Efeu - Die Kulturrundschau

Ein scharfes Ohr für alle Niedertracht

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.01.2021. Die drohende Demontage der Literaturkritik beim WDR schlägt weiter Wellen. Eine Petition fragt, ob der Sender sein Publikum nicht ein bisschen unterschätzt. Die taz lässt sich von der Theaterkompanie toit végetal verzaubern, die Schmetterlinge zum Tanzen bringt. Die SZ erkennt, dass der Kunstmarkt nur so stark sein kann wie die Gesellschaft, die ihn trägt. Die NZZ hört mit angehaltenem Atem die B-Seite der Anthology of American Folk Music.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.01.2021 finden Sie hier

Literatur

Die Lage der Literaturkritik beim WDR bleibt unklar. In einem grellen Artikel in der SZ hieß es gestern, die tägliche Rezension in der WDR3-Sendung Mosaik werde abgeschafft (unser Resümee). Ein offener Brief von Kulturschaffenden und Literaturkritikern machte die Runde, der diese Entwicklung kritisiert. Im Dlf Kultur kommentierte die Schriftstellerin und Briefunterzeichnerin Kathrin Röggla die Entwicklung. Epdmedien meldet kurz auf Twitter, mit WDR3-Wellenchef Matthias Kremin gesprochen zu haben, der diese Meldungen entschieden dementiert. Im Netz findet sich das Gespräch leider nicht ohne weiteres, dafür eine knappe Zusammenfassung in den Kulturnachrichten von Dlf Kultur: Lediglich um eine Sendeplatzverlegung gehe es, man werde neben kleineren Änderungen lediglich die Präsentation von Literatur ändern, auch an den Aufträgen für Freie ändere sich nichts.

"Offenkundig gehen die Entscheidungsträger im WDR davon aus, dass das Publikum nicht mehr in der Lage ist, sechs Minuten lang einer schlüssigen Argumentation zu folgen. Oder ist das frühere Kernpublikum des ,Kulturradios' WDR3 gar nicht mehr die Zielgruppe des Senders?", heißt es in einer Petition gegen die nun vorliegende oder doch nicht vorliegende Entscheidung des WDR. "Dieser Eindruck entsteht in der Tat immer wieder, und meist wird er auch mehr oder weniger verbrämt von den Programmverantwortlichen bestätigt", kommentiert dazu Jan Wiele in der FAZ.

In der Welt findet Mladen Gladic den in der SZ angeschlagenen schrillen Ton, den man mit "Literaturkritik oder Barbarei" gut zusammenfassen könnte, auch eher daneben, selbst wenn es schon stimmt, dass es von Rechts immer wieder Versuche gibt, in den Mainstream des Geisteslebens vorzudringen. Doch "nur weil ein Sender auf neue Formate setzt, sind wir nicht am Vorabend einer Diktatur." In der Sache ist er aber durchaus auf derselben Seite: "Der Verdacht liegt nahe, der WDR könnte seine Hörer unterschätzen. .. Dass öffentlich-rechtliche Sender ihre Literatursparten reformieren, um mehr Hörer zu erreichen, ist klar. Zu klein ist das Publikum für die Besprechung des philosophischen Traktats oder die Kritik der Lyrikneuerscheinung. Nur: Wenn es Sender gibt, die sich genau das leisten können, dann nur sie. Man wird deshalb genau beobachten, wie hier in Zukunft die Literatur 'lebendiger und abwechslungsreicher' vorkommen wird."

Weitere Artikel: In der taz erinnert Frauke Hamann an die vor den Nazis geflohene Reiseschriftstellerin Alice Ekert-Rotholz, der die Kunstklinik Eppendorf am Freitag eine Online-Veranstaltung widmet. In einem online aus der WamS nachgereichten Text liest Richard Kämmerlings Joe Biden durch die Brille von Cormac McCarthys Roman "Kein Land für alte Männer". Rüdiger Schaper schwärmt im Tagesspiegel von den Antiquariaten im Berliner Prenzlauer Berg, die auch während der Pandemie noch geöffnet sind. In der "10 nach 8"-Reihe auf ZeitOnline schreibt Didem Ozan über ihre türkische Muttersprache. In der FAZ gratuliert Tilman Spreckelsen dem Schriftsteller Jochen Missfeldt zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Ottessa Moshfeghs "Der Tod in ihren Händen" (FAZ, Tagesspiegel), Haruki Murakamis Erzählband "Erste Person Singular" (Berliner Zeitung), Monika Helfers "Vati" (Tagesspiegel, ZeitOnline), Noël Simsolos und Dominique Hés Comic über Alfred Hitchcock (Tagesspiegel), Carl Laszlos "Ferien am Waldsee. Erinnerungen eines Überlebenden" (Tagesspiegel), Milena Jesenskás "Prager Hinterhöfe im Frühling. Feuilletons und Reportagen 1919-1939" (Tagesspiegel), Rutu Modans Comic "Tunnel" (NZZ), Bernardine Evaristos "Mädchen, Frau etc." (Tagesspiegel, Freitag), Hannes Steins "Der Weltreporter" (Zeit), Howard Eilands und Michael W. Jennings' neue Biografie über Walter Benjamin (Jungle World), Martin Mosebachs "Krass" (SZ) und Annet Mooijs Biografie über die Künstlerin Gisèle van Waterschoot van der Gracht (FAZ).
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Bühne

Compagnie Toit végétal: Insekten. Foto: Christian Kleiner

Völlig verzaubert ist taz-Kritikerin Simone Kaempf von der Arbeit der Theaterkompagnie toit végétal, die in ihrer Performance "Insekten" eine in allen Farben schillernde Miniaturwelt zum  Leben erweckte, und zwar selbst im Stream live: "Der Kniff dieser Theaterarbeit ist die zarte Künstlichkeit. Kein Insekt ist echt, stattdessen werden alte Schautafeln benutzt. Wenn Schmetterlinge vor der Kamera tanzen oder Käfer mit langen Fühlern herankrabbeln, dann sind das ausgeschnittene Papierzeichnungen, Kopien alter Kupferstiche oder manchmal auch nur Stempelbilder. Und doch erwachen sie auf der Bühne zum Leben. Das Herstellen dieser Ästhetik ist der zweite Erzählstrang von 'Insekten'. Auf der Bühne sitzen drei PerformerInnen und arbeiten unter zwei Tischkameras. Auch das Rascheln, Zirpen und Kriechen der Insekten entsteht live. Der Musiker Michael Zier nutzt dafür ein Klanginstrument aus viel Holz, Drähten, Metallrohren, Kämmen und Borsten. In 'Insekten' ist auch das ein Hingucker und wurde von einem Instrumentenbauer extra für den Abend entwickelt und gebaut.

Die Lessing-Tage am Hamburger Thalia Theater finden in diesem Jahr natürlich auch online statt. Doch bei dieser Ausgabe, für die europäische Theater ihre Produktionen streamen, merkt taz-Kritikerin Barbara Behrendt allzu deutlich an, dass nicht kuratiert wurde: "Das digitale Format ist selbstverständlich der Coronapandemie geschuldet. Doch leichter, als zwei Hände voll Videos unsortiert online zu stellen, kann man es sich nun wirklich nicht machen."

Im Tagesspiegel schreibt Rüdiger Schaper zum Tod des schwedischen Dramatikers Lars Norén, der stets den Ärger und das Chaos suchte. In der SZ betont Thomas Steinfeld, dass Norén Welten von dem immer das Gespräch suchenden Ingmar Bergman trennten: "Er selbst ist, mit seinem Hass auf den 'Kulturpöbel', mit seinem scharfen Ohr für alle Niedertracht und auch mit seiner Taubheit sich selbst gegenüber, längst in die schwedische Alltagskultur eingezogen. Geht eine Familienfeier gründlich schief, endet sie in Streit und Besäufnis, spricht man von einem norénare."

Weiteres: Für weiterhin recht unwägbar hält Matthias Alexander in der FAZ den Neubau der Frankfurter Bühnen. Allerdings steht jetzt fest, dass die von der städtischen CDU favorisierten Pläne für eine Oper am Osthafen gekippt werden müssen: Laut Landesentwicklungsplan ist das Gebiet als Hafen zu nutzen, nicht als Kulturstandort. Besprochen wird ein Stream von Jules Massenets Oper "Manon" mit Elsa Dreisig in der Titelrolle aus der Hamburger Staatsoper (FAZ).
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Film

Fabian Tietke schreibt in der taz einen Nachruf auf die Filmemacherin Cecilia Mangini, die die erste Dokumentarfilmerin Italiens war. Vor ihren filmischen Arbeiten "fotografierte sie auf den Straßen der italienischen Städte inmitten des Wirtschaftswunders Außenseiter und Vergessene". Später "entstanden in Zusammenarbeit mit Pier Paolo Pasolini die ersten Filme. Pasolini lieferte die Kommentartexte, Mangini führte Regie, die Musik stammte vom Avantgardekomponisten Egisto Macchi. Diese Kombination aus einem Kommentartext mit literarischen Qualitäten, Avantgardemusik und großem Bildbewusstsein sollte Manginis Arbeit ein Leben lang prägen. ... 1965 drehte Mangini ihren wohl bedeutendsten Film: 'Essere donne'. Der Film ist die erste ausführliche Untersuchung zu weiblicher Arbeit in den Fabriken Italiens." Einen Eindruck davon, leider ohne Untertitel, gibt es auf Youtube



Weitere Artikel: In der NZZ schreibt Urs Bühler einen sehnsüchtigen Liebesbrief ans Kino. Außerdem resümiert Bühler in der NZZ die Solothurner Filmtage.

Besprochen werden die BluRay-Wiederentdeckung von Sohrab Shahid Saless' in Deutschland in den frühen 80ern gedrehtem Bordelldrama "Utopia" mit Manfred Zapatka als finsterem Zuhälter (ein Film "darüber, wie Verdinglichung von allem und eben auch von Sexualität das Leben aus der Welt saugt", schreibt Lukas Foerster bei Dlf Kultur), der von Herbert Wilfinger zusammengestellte Band "Kino zum Mitnehmen" mit historischen Filmprogrammen aus Österreich (Standard) und die auf AppleTV gezeigte Serie "Dickinson" (Tagesspiegel).
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Kunst

In der SZ glaubt Ingo Arend nicht, dass sich die Kunstmessen allzubald von den Verwerfungen erholen werden, zumal das Flaggschiff, die Art Basel, auch nach dem Einsteig von James Murdoch weiter schwankt. Aber: "Ersetzen kann die erzwungene Digitalisierung das analoge Messegeschäft nicht, darin sind sich fast alle einig. Nicht nur wegen der fehlenden Aura realer Objekte im Raum. Sondern auch, so Kristian Jarmuschek, 'weil es im Internet keinen Suchbegriff junge, verheißungsvolle Kunst gibt'. Dem Berliner schweben digitale Plattformen für Entdeckungen vor, die eigentlich nur analog zu machen sind. 'Das Desaster ist ja auch", sekundiert der Avantgarde-Promoter Nagel, dass es im Zuge der Krise 'fast unmöglich wird, Konzept- und postkonzeptuelle Kunst zu vermarkten.'"

Weiteres: Ab Ende 2023 wird das Pariser Centre Pompidou für wahrscheinlich drei Jahre geschlossen werden, meldet unter anderem die FR: Es stehen umfangreiche Renovierungsarbeiten an. Frauke Steffens berichtet in der FAZ, wie Joe Biden die im Weißen Haus ausgestellte Kunst neu ausrichtet. Michael Hagner erinnert sich in der FAZ an die Ausstellung "Wunderblock" im Messepalast Wien 1989. Der Standard meldet, dass die Wiener Albertina noch an der für 2021 geplanten teuren  "Modigliani-Picasso"-Schau festhält.
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Musik

In der NZZ erzählt Christoph Wagner die Entstehungsgeschichte der legendären "Anthology of American Folk Music" aus den 50ern, die zahlreiche, vom Exzentriker Harry Smith liebevoll zusammengetragene Platten teils obskurer Musiker kompilierte und nicht zuletzt auf Bob Dylan stilbildend wirkte. Jetzt ist im Hause Dust-to-Digital mit "The Harry Smith B-Sides" eine ergänzende Fortsetzung mit den B-Seiten der berücksichtigten Platten erschienen, der eine mühsame Recherchearbeit vorausging: "Oft war nicht einmal bekannt, ob der betreffende Sänger, Fiddler oder Gitarrist überhaupt noch am Leben war, geschweige denn wo er wohnte. Verkratzte Schellackplatten, Songtexte sowie zerfledderte oder vergilbte Verkaufskataloge waren oft die einzigen Anhaltspunkte, deren Spur man nachgehen konnte." Doch "in sechsjähriger Arbeit hat die kleine Firma aus Atlanta, Georgia, die Schellackplatten aller ursprünglich 84 Titel zusammengetragen." In dieser "aufregenden Zusammenstellung" offenbare sich "eine inzwischen untergegangene Klangwelt, deren sonderbar fremd anmutende Eigenwilligkeit Staunen erregt und den Samen von Rockabilly, Rock'n'Roll und Pop bereits in sich trägt." Wir hören rein:



Weitere Artikel: Burkhard Schäfer spricht für die NMZ mit Yuval Weinberg, dem neuen Chefdirigenten des SWR Vokalensembles, der mit eben so 30 Jahren der jüngste künstlerische Leiter eines ARD-Klangkörpers ist. Andreas Hartmann berichtet in der taz über die Lage des Archivs der Jugendkulturen in Berlin, das mit steigenden Mieten zu kämpfen hat.

Besprochen werden die Debütalben von Celeste und Arlo Parks (Tagesspiegel), die Serie "Wu-Tang: An American Saga" über die Geschichte des Wu-Tang Clans (FAZ), das neue Album der Indie-Punkband Goat Girl (Berliner Zeitung) und neue Popveröffentlichungen, darunter das neue Video von Billie Eilish und Rosalía - "bemerkenswert, was heute so alles geht im Mainstreampop", meint dazu SZ-Popkolumnistin Juliane Liebert. Wir überzeugen uns selbst:

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