Efeu - Die Kulturrundschau

Budgets wie für einen Actionfilm

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17.05.2023. Die Filmfestspiele in Cannes starten mit Maïwenns Historiendrama "Jeanne du Barry" mit Johnny Depp als müdem König Ludwig XV. Der Tagesspiegel erkennt die Ironie darin, ZeitOnline fordert eine Palastrevolte gegen die Leitung des Festivals. Abseits der Croisette wird den Filmkritiker durchaus mulmig bei Ulrich Seidls Film "Sparta". Die Berliner Zeitung huldigt der Diva und Muse Tilla Durieux. In der NZZ verliert Wolfgang Joop die Lust am Fashion-Irrsinn.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.05.2023 finden Sie hier

Film

Jetzt bitte alles, nur keine Revolution: Regisseurin Maiwenn und Johnny Depp in "Jeanne du Barry"

Mit Maïwenns Kostümfilm "Jeanne du Barry" haben gestern die Filmfestspiele in Cannes begonnen. "Einer gewissen Ironie entbehrt es nicht, ein Filmfestival mit einem Historiendrama über eine dahinsiechende Regentschaft zu eröffnen", schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel, und das "in einem Jahr, das laut Cannes-Chef Thierry Frémaux eigentlich für einen Wandel stehen soll." Der Eröffnungsfilm signalisiert allerdings eher Wille zur Tradition: "pompöses Starkino mit Schauwerten, aber betulich erzählt und somit breitenwirksam genug, um den Film vom Festival aus direkt großflächig in den französischen Kinos zu starten." Und dass das Festival damit auch "dem in Hollywood in Ungnade gefallenen Johnny Depp in Cannes eine Bühne für sein Comeback bietet, wird außerhalb von Frankreich durchaus kritisch gesehen". Anke Leweke von ZeitOnline erlebte einen "pompös-leeren Auftaktfilm" um höfische Ränkespielereien, die zu nichts führen. Umso mehr beschleicht sie beim Blick aufs Festivalprogramm "das Gefühl: Dieses Programm braucht eine Palastrevolution."

Er interessiere sich nur für den Schauspieler Johnny Depp und die Rede- und Denkfreiheit, zitiert Maria Wiesner den auf seine Entscheidung für diesen Auftaktfilm angesprochenen Festivalleiter Thierry Fremaux in der FAZ. Entsprechend blickt Wiesner auf Depps Verkörperung von König Louis XV.: "Die Rolle mit einem Amerikaner zu besetzen ist ein Wagnis, das Maïwenn klug minimiert: Sie gibt Depp wenig Dialog, er hat die Sätze mit einem Sprachtrainer eingeübt und sich ansonsten laut eigener Aussage an Stummfilmvorbildern wie Charlie Chaplin und Buster Keaton orientiert. Königliche Präsenz durch Körpersprache und Mimik."

Zunächst durchaus fasziniert schaut SZ-Kritiker Tobias Kniebe dabei zu, wie die Regisseurin sich in der Titelrolle als Kurtisane aus einer niederen Schicht am Hof von Versailles durchschlägt. Das spiegelt auch Maïwenns eigenes Leben wieder, die als 16-Jährige den Regisseur Luc Besson heiratete und sich in der Filmindustrie behaupten musste. So wirkt auch dieser Film zunächst wie ein "Triumph über alle Widrigkeiten" und "als Selbstbehauptung in einer verrückten Welt". Doch "schlecht daran ist nur, dass Maïwenn ihrer Hauptfigur jede Agenda nimmt, um sie trotz der tobenden Sittenwächter möglichst rein erscheinen zu lassen. Sie ist permanent Opfer weiblicher Aggression um sie herum."

Georg Friedrich in "Sparta" von Ulrich Seidl

Abseits der Croisette: In dieser Woche startet Ulrich Seidls "Sparta" bei uns. Der Film über einen pädophilen, allerdings nicht übergriffigen Judolehrer namens Ewald (Georg Friedrich), der eine Gruppe Kinder vor dem Männlichkeitsgehabe in einer kleinen Dorfgemeinschaft schützen will, war vor einigen Monaten ins Gerede gekommen, als eine etwas diffuse Spiegel-Recherche der Produktion vorwarf, Grenzen überschritten zu haben. Die Aufarbeitung durch die österreichische Filmförderung führte zwar zu dem Ergebnis, dass es keine Pflichtverletzung geben habe. Mulmig zumute wird Tagesspiegel-Kritikerin Christiane Peitz, die dem Film durchaus etwas abgewinnen kann, aber hier und da durchaus: "Einmal duschen die Jungs in Unterhosen und Georg Friedrich steht nackt bei ihnen. Es geschieht nichts weiter, aber was hat Seidl den Kindern am Set gesagt? Wann kippt Schauspielerführung in unzulässige Manipulation. ... Seidl hat vereinzelt offenbar nicht verhindert, dass sie verschreckt wurden, er tröstete und erklärte erst hinterher. Eine Form von Machtmissbrauch: Der Preis der Authentizität, auf die Seidl in seinen stilisierten Bildern so großen Wert legt, darf nicht das Leiden eines Kindes sein." SZ-Kritiker Philipp Bovermann kriegt beim Schauen des Films die eigenen Bilder nicht aus dem Kopf und bleibt sich über weite Strecken sehr uneins, was er von "Sparta" halten soll.

Weitere Artikel: Patrick Heidmann spricht mit der Regisseurin Ursula Meier über ihren Film "Die Linie", der von der Gewalt von Müttern gegen ihre Töchter handelt. Besprochen werden A.V. Rockwells Sundance-Gewinnerfilm "A Thousand and One" (FAZ) und Guillaume Canets "Asterix im Reich der Mitte" (Standard). Außerdem erklärt die SZ, welche Filme sich in dieser Woche lohnen und welche nicht.
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Bühne

Besprochen werden die politisch auf die Ukraine und Belarus ausgerichtete Nebensparte "10 Treffen" beim Berliner Theatertreffen (taz), Damiano Michielettos Inszenierung von Verdis Kriegsoper "Aida" (die Helmut Mauró in der SZ ausgesprochen dröge fand, aber die Gesangspartien fand er großartig), Johan Simons' "Macbeth"-Inszenierung mit Jens Harzer in Bochum (Zeit) und der Abend "Ein Fisch wird nur so groß wie sein Aquarium" im Jungen Staatstheater Wiesbaden (FR).
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Design

Die NZZ spricht mit Wolfgang Joop unter anderem übers Altern, die Kunst und seinen allmählichen Rückzug aus der Modebranche: "Ich mag nicht mehr sechs Kollektionen jährlich machen, wo ich hinterher nicht weiß, wie ich die Kleider entsorgen soll. Ich habe genug von den Modeschauen, für die die Aufmerksamkeitsspanne inzwischen bei acht Minuten liegt. Die Models und wer in der ersten Reihe sitzt, wurden wichtiger als die Entwürfe. Das alles verschlingt riesige Budgets wie für einen Actionfilm. Es verbraucht sich alles zu schnell in der heutigen Fashionwelt. Man selbst verbrennt. Die medialen Möglichkeiten beschleunigen den Eindruck, alles schon gesehen zu haben, die Bilderflut macht schwindlig."
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Stichwörter: Joop, Wolfgang, Actionfilm

Musik

Christiane Wiesenfeldt resümiert in der FAZ das Mahler-Festival in Leipzig. Für die SZ plauscht Jakob Biazze mit Britpopper Noel Galagher. Außerdem meldet Biazza in der SZ, dass der Popstar The Weeknd sich künftig Abel Tesfaye nennt. Helmut Mauró schreibt in der SZ einen Nachruf auf die Pianistin Ingrid Haebler. Besprochen werden Leslie Feists Album "Multitudes" (FR), ein Auftritt von Diana Krall (Standard), SBTRKTs Album "The Rat Road" (taz), das Debütalbum der österreichischen Band Bipolar (Standard) und weitere neue Popveröffentlichungen, darunter Mobys Orchesteralbum "Resound NYC" (Standard),
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Stichwörter: The Weeknd

Literatur

In der NZZ setzt Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Der renommierte Comicverlag Edition Moderne steht vor dem Aus und will die Pleite mit einem Crowdfunding abwenden, meldet Lars von Törne im Tagesspiegel. Die Literaturzeitschrift Sinn und Form darf nach einer Satzungsänderung zumindest fürs Erste wieder erscheinen, meldet Wolfang Janisch in der SZ. Der Musiker Bernd Begemann erzählt der Welt, welche Bücher ihn maßgeblich geprägt haben - darunter Hal Fosters Comicsaga "Prinz Eisenherz" und "Winterplanet" der Science-Fiction-Autorin Ursula K. LeGuin. Dem französischen Comic-Autor Forent Ruppert werden sexuelle Übergriffe vorgeworfen, meldet Niklas Bender in der FAZ.

Besprochen werden unter anderem Alison Bechdels Comic "Das Geheimnis meiner Superkraft" (Tsp), Lukas Bärfuss' "Die Krume Brot" (Welt), Kim Koplins "Die Guten und die Toten " (FR), Georg M. Oswalds "In unseren Kreisen" (SZ), T.C. Boyles "Blue Skies" (SZ) und Jacek Dehnels "Aber mit unseren Toten" (FAZ).
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Stichwörter: Charkiw, Gerasimow, Sergei

Kunst

Eugen Spiro: Dame mit Hund (Tilla Durieux), 1905. Bild: Georg-Kolbe-Museum

Hingerissen ist Ingeborg Ruthe in der Berliner Zeitung von der Ausstellung , die das Berliner Georg-Kolbe-Museum der Schauspielerin Tilla Durieux widmet. Diva und Femme fatale in einem wurde sie von Max Slevogt, Lovis Corinth, Ernst Barlach, Oskar Kokoschka, Frieda Riess und Lotte Jacobi gemalt, wie Ruthe erzählt: "Ein Leben mit drei Ehen, Freiwilligendienst als Krankenschwester im Ersten Weltkrieg und Engagement für die inhaftierte Rosa Luxemburg. Im Mai 1919 versteckte sie in ihrem Kleiderschrank den Schriftsteller Ernst Toller, einer der führenden Köpfe der Münchner Räterepublik, der wegen Hochverrats gesucht wurde. 1933 wurde sie selbst zur Gejagten: Hals über Kopf floh sie mit ihrem dritten Ehemann, dem jüdischen Industriellen Ludwig Katzenellenbogen nach Kroatien, war dort Hotel-Direktorin und Antifa-Widerständlerin. Ihren sarkastischen Humor drückt diese Geste aus: In ihren Flüchtlingspass hatte Durieux einfach jenes Foto geklebt, das sie 1929 in der Rolle als Anna Balbanowa in Bernhard Blumes 'Treibjagd' zeigte: Femme fatale, mit Kippe im Mund, Weinglas in der Hand."

Besprochen wird die Schau "Der König ist tot, es lebe die Königin", für die Udo Kittelmann 31 Künstlerinnen im Museum Frieder Burda zusammenbringt (Monopol) und Matthew Barneys neue Videoarbeit "Secondary", eine Studie zum American Football (ArtNews).
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