Efeu - Die Kulturrundschau

Das Unstete als ästhetischer Motor

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02.06.2022. Die FR beugt sich entzückt über prächtig weiße Elfenbeinkunst. Die Filmkritiker finden die Grundbedingungen des Menschseins widergespiegelt in Joachim Triers Film "Der schlimmste Mensch der Welt". Die taz fragt: Könnte Theater nicht auch mal unbequemes Überdenken eigener Haltungen anregen? Die FAZ berichtet von der Verhaftung der simbabwischen Autorin Tsitsi Dangarembga, die für Reformen in ihrem Land eingetreten ist. Das Van Magazin protestiert gegen die geplante Erhöhung der Portokosten für Warensendungen ins Ausland: Das treffe vor allem kleinere Schallplattenhändler und -labels.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.06.2022 finden Sie hier

Film

Wie geht's weiter? Es gibt kein Richtig, es gibt kein Falsch: Joachim Triers "Der schlimmste Mensch der Welt"


In seinem neuen Film "Der schlimmste Mensch der Welt" erzählt Joachim Trier anhand einer Frau in ihren Zwanzigern "von den Entscheidungen, bei denen es kein richtig oder falsch gibt und mit denen wir uns für ein mögliches Leben und gegen eines oder unzählige andere entscheiden", schreibt Jochen Werner im Perlentaucher: Affäre oder nicht? Trennen oder nicht? "Überhaupt ist das das Hauptthema dieses an der narrativen Oberfläche so schlichten, emotional aber subtilen und komplexen Films, der seine Protagonistin durch einen Zeitraum von mehreren Jahren und Lebensphasen begleitet: wie sich, je länger wir leben, die Anzahl der Leben, die wir nicht gelebt haben, immer höher hinter uns auftürmt."

Der Regisseur "präsentiert das Panoptikum eines späten Erwachsenwerdens", schreibt Jens Balkenborg im Freitag, "und das mit einem Hang zu Verspieltheit und Anarchie, der den Film selbst in Bewegung hält und für Überraschungen sorgt: das Unstete als ästhetischer Motor." taz-Kritikerin Arabella Wintermayr sieht in dem Film "eine feinfühlige Reflexion über die Grundbedingungen des Menschseins". Andreas Busche staunt im Tagesspiegel über die Hauptdarstellerin Renate Reinsve, deren "Strahlkraft weit über das bloße Derivat eines Hollywood-Glamours hinausgeht. Sie verkörpert die erhitzte Euphorie über die mannigfaltigen Möglichkeiten ihrer Selbstverwirklichung wie auch die latente Depression einer permanenten Überforderung mit einer Unbekümmertheit, die den Film in seinen besten - und selbst in seinen schwächeren - Momenten trägt." Weitere Besprechungen auf ZeitOnline und in der SZ.

Weitere Artikel: Andreas Scheiner (NZZ) und Daniel Kothenschulte (FR) gehen dem Erfolg von Tom Cruise' neuem "Top Gun"-Film auf den Grund. Besprochen werden Jonas Engströms "Dark Spring" aus dem Jahr 1970, der heute die dem Regisseur gewidmete Retrospektive im Berliner Kino Arsenal eröffnet (Perlentaucher), Graham Moores Thriller "The Outfit" mit Mark Rylance (FR, FAZ), Marcus Lenz' "Rivale" (taz, SZ), Arthur Hararis "Onoda - 10.000 Nächte im Dschungel" (Tsp) und die DVD-Ausgabe von Henry Cornelius' "I Am a Camera" (taz). Außerdem verrät die SZ, welche Filme sich lohnen und welche nicht.
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Bühne

Gewalt, Missbrauch, Kapitalismus, alte weiße Männer - das Theater wird nicht müde, dies, das und jenes anzuprangern. Muss sicher auch sein, aber sollte Theater nicht noch etwas mehr können, fragt Björn Hayer in der taz. Es "muss die Frage erlaubt sein, was die schiere Häufung derartig gelagerter Aufführungen überhaupt im Theater bezwecken soll und wen sie adressieren? Werden sie wirklich von denen nachdenklich wahrgenommen, die für die desaströsen Zustände verantwortlich sind oder zeigen sich nicht vielleicht doch Tendenzen einer zunehmend selbstzirkulären Theaterbranche?" Sicher gehe es den Theatermachern und ihrem zustimmenden Publikum um mehr Gerechtigkeit. "Nimmt man dies an, so dienen die Bühnenanklagen zumeist augenscheinlich der Bestätigung einer gewiss wichtigen, kritischen Weltsicht. Was dieses von Oberseminaren inspirierte Theater allerdings nur noch begrenzt einlöst, ist das Versprechen der Alterität. Es bietet kaum Raum für Überraschungen oder emotional tief ergreifende Augenblicke, es mangelt ihm an Reibungsfläche und Widerständen, die einen zum auch einmal unbequemen Überdenken eigener Haltungen provozieren."

Weiteres: Juan Martin Koch denkt anlässlich der Münchener Musiktheater-Biennale 2022 in der nmz über die Aktualitätsfähigkeit von Oper nach. Besprochen werden Uta Hertnecks feministische Version der "Brünhilde" im Theater im Delphi (Tsp), Händels "Orlando" in Halle (nmz) und "Das Gespensterschloss" von Stanislaw Moniuszko in Wiesbaden (FR).
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Kunst

Einnickender Mann mit Pfeife und Humpen, Paul Heermann, Dresden?, 1. Drittel 18. Jahrhundert. Liebieghaus Skulpturensammlung - Sammlung Reiner Winkler


"Wenn man sich ein wenig einsieht in die hauchzarte Haut, die filigran gearbeiteten Locken, das feinziselierte Ornat, stellt man fest, dass man sich daran kaum sattsehen kann", versichert FR-Kritikerin Sandra Danicke, die im Frankfurter Liebieghaus entzückt die prächtig weiße Elfenbeinkunst aus der nun vollständigen Sammlung Reiner Winklers betrachtet, darunter auch einige Porträtmedaillons. "Wer beim Anblick der weißen Porträts ins Schwärmen gerät, wird bei zwei religiösen Relieftafeln, die der Franzose Jean-Antoine Belleteste im 18. Jahrhundert in Dieppe angefertigt hat, erst recht hin und weg sein. Nicht nur von Maria, die aus Anlass der Verkündigung durch den Engel Gabriel vom Stuhl auf die Knie gesunken ist, sondern auch von den zahlreichen Detaildarstellungen im Hintergrund: dem gemusterten Lehnstuhl, den Butzenscheiben, dem Bücherregal und dem Korb, aus dem ein Stoffknäuel so üppig quillt, als feiere es die frohe Botschaft auf seine Weise."

Einer der Austragungsorte der Documenta wurde mit Parolen beschmiert, die als rechtsextrem gelesen werden können (Peralta steht dort, möglicherweise eine Anspielung auf den Namen der Leiterin einer rechtsextremen Jugendorganisation in Spanien). Das Documenta-Kollektiv Ruangrupa hat jetzt Strafanzeige gestellt und der Bürgermeister von Kassel, Christian Geselle, nutzte die Gelegenheit anzudeuten, die Kritiker von Ruangrupa könnten eine Mitschuld an dem Vorfall haben. "Will Geselle tatsächlich bedrohliche Schmierer mit jenen in einen Topf werfen, die an einer Debatte interessiert sind?", fragt empört Stefan Trinks in der FAZ. "Sind die aus begründetem Anlass Diskutierenden der meisten deutschen Zeitungen demnach als geistige Brandstifter direkt mitschuldig an den Schmierereien? ... Durch den Relativismus, mit dem unter anderem Ruangrupa auch BDS-nahe Positionen auf der Documenta dulde, werde 'der Antisemitismus auf ziemlich selbstgerechte Weise gleich mit relativiert', schrieb der deutsch-jüdische Künstler Leon Kahane. Diese Selbstgerechtigkeit setzt sich in der Reaktion auf die Schmierereien fort."

Weitere Artikel: In der Zeit amüsiert sich Hanno Rauterberg über die Tortenschlacht im Louvre, die die Mona Lisa ewig lächelnd überstand. In der SZ berichtet Andrian Kreye über eine Podiumsdiskussion auf der Digitalkonferenz DLD zum Thema NFTs und Kunstbegriff.

Besprochen werden die Oskar-Zwintscher-Ausstellung im Dresdner Albertinum (SZ), die Ausstellung zur "Nouvelle Objectivité" im Pariser Centre Pompidou (Tsp), eine Berliner Doppelausstellung des ökologischen Aktionskünstlers Klaus Rinke in der Foundation Haubrok und der Kicken-Fotogalerie (Berliner Zeitung), eine Ausstellung mit Zeichnungen und Installationen von Harriet Groß in der Guardini Galerie in Berlin (taz), die Ausstellung "In the Company of" mit elf feministischen Künstlerinnen der letzten 50 Jahre im Eden Eden in Berlin (taz), eine Gaming-Ausstellung in der Julia Stoschek Collection in Düsseldorf (Zeit), die Ausstellung "Macht. Mittel. Geld" im Museum für Hamburgische Geschichte (taz), die Ausstellung "Kurfürst mit Weitblick" im Schloss Augustusburg bei Chemnitz (FAZ) und ein Bildband über die deutsche Autobahn des Fotografen Michael Tewes (Tsp).
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Literatur

Die 2021 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnete Autorin Tsitsi Dangarembga steht in Simbabwe vor Gericht, weil sie bei einer Demonstration Reformen für das Land gefordert hat, meldet Fridtjof Küchemann in der FAZ - ihr drohe eine mehrjährige Haftstrafe. Diese Woche sagte der Polizist gegen sie aus, der sie verhaftet hatte. "Olaf Koschke, der Ehemann der Autorin, zitiert den Zeugen mit der Aussage, sie hätten ausdrücklich den Befehl gehabt, verbotene Demonstrationen zu stoppen. Im Aufruf zur Freilassung von Journalisten habe der Polizist vor Gericht der Anklage gemäß eine Verletzung des Friedens gesehen, in der Forderung nach Reformen den Ausdruck von gegen die Regierung gerichtetem Fanatismus: 'Er war mit der Verfassung nicht vertraut, die diese Dinge eindeutig erlaubt, kannte keine Verfassungsparagraphen', kommentiert Koschke. Die Plakate, die vor Gericht als Beweismittel gezeigt wurden, seien nicht die Originale der Protestaktion, berichtet Fungisai Sithole, die für die Friedrich-Naumann-Stiftung den Prozess beobachtet."

In der SZ spricht Anne Weber über den hierzulande noch als Geheimtipp gehandelten, 1991 verstorbenen französischen Schriftsteller André Dhôtel, dessen Werk sie übersetzt hat und dessen Erzählexperimente ihn in die Nähe des Nouveau Roman rücken, "mit dem Unterschied allerdings, dass er dafür keine Theorie brauchte. Er erzählte Geschichten, wenn auch auf unkonventionelle Weise. Das macht sein Werk unabhängig von literarischen Moden oder Bewegungen und erklärt vielleicht auch, warum so unterschiedliche Leute sich für ihn interessierten wie Maurice Blanchot, sein Lektor Jean Paulhan, Philippe Jaccottet oder heute Peter Handke."

Außerdem: Jörg Häntschel spricht für die SZ mit Don Winslow darüber, warum er nach der Trilogie, zu der sein neuer Roman "City on Fire" den Auftakt bildet, das Schreiben an den Nagel hängen und für die demokratische Partei gegen eine befürchtete Rückkehr Trumps trommeln will. In einem Longread für die Jungle World denkt Jörg Sundermeier darüber nach, ob Miguel de Cervantes mit seinem "Don Quijote" die postfaktischen Zeiten vorweggenommen hat. Ijoma Mangold schreibt in der Zeit zum Tod von F.C. Delius (weitere Nachrufe hier).

Besprochen werden unter anderem neue Veröffentlichungen zu Proust (Tsp), S. A. Cosbys Krimi "Die Rache der Väter" (TA), Catalin Dorian Florescus "Der Feuerturm" (Tsp), Ilya Kaminskys "Republik der Taubheit" (Tsp), neue Hörbücher, darunter Raoul Schrotts "Orestie"-Bearbeitung (SZ), Louis-Ferdinand Célines "Guerre" (Welt) und die Werkausgabe Mechtilde Lichnowsky (FAZ).
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Musik

Die Zeit hat ein episches Interview mit Anna Netrebko geführt, in dem die Sopranistin ausführlich über ihre lange eher schwammige Haltung zum Ukrainekrieg und die Reaktionen darauf spricht. Sie könne es eben nicht allen recht machen, meint sie: "Ich bin keine Heimatverräterin, und ich bin auch nicht gegen die Ukraine." Die Metropolitan Opera habe sie zu einem Statement gedrängt, das sie abgelehnt hat: Peter Gelb "hat mir die Worte vorgeschlagen, die ich benutzen sollte. Und ich habe geantwortet: Das kann ich nicht machen! Niemand in Russland kann das. Putin ist immer noch der Präsident Russlands. Ich bin noch immer eine russische Staatsbürgerin, da kann man so etwas nicht machen. Verstehen Sie?"

Die Deutsche Post will zum 1. Juli 2022 ihre Portokosten für Warensendungen ins Ausland mitunter drastisch erhöhen - angeblich um im Sinne der Kunden weniger Komplexität zu schaffen. Sie gefährdet damit aber das Geschäftsmodell insbesondere kleinerer Schallplattenhändler und -Labels, die sich in den letzten Jahren über einen beträchtlichen Boom freuen konnten, berichtet Sebastian Solte im VAN-Magazin. Künftig "befördert die neue Warenpost International keine Sendungen mit einer Breite von über 25 cm mehr, wodurch normale 12"-Vinyls (Durchmesser 30,48 cm) kategorisch ausgeschlossen sind. Für sie bietet DHL freundlicherweise das Päckchen M an, wodurch sich der Versand einer Platte aus Europa heraus um 116,19 Prozent (getrackt, von 7,35 Euro auf 15,89 Euro zzgl. Umsatzsteuer) bzw. satte 217,80 Prozent erhöht (ungetrackte Warenpost vs. Päckchen M, von 5 Euro auf 15,89 Euro zzgl. Umsatzsteuer). ... Dass bei all dem 'die Wünsche der Versenderkunden' erfüllt werden, mag in Bezug auf manche Großkunden sogar stimmen. In jedem Fall ist aber davon auszugehen, dass viele Angebote vom Markt verschwinden werden: zu Lasten der Kleinen und der Vielfalt. Und damit hätte die Deutsche Post auch ihr Ziel erreicht: Reduktion von Komplexität."

Außerdem: In der NZZ erklärt die Solistin Sol Gabetta, warum sie mit ihrem Pfingstfestival Luganer Kulturzentrum LAC insbesondere in der Beleuchtung der Bühne und der räumlichen Anordung der Musiker darauf neue Wege gehen will. Der Schriftsteller Jan Brandt feiert auf ZeitOnline das 50-jährige Bestehen der Metal-Götter Judas Priest. Ljubiša Tošic vom Standard wünscht sich mehr Komponistinnen im Konzertprogramm der Klassikhäuser. Dazu passend widmet sich Arno Lücker in seiner VAN-Reihe über Komponistinnen in dieser Woche Anna Teichmüller (hier) und Agnes Zimmermann (dort). Helmut Mauró porträtiert in der SZ den Mailänder Pianisten Filippo Gorini. Im VAN-Magazin spricht die Pianistin Nina Gurol über ihre Arbeit als Sterbebegleiterin. Volker Hagedorn schreibt im VAN-Magazin über seine Annäherung an Ethel Smyth und Claude Debussy.

Besprochen werden ein Bruckner-Konzert der Sächsischen Staatskapelle Dresden unter Christian Thielemann in Wien (Standard), ein Konzert von Billie Eilish in Bonn (ZeitOnline) und Elton Johns Auftritt in Bern (TA). Außerdem bringt das Logbuch Suhrkamp die neue Folge von Thomas Meineckes "Clip//Schule ohne Worte".

Archiv: Musik