Efeu - Die Kulturrundschau

Der Löwe darf nicht stinken

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23.06.2021. Auf ZeitOnline zürnt Robin Detje gegen das Langweilertum in der Literatur und ihre "Festlegung auf die mittlere Lage". Im Filmdienst fürchtet Tacita Dean, dass gerade die leichten Kameras den Film schwerfällig und bieder gemacht haben. Die FAZ feiert Gio Pontis heitere Moderne, die nie den Bruch mit der Tradition vollzog. Der Guardian blickt mit Sebastiao Salgado in das Herz Amazoniens. Und die taz widmet sich nur halb überrascht dem #MeToo im Deutschrap.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.06.2021 finden Sie hier

Literatur

Robin Detje langweilt sich beim Bachmannpreis nicht nur in diesem Jahr, sondern schon seit Jahrzehnten, gibt er auf ZeitOnline in seiner toll zornigen Abrechnung mit der bürgerlichen Literatur ("viel geschickt aufgehübschtes Langweilertum") im Allgemeinen, mit dem Bachmannwettbewerb im Besonderen zu erkennen: "Der Fluch der bürgerlichen Kultur war immer ihre Festlegung auf die mittlere Lage. Es soll nicht ausarten. Ungeheuerliches soll zum Vorschein kommen, aber nur ganz kurz. Der Löwe soll brüllen, aber nicht zu laut, und er darf auch nicht stinken. ... Die öffentliche Jurysitzung ist eine absurde Zumutung, die von der Jury verlangt, Selbstdarstellung und Gerechtigkeit in Einklang zu bringen - live. Eine Herkulesarbeit. Einen Text in so eine öffentliche Jurysitzung hineinzuschreiben, muss eine Qual sein. Man muss die unausgesprochenen Ansprüche erraten, die richtige Mischung finden zwischen Modethema, verlangtem Formwillen und Genießbarkeit."

Außerdem: Rahel Varnhagens Verbundenheit mit dem Judentum blieb in den Erinnerungen, die kürzlich zu ihrem 250. Geburtstag überall veröffentlicht wurden, unterbelichtet, meint Judith Klein im Freitag. Gisela Trahms erzählt in den "Actionszenen der Weltliteratur", wie der Schriftsteller Peter Kurzeck einmal auf dem Bahngleis dem mit seinem Manuskript davonfahrenden Zug hinterher hetzte.

Besprochen werden unter anderem Joyce Carol Oates' Erzählband "Cardiff am Meer" (online nachgereicht von der FAZ), Ingo Schulzes Erzählband "Tasso im Irrenhaus" (Zeit), Zeruya Shalevs "Schicksal" (Standard), Patrick Devilles "Amazonia" (NZZ), Anna Brüggemanns "Trennungsroman" (Tagesspiegel) und Maarten 't Haarts "Der Nachtstimmer" (SZ).
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Architektur

Umwerfend, aber nicht umstürzend: Gio Pontis Pirelli-Hochhaus in Mailand. Foto: Foto von Paolo Monti, 1965, CC, Wikimedia

Keinem anderen Architekten und Designer verdankt die Moderne solch schöne und heitere Entwürfe wie dem Italiener Gio Ponti, ist sich Claudis Seidl sicher, der den Prachtband des Taschen-Verlags nur bewundernd in Händen hält. Und besonders gut gefällt Seidl, dass bei Ponti der Gegensatz zwischen Moderne und Tradition aufgehoben zu sein scheint: "Gio Ponti, geboren in Mailand im Jahr 1891, war längst in seinen Fünfzigern, als er endlich ankam in der Moderne; er war fast siebzig, als seine modernsten Bauten entstanden - und dass diese Architektur dann so stimmig und so zeitgemäß gelang, das verdankte sich keinem Bruch, keiner Revolution, keiner Umkehr. Es lag vielmehr an dem Weg, den Ponti dorthin gegangen war, von seinen konservativen und traditionsbewussten Anfängen bis hin zu einer Moderne, die sich ihrer eigenen Beschränkungen, Borniertheiten und Denkverbote gerade bewusst wird. Und sie in Gestalt seiner Entwürfe reflektierte und überwand."
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Stichwörter: Ponti, Gio

Film

Der Filmhistoriker Lars Henrik Gass spricht im Filmdienst ausführlich mit der Künstlerin Tacita Dean, die sich seit vielen Jahren der Rettung des Analogfilms verschrieben hat. Unter anderem glaubt sie, "dass der Wechsel des Mediums einen großen Einfluss darauf hatte, wie unaufregend das Kino geworden ist, weil es ein Medium geworden ist, um Geschichten auf eine sehr schwerfällige und biedere Weise zu erzählen, anstatt so brillant, wie es das historisch gesehen früher getan hat. Ich glaube tatsächlich, dass das viel mit dem Mangel an Disziplin und der Schwierigkeit des Mediums zu tun hat. Jeder kann eine Digitalkamera halten; bis zu einem gewissen Grad stimmt das ja; aber eigentlich ist es komplizierter. Ich war einmal in einer Talkshow im Radio; da sprach jemand darüber, wie viel demokratischer die digitale Technik sei; jeder könne eine Digitalkamera in die Hand nehmen, deshalb sei sie nicht elitär, bla bla bla. Doch dann sprang mir ein anderer bei und sagte: Seien wir ehrlich - jeder hatte Zugang zu Bleistiften, aber nicht jeder ist Michelangelo."

Besprochen werden Sergei Loznitsas auf Mubi gezeigter Dokumentarfilm "Der Prozess" (critic.de), Doug Limans Science-Fiction-Film "Chaos Walking" (SZ) und John Krasinskis Horrorfilm "A Quiet Place 2" (SZ, Tagesspiegel).
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Kunst

Im Guardian hält Jonathan Jones den Atem an über Sebastiao Salgados Bildern aus Amazonien, die in einem neuen Band mit größtmöglicher Erhabenheit Mensch und Natur des unerschlossenen Gebiets festhalten: "Die Probleme Amazoniens sind bekannt und dringlich: Brandrodung, Abholzung, Monokulturen, Straßenbau. Aber Salgado - der mit seiner Frau Lélia die Familienfarm in Aimorés in ein Naturreservat verwandelt hat, die zum Vorbild für Wiederaufforstung wurde - zeigt, dass es noch immer viel gibt, für dessen Erhalt es sich zu kämpfen lohnt. Die moderne Welt hat mit all ihrer Habgier nur 'ein kleines bisschen am Rande zerstört. Das Herz schlägt noch. Um diesen unberührten Ort zu zeigen, fotografiere ich das lebendige Amazonien, nicht das tote." 

In der kritischen Documenta-Schau "Politik und Kunst" im Deutschen Historischen Museum lernt SZ-Kritikerin Catrin Lorch nicht nur, wie sich alte Nazis reinwuschen oder wie die amerikanische Kulturpolitik nach dem Krieg den abstrakten Expressionismus gegen den Sozialen Realismus in Stellung zu bringen half, sondern auch Skepsis zu entwickeln gegenüber einem Kunstgeschehen, das immer auch in politische Opportunitäten passen soll: "Warum war beispielsweise die elfte, von Okwui Enwezor geleitete Documenta nicht nur politisch weit gedacht, sondern künstlerisch so enorm einflussreich? Auch die mediale Diskreditierung der D14, die sich auf dem Höhepunkt der Schuldenkrise einen Ableger in Athen leistete, lässt sich erklären, wenn man sie nicht allein als Ereignis liest, das die Feuilletons bewegt, sondern als Ausdruck einer bundesdeutschen Befindlichkeit. Eine Verlagerung der Perspektive an den Rand der Europäischen Union, in den so apostrophierten 'Süden', war nicht opportun." Im Standard schreibt Bert Rebhandl über die Ausstellung.

Weiteres: Im taz-Interview mit Imke Staats spricht der Künstler Felix Scheinberger über seine Nachtskizzen, die er in den Berliner Clubs anfertigt: "Ich male nur vor Ort. Ich korrigiere nicht. Auch Farben lege ich gleich an. Aus Faulheit - und um das Authentische zu wahren. Im Studio kann man klarer und perfekter arbeiten, aber es ist dann eine Inszenierung und keine Dokumentation. Vielleicht Qualität versus Magie." In der FAZ annonciert Gina Thomas die anstehende Auktion von Leonardo da Vincis anrührender Bärenkopf-Skizze.

Besprochen werden die Fotografie-Triennale RAY in Frankfurt (FR), ein Band mit Fotografien von Thomas Mann (FR) und die Schau "Tour de Force" im Museum Liaunig zu Gegenwartskunst in Österreich (Standard).
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Bühne

Luis Cerda, Camila González, Francisca Lewin in "Dragón". Foto © Eugenia Paz /Theater der Welt


Sehr empfehlen kann Sascha Westphal in der Nachtkritik Guillermo Calderón Betriebssatire "Dragon" beim Festival Theater der Welt, in der ein linkes Kollektiv den Mord an einem guyanischen Revolutionär und schwarzen Theoretiker auf die Bühne bringen will: "Nur stellen sich erneut Fragen der Repräsentation. Das weiße, eindeutig bourgeoise Künstler*innenduo überschreitet mit dieser Aktion eine Grenze, so dass sich nicht mehr eindeutig sagen lässt, ob es die politischen Verhältnisse anprangert oder ausnutzt."

Außerdem: Bewegt berichtet Martin Krumbholz in der SZ von den ersten Aufführungen beim Festival Theater der Welt in Düsseldorf, bei denen - mal im Stream, mal live - J.M. Coetzees "Leben und Zeit des Michael K." vom Kapstadter Baxter Theatre und Stephanie Thierschs Choreografie "Archipel" gezeigt wurden
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Musik

Die aktuelle Debatte über #DeutschrapMeToo (unser erstes Resümee) ist überfällig und derzeit voll im Gang, schreibt Carolina Schwarz in der taz. Dass viele Betroffene lange geschwiegen haben, habe viele Gründe. So konnten sie "bislang nur wenig auf die Aufmerksamkeit und Recherche von Medien vertrauen. Denn Verdachtsberichterstattung ist ein journalistisch aufwendiges und schwieriges Feld - und gerade in der Rapszene tun sich viele Medien schwer damit. Das liegt vermutlich auch daran, dass Journalist:innen der auflagenstarken Medien sich nur bedingt in der Rapszene auskennen. Zudem sind Rapper in der Vergangenheit massiv gegen kritische Berichterstattung über sie vorgegangen. Und dezidierte Rapmedien scheuen Berichterstattung über Missbrauchsvorwürfe regelmäßig. Das mag an finanziellen Ressourcen liegen, aber auch daran, dass viele meist enge Kontakte mit den Künstler:innen haben und diese nicht aufs Spiel setzen möchten." Pardon, aber warum Künstler:innen? Werden die Vorwürfen nicht ausschließlich gegen männliche Rapper erhoben?

In der taz ärgert sich Hengameh Yaghoobifarah darüber, dass Billie Eilish dafür, dass sie in ihrem neuen Video mit Freundinnen herumtollt und auf Instagram ein Positing mit "I love girls" unterschrieben hat, nun "queerbaiting" - also ein reines Marketingkalkül - vorgeworfen wird: "Eilish ist es niemandem schuldig, ihre Sexualität zu offenbaren. Überhaupt, wer konnte das mit 19 schon, sein Begehren auf ein Label reduzieren? Als öffentliche Person ist der Druck zudem höher, mit der Definition der Identität bloß richtig zu liegen, das verdeutlicht die bisherige Debatte. Dabei waren wir uns doch schon mal einig, dass Sexualität etwas Fluides ist." Das skandalisierte Video ist jedenfalls von wunderbar sommerlicher Gelassenheit:



Christian Thielemann wird bei der Sächsischen Staatskapelle gekündigt und niemanden scheint es so richtig zu jucken, wundert sich Julia Spinola in der SZ. Bei Nachfragen ist sie auf Hinweise gestoßen, dass das Orchester selbst schon 2017 einer Verlängerung von Thielemanns Amtszeit nur unter der Bedingung zugestimmt hatte, dass es später zu einer weiteren nicht kommen werde. "Hat die Unzufriedenheit des Orchesters eine Flanke geöffnet, die es dem Ministerium nun erlaubt, das Haus politisch reibungsloser und wirtschaftlich effektiver in die Zukunft zu führen? ... Hinter vorgehaltener Hand erfährt man, dass Tourneeangebote, die das Orchester gerne wahrnehmen würde, mitunter daran scheitern, dass der Chef sich zwischen den Konzerten stets zwei oder drei Tage Pause ausbedingt. Er gilt als jemand, der sich nicht gerade verschleißt."

Weitere Artikel: Dirk Peitz hat für ZeitOnline mit dem Akustikduo Kings of Convenience über deren neues Album gesprochen. Ueli Bernays porträtiert in der NZZ den Gitarristen Julian Lage.

Besprochen werden ein Hamburger Konzert von Martha Argerich, Daniel Barenboim und Anne-Sophie Mutter (FAZ) sowie neue Popveröffentlichungen, darunter das neue Album von Fehler Kuti (SZ). Hier ein aktuelles Konzert:
 
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