Efeu - Die Kulturrundschau

Entweder niedrig und breit oder hoch und schmal

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29.11.2021. Im Standard blickt Wiener Staatsopern-Intendant Bogdan Roscic deprimiert auf eine Zukunft, in der weite Tele der Gesellschaft in völlige Irrationalität abgesunken sind. Sibylle Lewitscharoff gewährt der NZZ Zutritt ins brodelnden Ungemach. Das Grün gehört zum Urbanen, erklärt in der FR der Stadttheoretiker Robert Kaltenbrunner. Die SZ gönnt sich mit Thom Luz' Münchner Aristophanes-Inszenierung ein bisschen Eskapismus. Die FAS verteibt sich die Zeit mit dem Kino der alten weißen Männer. Die Feuilletons trauern zudem um den Komponisten und Boradway-Texter Stephen Sondheim.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.11.2021 finden Sie hier

Bühne

Thom Luz' Aristophanes-Inszenierung "Wolken, Vögel, Reichtum. Foto: Sandra Then 

Obwohl es in München gerade nicht ganz leicht ist, ins Theater zu kommen, kann SZ-Kritikerin Christiane Lutz die Aristophanes-Inszenierung von Thom Luz dringend empfehlen, die im Münchner Cuvilliéstheater. Eskapismus vom Feinsten: "Aus Aristophanes' Motiven hat Luz ein rätselhaftes Stück über das Denken gebastelt und den beklemmenden Moment, in dem man mit dem Denken nicht mehr hinterherkommt und das Chaos im Kopf zulassen muss."

Österreichs Theater sind wieder geschlossen, die Empörung ist groß. Doch der Wiener Staatsoper-Intendant Bogdan Roscic will dagegen nicht opponieren, wie er im Standard-Interview mit Stephan Hilpold erklärt: "Wir wollen uns an der Staatsoper nicht als Virologen betätigen. Es nervt nichts mehr als zusätzlicher Meinungsmüll von inkompetenter Seite. Man muss aber ehrlich sein: In den letzten Wochen war es schwer, das Infektionsrisiko für die Mitwirkenden zu beherrschen. Wir waren an mehreren Abenden knapp vor der Absage... Wer da von Staatsversagen spricht, hat noch nie einen 'ailed state' erlebt. Mir ist das zu aufgeregt. Aber das wirkliche Thema ist doch das Abgleiten von Teilen der Gesellschaft in völlige Irrationalität und wie sich die dann auch noch durchsetzt. Das hat und wird noch andere politische Auswirkungen haben, lange nach Corona. In was für einem Moment leben wir, wenn man zur Ultima Ratio der Impfpflicht greifen muss, weil Millionen von Menschen mit Vernunftgründen nicht mehr erreichbar sind?"

Besprochen werden Stefan Puchers Inszenierung von Christian Krachts "Eurotrash" für das Hamburger Thalia (mit einer sehr markanten Barbara Nüsse, wie Michael Laages in der Nachtkritik hervorhebt), Davis Böschs Inszenierung von Dennis Kellys Ökodystopie "Der Weg zurück" am Berliner Ensemble (Nachtkritik), Leos Janáceks "Katja Kabanowa" an der Komischen Oper (Tsp), die ZDF-Serie "Ku'damm 56" mit Musik vom Rosenstolz-Duo im Theater des Westens (Tsp) sowie Alice Birchs "Anatomy of a suicide" in Hannover und Guillermo Arriagas "Der Wilde" in Köln (FAZ).
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Literatur

Online nachgereicht hat die NZZ Bernd Noacks Bericht von seinem Besuch bei Sibylle Lewischaroff, die wegen einer Erkrankung mittlerweile an ihre Wohnung gefesselt ist. Gesprochen hat er mit ihr über die teils ziemlich düsteren papierenen Skulpturen, die die Schriftstellerin seit einiger Zeit zum Zweck der "seelischen Erneuerung" anfertigt. Über ihre Krankheit würde sie nicht schreiben, sagt sie. "Sie hält das für eitel, für eine unangemessene Ausstellung der eigenen Person Vielleicht werden spätere Interpreten aus dem Werk herauslesen können, wann ihre körperlichen Beschwernisse begannen, aber das ist Sibylle Lewitscharoff dann auch egal. 'Das heißt nicht', sagt sie nur, 'dass diese brodelnden Ungemache, die ja in jeder Seele des Menschen lauern, dass die nicht trotzdem einen veritablen Anteil am Schreiben haben. Aber sie müssen für mich unbewusst bleiben, damit ich schreiben kann.' ... Und dann sind da ja auch noch ihre Einschlaffantasien, von denen sie jetzt erzählt, als wären es kleine Geheimnisse. Lewitscharoff ist schon immer in einer Parallelwelt ihrer selbst unterwegs gewesen, die frei erfunden ist und mit dem wirklichen Dasein nicht das Geringste zu tun hat. Gleichzeitig bewegt sie sich in diesen beiden Universen und sagt, sie unterlasse es tunlichst, 'die andere Parallelwelt in meine wirkliche Welt so reinspielen zu lassen, dass sie gestört hätte'. Zwei Personen sind mehr als eine, und ihre Psyche habe eine gewisse Wende genommen, um sich selbst einer Heilung zuzuführen

Die NZZ spricht mit Leila Slimani über den Erfolg und das Leben als Literaturstar. Ratschläge für Frauen hat die Schriftstellerin auch: "Ich finde, Frauen müssen ihren inneren Engel töten. Dieses kleine Mädchen, das lieb und nett ist und immer zuerst an die anderen dnekt. Ich denke, um frei zu werden, muss man auch egoistisch sein und nicht allen gefallen wollen. ... Ich sehe so viele Leute, die allen gefallen und perfekt sein wollen. Sie leiden mehr als ich."

Um den Erfolg, und wie er einem am Schreiben auch hindern kann, geht es auch in dem Gespräch, das die Zeit mit Chris Kraus geführt und nun online gestellt hat. Auch auf ihre Tätigkeit als Lehrerin in Sachen kreatives Schreiben kommt die Sprache: "Es gibt Bücher, über die ich früher unterrichtete und heute nicht mehr", darunter Bücher, die Minderheiten als verletztend empfinden könnten oder in denen es zu ungefiltert um Drogenerfahrungen geht. Ganz geheuer sind Kraus solche Einwattierungen allerdings nicht: "Vor ein paar Jahren lud das Museum The Broad mich und andere Schriftsteller ein, aus dem Werk von Autoren vorzulesen, die Jasper Johns beeinflusst hatten" und ihre Wahl fiel auf Céline. "Ich bin jüdisch. Natürlich herrscht zwischen mir und Céline eine Spannung. Erschreckend aber war die Reaktion des Museums, das mich aufforderte, meinem Vortrag einen Hinweis voranzustellen, der klar machte, dass The Broad Céline ablehne. Völlig verrückt. Als ob eine Institution alles gutheißen müsse, was durch sie präsentiert wird."

Außerdem: Peter von Becker erinnert im Tsp an Dostojewski als Poe-Herausgeber. Die SZ dokumentiert Michael Maars Dankesrede zur Auszeichnung mit dem Werner-Bergengruen-Preis. Im Literaturfeature für den Dlf Kultur befasst sich Thomas David mit Patrica Highsmiths Zeit in Tegna. Paul Ingendaay (FAZ) und Karin Janker (SZ) schreiben zum Tod der spanischen Schriftstellerin Almudena Grandes.

Besprochen werden unter anderem Édouard Louis' "Die Freiheit einer Frau" (online nachgereicht von der FAZ), Gisela von Wysockis "Der hingestreckte Sommer" (Tsp), Simone de Beauvoirs Nachlassroman "Die Unzertrennlichen" (Tsp), PeterLichts "Ja okay, aber" (ZeitOnline), Anna Haifischs Comic "The Artist: Ode an die Feder" (taz) und Maren Wursters "Papa stirbt, Mama auch" (Tsp).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Rüdiger Görner über Georg von der Vrings "Dreifaches Ritornell":

"Wer Schilf belauschte,
Vernahm Geschwirr von Silben, ganz undeutbar..."
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Architektur

Song-Eun-Kunstzentrum in Seoul. Rendering: Herzog und de Meuron
In der NZZ beobachtet Philipp Meier, wie sich Seoul zum neuen Hotspot der Kunstszene in Ostasien aufschwingt. Dazu beitragen könnte auch das neue Song-Eun-Kunstzentrum, das Herzog und de Meuron für die Kunststiftung des Unternehmers Sung-Yeon Yoo entworfen haben. Ein spitzes in den Himmel ragendes Dreieck: "Seine ungewöhnliche Form eines schlank aufragenden Triangels schuldet es der begrenzten Grundfläche von rund tausend Quadratmetern. Aufgrund der Schattenwurf-Regulierungen musste man sich entscheiden, entweder niedrig und breit oder hoch und schmal zu planen. Um aber so hoch wie möglich und zugleich mit maximalem Volumen bauen zu können, haben sich die Architekten nach unzähligen Modellen für die wohl radikalste Version entschieden."

Das Grün steht nicht im Gegensatz zum Urbanen, erklärt der Architekturhistoriker Robert Kaltenbrunner in der FR: "Die Identität der Stadt basiert nicht nur auf Gestalt und Funktionsweise der bebauten, sondern auch der unbebauten, vegetativen Flächen. In gleicher Weise, wie Flussauen, Parks oder stadtnahe Waldgebiete das Bild einer Stadt prägen, sind sie auch immer wieder verantwortlich für ein besonderes Lebensgefühl breiter Bevölkerungsschichten. Jedoch braucht es auch wirtschaftliche Potenz und eine bestimmte Haltung der Entscheidungsträger in Stadtpolitik und Verwaltung zu grünen Freiräumen. Wer freien Zugang gewährt, zeitigt sicherlich andere Effekte einer urbanen 'Draußenkultur' als derjenige, der anspruchsvolle Grünräume gegen Eintritt mit Jahreskartenrabatt zugänglich macht und die Stadtbevölkerung mit gehypten Inszenierungen anlockt."
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Kunst

Besprochen werden die Ausstellung zu Edward Solly in der Berliner Gemäldegalerie (FAZ) und die neu gestaltete Sammlung des Londoner Courtauld Institute (FAZ).
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Design

Sehr verärgert über die von Claudia Schiffer kuratierte Ausstellung "Captivate" im Kunstpalast Düsseldorf zur Modefotografie der Neunziger greift Patrick Bahners (FAZ) in seinen kunstgeschichtlichen Handapparat, um anhand eines detaillierten kunsthistorischen Exkurses die Bilddeutung zu liefern, die das Museum Düsseldorf, offenbar geblendet vom großen Namen, versäumt hat. Das Haus "stellt überhaupt keine Kontexte bereit, jenseits der werbezweckgemäß stilisierten Informationen, die schon bei der Publikation der Aufnahmen vor drei Jahrzehnten verbreitet wurden. ... Die Ausstellung reproduziert den Mythos des Supermodels als der schlechthin modernen Frau, die sich durch Herrschaft über ihr Image emanzipiert habe, und beglaubigt ihn institutionell. Die auf fachliche Assistenz nicht angewiesene Kuratorin behält die Kontrolle: Was über Claudia und ihre Freundinnen zu sagen ist, lassen wir Claudias Sorge sein. Der kunsthistorische Vergleich ist die altmodischste Hilfestellung, die das Museum den Besuchern und der Sammlerin hätte anbieten können. Bildkritik und Institutionskritik sind heute Standardtechniken der Museumsarbeit. In diesem Fall hat es das Museum vorgezogen, die Sprache der ausgestellten Bilder und der Branche, die sie produziert, penibel zu kopieren."

Spiegel und FAZ melden den Tod des Modedesigners Virgil Abloh, der mit gerade einmal 41 Jahren an Krebs gestorben ist. In der NZZ schreibt Sabine von Fischer einen Nachruf: "Er vermählte bei LVMH Streetwear mit High-End-Mode, indem er Sneakers und Tarnhosen mit maßgeschneiderten Anzügen und Abendkleidern mischte. Beeinflusst wurde er durch Graffiti-Kunst, Hip-Hop und die Skateboard-Kultur. ... Im Pariser Louvre wollte er da Vincis Mona Lisa den Millennials näherbringen, am Vitra-Campus außerhalb von Basel die Möbelentwürfe von Jean Prouvé. Ohne Berührungsängste adaptierte er Ikonen aus Kunst und Design zu neuen Kompositionen."

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Film

Lady Gaga in "House of Gucci"

Alte, weiße Männer wollen es in dieser Woche im Kino nochmal wissen, schreibt Peter Körte in der FAS: Diese Woche starten "Benedetta" von Paul Verhoeven (83) und "House of Gucci" von Ridley Scott (84). Verhoevens spekulativer Nonnenfilm, der schon in Cannes die Kritiker erregte (unsere Resümees hier und dort) legt Körte angenervt zur Seite (der bediene nur das "inzwischen recht erschöpfte Softpornomuster für ein Publikum aus männlichen Cis-Boomern"), doch Scotts mit Lady Gaga, Al Pacino, Jeremy Irons und Adam Driver hochkarätigst besetzter Gucci-Film ist ein großer Kinoluxusspaß: "Visuell veranstaltet Scott ein großes Feuerwerk, deutlicher noch, als man es von ihm ohnehin gewohnt ist. Neue Kostüme und Accessoires in jeder Szene, verschwenderische Sets, eine agile, schwebende Kamera und dazu die Musik der Achtziger und Neunziger. ... Es schillert alles und changiert, Talmiglanz schlägt stilvollen Chic. Und die Typen mit dem Geld, die den angeschlagenen Gucci-Konzern retten sollen, hängen wie die letzten Prolls in Trainingsanzügen von AS Rom in ihrer teuren Suite."

Außerdem: Tim Lindemann wirft für den Freitag einen Blick darauf, wie sich das US-Indiekino dem Thema Armut in den ländlichen Regionen nähert.

Besprochen werden außerdem die Netflix-Serie "Kulüp" über Juden in Istanbul (taz), zwei neue Serien und ein Podcast über die Chippendales (TA), die neue Staffel der Netflix-Serie "Succession" (Freitag) und die ZDF-Serie "Westwall" (FAZ, FR).
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Musik

Die Feuilletons trauern um Stephen Sondheim, den Komponisten und Texter zahlreicher Musicals, am bekanntesten wohl seine Texte für die "West Side Story". Er war ein "Doppeltbegabter, in jeder Hinsicht untypisch für das amerikanische Musical - und doch hat er dieses Genre geprägt wie kaum ein anderer", hält Frederik Hanssen im Tagesspiegel fest. Er "reimte, ersann vertrackte Versformen, quälte sich mit passgenauen Alliterationen und achtete stets auf die wenigstens mittelbare Verbindung zwischen Klang und Text", schreibt Reinhard Köchl auf ZeitOnline. "Nur anfangs gerieten seine artifiziellen Wortgebilde mitunter aus den Fugen." Bei der "West Side Story" etwa "ließ Sondheim seinen da noch jugendlichen narzisstischen Neigungen freien Lauf bei der Figur der Maria, die aus einfachen puertoricanischen Verhältnissen stammt: 'It's alarming how charming I feel!', jubilierte die - reim dich oder ich fress dich! Später ging Sondheim mit sich selbst ins Gericht, weil dieser Satz die Aufmerksamkeit zu sehr auf den Autor gelenkt habe. Vorgekommen ist ihm derlei von da an nie mehr."

Der Schriftsteller und Musical-Librettist Michael Kunze verneigt sich in der SZ vor einem "großen Lehrer." Auch wenn seine Stücke selten kommerziell erfolgreich waren, verdankt Sondheim seinen Rang gerade dieser Anerkennung durch Kollegen und Schüler, schreibt Patrick Bahners in der FAZ, weil diese "ihre Aspirationen in seiner Arbeit wiedererkannten und den Techniker verehrten, den unübertroffenen Wortschmied. Dass so viel auf den Wortlaut ankommen soll, ist schon in 'Brush Up Your Shakespeare' ein Witz des Dichters auf eigene Kosten. Porter reimte scheinbar ohne Aufwand 'quote with ease' auf 'Euripides'. Sondheim, der Mann der artistischen Bravourstücke, beherrschte auch den dreifachen Reimberger: 'But no one dared to query her / superior / exterior.'" Und ganz toll: Der gesammelte Broadway hat sich gestern von Sondheim verabschiedet:



Die auf Amazon gezeigte Bushido-Doku "Unzensiert" ist in erster Linie ein Imagefilm, der den wegen seiner früheren Geschäfte mit dem Abou-Chaker-Clan derzeit arg bedrängten Rapper als Sympathieträger in Szene setzen soll, seufzt Daniel Gerhard auf ZeitOnline. "Aufschlussreich ist das vor allem, wenn Bushido den Imagefilm selbst torpediert. Eben noch spricht er kleinlaut über seine früheren polizeifeindlichen Texte, dann blitzt die alte Wut auf, wenn er sich in die nächste Tirade gegen Abou-Chaker hineinsteigert. Mehrmals kokettiert Bushido mit seiner derzeitigen Rolle als Vollzeitvater im Jogginganzug. ... Dann spricht er wieder wie ein wandelndes Wörterbuch der unsensiblen Ausdrucksweisen und demonstriert ein Humorverständnis, das ihm erlaubt, Details des eigenen Sexlebens vor Ehefrau und Kamera zu enthüllen. Immerhin das lernt man in Unzensiert: Zu klein will sich der Mann am Ende auch nicht machen."

Besprochen werden Peter Jacksons Beatles-Doku "Get Back" (taz, mehr dazu hier) und eine Aufnahme der durch eine KI vervollständigten 10. Sinfonie Beethovens, die FAZ-Kritiker Clemens Haustein jedoch für ziemlich missglückt hält.
Archiv: Musik