf nach rechts, fällt der Blick auf eine dunkle Wand, auf der eines von Emins Neonschildern in rosa Buchstaben verkündet: 'My Cunt Is Wet with Fear' (1998). Genau, und unsere Ängste sind in den folgenden Jahrzehnten nur noch schlimmer geworden. Haben Emin und Munch wirklich viel gemeinsam, außer dem brennenden Wunsch, das Elend des Lebens zu umarmen und sich darüber zu definieren?"

Katja Thorwarth unterhält sich für die FR mit dem Offenbacher Künstler Jos Diegel über eine Kollektiv-Kunstaktion im Kunstverein Montez und über die Systemrelevanz von Kunst, eine Vorstellung, die Siegel ablehnt, weil "Systemrelevanz viel zu stark verbunden ist mit einer ökonomischen Relevanz. Das liegt wiederum daran, dass man Sofort- und Überbrückungshilfen nur bekommt, wenn man seine ökonomische Relevanz nachweisen kann. Tatsächlich drängt sich mir jedoch der Gedanke auf, dass das Buhlen um diese Auszeichnung die Gefahr der Fremdbestimmung birgt. Selbstverständlich ist es wichtig, dass die Arbeit von Freien Künstler:innen und Kulturinstitutionen erhalten bleibt. Dafür braucht es auch staatliche Hilfen. Gleichzeitig sehe ich einen Widerspruch, wenn sich freie, und unter Umständen systemkritische Kunst und Kultur als systemrelevant etikettiert. Denn eigentlich fallen alle freien Tätigkeiten, die unabhängig und nicht der ökonomischen Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit zuzuschreiben sind, aus dem Raster heraus."

Weiteres: Die taz bringt einen kurzen Text von Laurie Anderson über Julian Schnabel, ein Auszug aus dem Taschen-Band "Julian Schnabel". In Hyperallergic erzählt der Kunstkritiker David Carrier von seiner Begegnung mit dem italienischen Künstler Francesco Polenghi. In einem kurzen Interview mit der SZ erklärt der Bildhauer Gereon Krebber, warum er gern im Impfzentrum ausstellt: "Ich sage immer: Gegebenheiten sind Gelegenheiten."

Besprochen werden Installationen der Medienkünstlerin Naho Kawabe im Hamburger Off-Raum "nachtspeicher23", die man durchs Schaufenster betrachten kann (taz), eine Ausstellung des Fotografen Irving Penn in der New Yorker Pace Gallery (Guardian), zwei New Yorker Ausstellungen mit Bildern des Malers Wood Gaylor (NYT) und eine Neuausgabe von Grete de Francescos Buch "Die Macht des Charlatans" (FAZ).
Archiv: Kunst