Efeu - Die Kulturrundschau

Der Reiz von Oberflächen

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02.07.2022. Der Weg zum Massaker von Butscha führt nicht über die russische Literatur, sondern über Publikationsverbote von Dostojewski und Bulgakow, ruft in der FAZ Michail Schischkin all jenen zu, die keine russische Literatur mehr sehen wollen. Die taz bewundert die Stoffbilder von Nadira Husain. 54books bewundert Tom Cruises Fokus auf versimilitude. Pitchfork erliegt den ekstatischen Qualitäten des Elektronik-Duos Two Shell.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.07.2022 finden Sie hier

Literatur

"Es tut weh, Russe zu sein", schreibt Michail Schischkin in der FAZ. Er verteidigt dennoch die russische Literatur gegen ihre heutigen Kritiker. Der russische Staat selbst sei ihr größter Widerpart, und immer schon gewesen: "Der Weg zum Massaker von Butscha führt nicht über die russische Literatur, sondern über Publikationsverbote von Dostojewski und Bulgakow, Nabokov und Brodsky, Achmatowa und Platonow, über die Erschießungen von Nikolai Gumiljow und Isaak Babel, die Tragödien von Marina Zwetajewa und Perez Markisch, die Ermordung von Ossip Mandelstam und Daniil Charms, über die Hetze gegen Pasternak und Solschenizyn. Der Weg zu diesem Krieg führt über Jahrhunderte des verzweifelten und immer wieder verlorenen Widerstandskampfes der Kultur gegen die verbrecherische Staatsmacht."

Weitere Artikel: Andrea Pollmeier berichtet in der FR vom Frankfurter Festival LiteraTurm. Thomas Thiel berichtet in der FAZ von einer Diskussion Peter Trawneys, Herausgeber der "Schwarzen Hefte" Heideggers, mit Peter Sloterdijk beim Literaturm. In der FAZ gratuliert Thomas Thiel dem Kulturwissenschaftler Thomas Macho zum Siebzigsten.

Besprochen werden Wolfgang Müller-Funks zwölf Kapitel einer Diskursgeschichte der Grausamkeit "Crudelitas" (Standard), Marie Malcovatis Roman "Als hätte jemals ein Vogel verlangt, dass man ihm ein Haus baut" (FR), Michael Krügers Buch "Über Gemälde von Giovanni Segantini" (NZZ), Ilya Kaminskys "Republik der Taubheit" (SZ), Gavin Maxwells "Ein Ring aus hellem Wasser" (SZ), Jules Renards Tagebuch "Nicht so laut, bitte!" (taz) und Irene Vallejos "Papyrus" (Welt).

In der Frankfurter Anthologie schreibt Rüdiger Görner über Jan Volker Röhners Gedicht "Frankfurt":

"Die Erinnerung setzt sich in Länder
ab, die hinter dem Augenblick sind -
darin schlägt das Lächeln Wurzeln,
..."
Archiv: Literatur

Kunst

Ausschnitt aus Ausstellungsansicht "Manzil Monde" - Nadira Husain, Institut Mathildenhöhe Darmstadt, 2022, Foto: Marjorie Brunet Plaza


Wie auf einem prächtigen transkulturellen Stoffbasar fühlt sich tazlerin Katharina J. Cichosch beim Besuch von Nadira Husains Ausstellung "Manzil Monde" in der Darmstädter Künstlerkolonie Mathildenhöhe: "Prächtig gemusterte Stoffe in allen Dessins schimmern hier um die Wette, sie liegen über einem großen Sitzobjekt drapiert und hängen in mannigfaltigen Kombinationen an der Wand, wo sie aus zahlreichen Einzelelementen zusammengenäht mal opulentes Wimmelbild, mal Form- und Materialstudie nachzuahmen scheinen. Manche Stoffarbeiten ragen bis auf den gelbgoldenen Teppich, der den gesamten Raum in Heiterkeit taucht. ... Ihre Bilder kennen keinen strengen räumlichen Vorder- oder Hintergrund. Motive werden auf Stoffe gemalt oder gezeichnet und wiederum auf andere Stoffe aufgenäht. Bei aller farbenprächtigen Opulenz bewahren sich Husains Arbeiten zudem eine ausgesprochene Zartheit. Man könnte es auf die Gleichzeitigkeit ihrer Motive und die oftmals transparenten Materialien schieben: Alles kann sich überlagern oder gegenseitig durchdringen."

Katrina Daschner, Golden Shadow, 2022, Filmstill, Courtesy die Künstlerin


Ein faszinierter Dominik Kamalzadeh (Standard) sieht Körper-, Tier- und Naturbilder zusammenfließen in der Ausstellung "Burn & Gloom! Glow & Moon!" der Experimentalfilmerin Katrina Daschner in der Kunsthalle Wien. Und das ist nicht alles: "Performance-Elemente sind ein Teil davon, das Verwandlungsspiel der Burlesque, vor allem eine ungebremste Lust, den Reiz von Oberflächen mit großer Geste auszukosten: Sie wolle die Welt 'mit den Augen anfassen', sagt sie über ihren Anspruch, die Grenzen zwischen Künstlichkeit und Natur zu verwischen. Die jüngste Arbeit, das Zentralstück der Schau, ist die prächtige Doppelprojektion 'Golden Shadow'. Sie ist narrativer als sonst, allerdings versteht Daschner das Erzählerische mehr wie eine 'Koralle, die in alle Richtungen wächst'."

Weitere Artikel: In der Berliner Zeitung sucht Joseph Croitoru mit einiger Sympathie die Motive für das inzwischen abgehängte Documenta-Monumentalbild von Taring Padi zu verstehen, bekommt aber nicht genug Informationen von der Gruppe, um den Antisemitismusvorwurf auszuräumen. Roland Düker sah für Zeit online auf der Documenta eine Performance von Taring Padi, die den Kampf gegen das Suharto-Regime symbolisieren sollte. Bruno Pellegrino erzählt in der NZZ von Ginevra Cantofolis Gemälde "Donna con turbante", enstanden um 1650, das er zum ersten Mal in der Galleria nazionale in Rom sah und das ihn faszinierte.

Besprochen wird außerdem eine große Hannah-Höch-Schau im Kulturspeicher Würzburg (FAZ).
Archiv: Kunst

Bühne

Besprochen werden Susanne Kennedys Inszenierung der Philip-Glass-Oper "Einstein on the Beach" im Haus der Berliner Festspiele (Berliner Zeitung, Tsp, nachtkritik), "Molière oder der Heiligenschein der Scheinheiligen" nach Michail Bulgakow bei den Sommerspiele im österreichischen Perchtoldsdorf (nachtkritik, Standard), die Performances "Nuture" von Samuli Laine und "Is This A Room: Reality Winner Verbatim Transcription" von Tina Satter beim Braunschweiger Festival Theaterformen (nachtkritik)
Archiv: Bühne

Film

Lässt sich von einem Hubschrauber testen: Tom Cruise in "Mission Impossible 6"


Tom Cruise wird morgen sechzig. Bei 54books erklärt Fabius Mayland, warum er dem Actionstar, der seine Stunts selbst ausführt gerade in seine oberflächlichsten Filmen einiges abgewinnen kann: "Der einzige andere Darsteller, der sich für das Actionkino so verletzbar gemacht hat, dürfte wohl Jackie Chan sein, dessen Produktionen in den Achtzigern und Neunzigern im Abspann häufig Outtakes zeigten, in denen die Stunts daneben gingen - und Jackie sich den einen oder anderen Knochen brach. Aber auch dieser Vergleich hat seine Grenzen: in den Genrefilmen Jackie Chans (und auch seiner fast ebenso halsbrecherischen Kolleg*innen der 1980er und 1990er, Sammo Hung, Yuen Biao, oder Michelle Yeoh) geht es - nicht immer, aber häufig - um eine sehr direkte Körperlichkeit, um Faustkämpfe, die von schnellen Bewegungsabläufen geprägt sind. Was Tom Cruise hingegen besonders zu faszinieren scheint, ist, wenn man es so sagen möchte, der Mensch als Cyborg: auf dem Motorrad, im Flugzeug, mit Saugnäpfen an einem Wolkenkratzer. Die Bewegtbilder, die diese Filme mit so viel Realismus einfangen, handeln von Menschen, deren Grenzen von Maschinen getestet werden." In der SZ schreibt Tobias Kniebe zum Sechzigsten von Cruise.

Altersdiskriminierung und Diversity-Klischees - das waren Themen zweier Podiumsdiskussionen beim Filmfest München. Dabei ist es "höchste Zeit, das Identitäre - also die Bestimmungen aufgrund von unhintergehbaren biologischen oder geo- und soziopolitischen Determinanten wie Gender, Age, Race und Class - hinter sich zu lassen und endlich einmal genauer hinzusehen", denkt sich Dunja Bialas auf Artechock. "Keine Orthodoxie und keine Ortho-Regie, wie es jetzt durch das Diversitätspostulat à la Hamburger Filmstiftung MOIN passiert, die eine Diversity-Checkliste der Projektförderung voranstellt, aber auch kein 'Junge Frauen first', kein 'Alte Frauen first'. Kein 'Alte weiße Männer first', kein 'Junge migrantische Männer first'. Sondern bitte ausschließlich den Mut, Dinge anders zu machen, sich von alten Schablonen und Denkweisen verabschieden, ohne neue Schablonen zu fordern oder gar zu praktizieren, wie es heute mehr und mehr der Fall ist."

Besprochen werden die Amazon-Serie "The Terminal List" mit Chris Pratt (BlZ) und Emmanuel Carrères Film "Wie im echten Leben" (FAZ).
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Design

Wer erfand die Zukunft in der Mode, nur um sie dann nach Kräften finanziell melken zu können? Pierre Cardin, der vor hundert Jahren geboren wurde, erinnert Arno Widmann in der FR. "So sehr wir dazu neigen mögen, Cardins Entwürfe als typisch für seine Zeit zu lesen, so erinnern gerade sie uns daran, dass eine Epoche nicht von einer einzigen Richtung definiert wird, sondern eher von den sie charakterisierenden Widersprüchen, von den Konflikten, die sie austrägt. Die Blumenkinder, die Hippies waren das Gegenmodell zu Cardins Techno-Chic der sechziger Jahre. Gegen die große Verweigerung der Protestgeneration stellte Cardin den ungezügelten Konsumismus."
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Stichwörter: Techno, Hippies

Musik

Exzellentes Album, freut sich Pitchforks Philip Sherburne über "Icons", das neue Album des britischen Elektronikduos Two Shell. Kühn, avantgardistisch und mit reichlich schelmischem Humor ausgestattet sind die zwei, was man auch bei "Icons" merke: "Verglichen mit dem halsbrecherischen Tempo und den Zuckerwatte-Texturen ihres jüngsten Dschungel-Edits 'Home' klingen die fünf Tracks von 'Icons' zunächst fast behäbig. Es gibt jede Menge beschleunigte Vocals und flotte Synthies, aber die Tempi sind gemessener, die Strukturen stromlinienförmiger, die Beats entsprechen eher dem letzten Jahrzehnt des basslastigen UK-Techno. Joy Orbisons bahnbrechende Single 'Hyph Mngo' aus dem Jahr 2009 ist ihr offensichtliches Vorbild; man kann sie fast wortwörtlich in der schluckenden Gesangsschleife des eröffnenden 'Ghosts' und den flatternden Synthesizern von 'Pods', das folgt, hören. Auch wenn es sich hierbei kaum um eine obskure Auswahl handelt - kein Song markierte mehr das Ende der Dubstep-Ära und den Beginn des darauf folgenden amorphen stilistischen Durcheinanders -, ist es doch schon eine Weile her, dass jemand die ekstatischen Qualitäten des Songs so hartnäckig hervorgehoben hat. Praktisch jedes Element von 'Icons' fühlt sich so an, als würde es den schwindelerregenden Rausch eines Nachtclubs wiedergeben, wenn ein neuer Sound zum ersten Mal seine Krallen in dich schlägt."

Hier eine Kostprobe:



Bei The Quietus empfiehlt Amanda Farah "Tresor" der Singer-Songwriterin Gwenno Saunders - auch wenn sie kein Wort versteht. "Ihr drittes Album, 'Tresor', ist eine Reise durch verschiedene stilistische Ansätze, die von Folk-Einflüssen über die hellen Poptöne, für die sie am besten bekannt ist, bis hin zu einer selbstbewussteren Richtung reicht. 'Tresor' ist auch das zweite Album von Gwenno, das hauptsächlich in der kornischen Sprache verfasst ist. Man kann derzeit nicht Google Translate benutzen, um Kornisch zu übersetzen, also ist jedes Angebot an kompositorischer Vertrautheit willkommen. Der Album-Opener 'An Stevel Nowydh' bringt eine warme Sechziger-Jahre-Nostalgie in die Produktion, die sich durch die ersten paar Stücke zieht. Es ist, als ob Gwenno den Hörer wissen lassen möchte, dass er sich in einer vertrauten Umgebung befindet, auch wenn er die Straßenschilder nicht lesen kann."

Wir hören rein:



Weitere Artikel: "Kaum eine Kammermusikformation hat im letzten Jahrzehnt für die eigene Besetzung so viel Pionierarbeit geleistet wie das Trio Catch", würdigt im Van Magazin Hartmut Welscher das bislang weibliche Klarinettentrio, von dem sich jetzt nach zwölf Jahren Boglárka Pecze verabschiedet hat. In Quietus unterhält sich Jude Rogers mit dem Produzenten Pete Bellotte über Donna Summers Hit "I Feel Love", der vor 45 Jahren schien.

Besprochen werden das neue Album von Jochen Distelmeyer "Gefühlte Wahrheiten" (taz), zwei Konzerte der Münchner Musica Viva mit Werken für Kontrabass und Klarinette von Mark Andre (FAZ), ein Konzert von Billie Eilish in Berlin (taz) und das Album Album "Jazz Codes" von Camae Ayewa alias Moor Mother (Zeit online).
Archiv: Musik