9punkt - Die Debattenrundschau

Eine Art gesellschaftliche Entgiftung

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.01.2018. Die #MeToo-Bewegung sollte sich mit der Kampagne gegen Gewalt in der Arbeitswelt vernetzen, fordert die taz. Sie sollte eine "Kommission für Wahrheit und Versöhnung" einrichten, fordert die SZ. Vielleicht wird das Problem aber auch von Roboterfrauen gelöst, die seit neuestem laut NZZ in Saudi Arabien - unverschleiert! - eingesetzt werden. Die Medien spekulieren über ihre Degradierung durch Facebook - hat der Algorithmenwechsel längst stattgefunden? Die taz notiert, wie die polnische Frauenbewegung nun selbst von der Opposition fallen gelassen wurde: Die katholische Kirche wollte es so.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.01.2018 finden Sie hier

Politik

Libération präsentiert in einer Bilderstrecke die unheimlichen Bilder von Liu Xia, der Frau von Liu Xiaobo, die nach wie vor in Hausarrest gehalten wird, ohne dass je gegen sie Anklage erhoben wurde. "Puppen spielen die Hauptrolle in diesen Bildern, die Eingeschlossenheit und Leiden symbolisieren." Die Fotos hat sie um 2000 gemacht. Ihre Werke sind in China verboten. Bei Paris läuft zur Zeit eine kleine Liu-Xia-Ausstellung. (Foto: Liu Xia)

Im Tagesspiegel  fordert der Sinologe und Philosoph Ole Döring Deutschland auf, die Annäherung an China zu suchen. Man müsse nur "richtig" und ohne "moralisches Sendungsbewusstsein" hinsehen.

Die Appeasement-Politik im Iran ist gescheitert - Menschenrechte werden weiterhin verletzt, die soziale Not steigt, meint Daniel Steinvorth in der NZZ:  "An die 40 Prozent der Bevölkerung leben nach offiziellen Schätzungen von 2015 unterhalb der Armutsgrenze, wie es in einem Bericht der New York Times heißt. Etwa 11 Millionen Iraner, rund die Hälfte der Arbeitskräfte im Land, sind in äußerst prekären Beschäftigungsverhältnissen. Etwa 10 Millionen Iraner hausen in Slums - laut einem Bericht des iranischen Parlaments sind das 17-mal so viel wie im Jahr der Islamischen Revolution 1979. Auf der anderen Seite gibt es die Angehörigen des Regimes und die Superreichen, die sich nicht scheuen - wie schon zu Zeiten des Schahs -, ihre Villen und importierten Luxuswagen zur Schau zu stellen."

Auch Richard Herzinger fordert in der Welt den Druck auf Teheran zu erhöhen, denn nicht nur die Sicherheit des israelischen Staates sei bedroht: "Teheran könnte einen Ausstieg der USA zum Anlass nehmen, sein Atomrüstungsprogramm mit verschärfter Intensität wieder hochzufahren. Nicht zuletzt dank russischen Technologietransfers verfügt das Regime inzwischen auch über Abwehrsysteme, die seine Atomanlagen effektiv gegen mögliche amerikanische oder israelische Luftangriffe schützen könnten. Der Weg zur iranischen Nuklearbewaffnung würde so womöglich unumkehrbar - was fast zwangsläufig zur Folge hätte, dass andere regionale Mächte, allen voran Saudi-Arabien, ebenfalls auf die atomare Karte setzen."

Ebenfalls in der NZZ berichtet der Politikwissenschaftler Stephan Bierling, wie hemmungslos sich Präsident Zuma und die Gupta-Familie in Südafrika auf Kosten der Mehrheit bereichern. Die state capture scheint ein "Teil der DNA des Landes" zu sein, glaubt er mit Blick auf die Geschichte. Nicht mal Nelson Mandela sei davon frei gewesen: "Oft stellte er Parteidisziplin und persönliche Loyalität über Kompetenz, Können und Rechenschaftspflicht. Seine zweite Frau Winnie bedachte er als Präsident mit einem Vizeministeramt, obwohl sie wegen Entführung von Minderjährigen rechtskräftig verurteilt worden war. Bei allen Korruptionsskandalen beharrte Mandela entgegen den Regeln einer transparenten Regierungsführung darauf, sie müssten hinter geschlossenen Türen untersucht und beigelegt werden."
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Europa

Es wäre nur darum gegangen, das Bürgerbegehren "Rettet die Frauen" im polnischen Parlament diskutieren zu lassen - eine Chance hatte es angesichts der Mehrheiten ohnehin nicht. Das Gegenbegehren hieß "Stoppt die Abtreibung" und verbietet Abtreibung bei praktisch jeder denkbaren Indikation. Nun demonstrieren die Frauen in Polen sogar gegen die Opposition, durch deren Versagen nicht einmal eine Diskussion über eine leichte Liberalisierung des finsteren Abtreibungsrechts in Polen möglich war, berichtet Gabriele Lesser in der taz: "Kurz vor der Abstimmung forderte Polens katholische Kirche die Volksvertreter auf, für das totale Abtreibungsverbot zu stimmen. Dann passierte das Unvorstellbare: 39 Oppositionelle stimmten nicht ab. Für das Projekt 'Stoppt die Abtreibung' stimmten alle Abgeordneten der nationalpopulistischen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS), drei der PO und zehn der Bauernpartei PSL. Das bedeutete das Ende für das 'Rettet die Frauen'-Projekt."

Erschütternd liest sich Hilmar Klutes SZ-Bericht über den zunehmend brutalen Antisemitismus in Frankreich, wo Juden sowohl von islamistischer als auch von linker Seite bedroht werden. Mehr als sechzig Prozent der Juden in Frankreich planen laut Klute nach Israel auszuwandern - und lediglich ein Drittel der Franzosen findet das nach einer Umfrage des Meinungsinstituts Ipsos bedauerlich. Delphine Horvilleur, die ein Café im jüdischen Viertel im Marais betreibt, hört immer wieder eine Frage: "Gehst du nach Israel oder bleibst du hier? 'Niemand fragt, was können wir alle gemeinsam anstellen, damit Juden nicht aus diesem Land weggehen müssen.' Es gebe ein Gefühl der Angst; in ganz Europa, besonders aber in Frankreich herrsche die Furcht, von bestimmten Bevölkerungsgruppen abgehängt zu sein und nicht dazuzugehören."
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Ideen

Die heute modische Linke überträgt gern Begriffe aus der amerikanischen Diskussion auf die deutsche Situation. Aber das ist manchmal fahrlässig, erkennt die taz-Autorin Amna Franzke bei der Lektüre des Buchs "We Were Eight Years in Power" von Ta-Nehisi Coates: "Einen Blick auf den US-amerikanischen Diskurs zu werfen, um über Rassismus hier zu sprechen, ist gar nicht so leicht. Es fängt schon mit dem Begriff Race an. Man kann ihn nicht einfach mit 'Rasse' übersetzen. Wenn in den USA von Race die Rede ist, geht es nicht nur um biologische Merkmale. Der Begriff hat einen ganz anderen Bedeutungszusammenhang als im Deutschen. Race ist eine politische Kategorie, keine biologische. Es geht nicht nur um Hautfarbe, es geht um Kultur, um Nationalität. Aber wie dann?"

Außerdem: Isolde Charim schreibt in der taz einen Nachruf auf die Zeitschrift Transit des Wiener Instituts für die Wissenschaften vom Menschen, deren letzte Ausgabe mit Beiträgen von Ivan Krastev, Karl Schlögel, Claus Offe und Timothy Garton Ash gerade erschienen ist.In der SZ sucht der Politikwissenschaftler und Ideenhistoriker Jan-Werner Müller nach Erklärungen für den fehlenden zivilen Ungehorsam in den USA unter Trump. Im Laufe des ersten Amtsjahres seien Standards nach unten revidiert worden, Würde- und Schamlosigkeit habe eine neue Normalität geschaffen, meint er.
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Gesellschaft

Die #MeToo-Bewegung müsste sich mit der Kampagne gegen Gewalt in der Arbeitswelt vernetzen, zumal dieses Thema gerade auch auf der Tagesordnung der diesjährigen Internationalen Arbeitskonferenz steht, fordert Beate Willms in der taz: "Schwedische Gewerkschaften berichten über sexuelle Übergriffe in der Hotellerie, brasilianische über Belästigungen von Bankkauffrauen, indische Menschenrechtsorganisationen über Vergewaltigungen von Busfahrerinnen, Arbeitsrechtlerinnen haben sexualisierte Gewalt gegen Arbeiterinnen in den Fischfabriken Papua-Neuguineas oder gegen Verkäuferinnen in Sambia aufgedeckt."

In der SZ schlägt Susan Vahabzadeh hingegen eine Art "Kommission für Wahrheit und Versöhnung" vor, wie es sie in Südafrika am Ende der Apartheid gab: "Man kann das Verhältnis von Männern und Frauen nicht von einer Behörde verwalten lassen, aber einen gesellschaftlichen Prozess, in dem es einen Schlussstrich und einen Neuanfang gibt - den bräuchten wir trotzdem, so eine Art gesellschaftliche Entgiftung. Sonst gilt weiterhin dasselbe ungeschriebene Gesetz wie immer schon: Wer lügt, hat die besseren Karten."

Derweil ist in Saudi-Arabien die erste Roboterfrau eingebürgert worden. Ihr Name: Sophia, ihr Gesicht ist Audrey Hepburn nachempfunden und - sie muss nicht mal einen Hijab tragen, berichtet Adrian Lobe in der NZZ. Kein Grund für FeministInnen zu triumphieren, winkt Lobe ab, denn Sophia habe weder einen eigenen Willen noch Sexualität: "Die Frau als Maschine ist der ultimative Macho-Traum: Sie gehorcht auf Knopfdruck, ist willig, man kann sie besitzen, wegwerfen oder neu erschaffen. Als würde sich der Feminismus persiflieren, wird ein solcher Fembot durch die Einbürgerung nun auch noch legitimiert, ja nobilitiert. Ali al-Ahmed, Direktor des Institute for Gulf Affairs in Washington, sagte gegenüber dem Magazin Newsweek, die Frauen in Saudiarabien hätten mit dem Tag der Einbürgerung 'Selbstmord' begangen, 'weil sie das Haus nicht verlassen konnten und Sophia herumrannte'."
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Medien

Auf der Medienseite zitiert taz-Autor Daniel Bouhs einige Kollegen, die sich Gedanken über die von Facebook angekündigte Degradierung von Medieninhalten machen - offenbar stellen sie bereits seit einigen Monaten fest, dass sie mit Inhalten weniger durchdringen als bisher. Seit Anfang Oktober gehe das so, sagt ein Sprecher von Tagesschau.de: "Reichweiten haben sich plötzlich massiv verändert."

Götz Hamann sieht es bei Zeit online anders: "Das Gute an dieser Auseinandersetzung ist: Zuckerberg hat die geplante Änderung angekündigt, Wochen und Monate bevor er sie verwirklichen möchte. Das war früher anders. Da schuf er Fakten über Nacht."

Eine Meldung im FAZ-Feuilleton - vielleicht interessant im Kontext der Debatte in den letzten Tagen: "Simon Strauß, Redakteur im Feuilleton dieser Zeitung, wird in seiner Funktion als Mitglied der 'Rolf-Joseph-Gruppe' mit dem German Jewish History Award der Obermayer-Stiftung ausgezeichnet. Geehrt wird damit das langjährige Engagement der Gruppe für die Dokumentation und Vermittlung der Lebensgeschichte des Holocaust-Überlebenden Rolf Joseph."
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