Efeu - Die Kulturrundschau

Parlament der Unsichtbaren

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.01.2014. Die Welt erzählt, wie der französische Historiker Pierre Rosanvallon online die Literatur demokratisiert. Der Tagesspiegel bereitet auf die Berlinale und einen entführten Michel Houellebecq vor. In der taz möchte Jens Hillje vom Maxim Gorki Theater Schwulenfeinde keineswegs unter Andersdenkende sortieren. In der FAZ verspricht Kulturstaatsministerin Monika Grütters, die Mittel für Provenienzrecherchen zu verdoppeln.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.01.2014 finden Sie hier

Film

Heute ist schon großer Berlinale-Tag im Tagesspiegel: Christiane Peitz kündigt die Forumsfilme an und freut sich vor allem auf einen: "Michel Houellebecq spielt sich selbst. Wird von drei muskelbepackten Kerlen, die sich ebenfalls selbst spielen, in ein schäbiges Häuschen im Pariser Umland entführt, diskutiert mit ihnen über Literatur, eine sehr nette Runde. Houellebecq ist bloß sauer, dass er gegen die Langeweile nur ein einziges Buch bekommt: Denis Diderots 'Nonne'. Guillaume Nicloux war 2013 im Wettbewerb mit einer Neuverfilmung der 'Nonne' vertreten, seine Cinéma-Direct-Farce 'L'enlèvement de Michel Houellebecq' wird bestimmt ein heiteres Highlight des Forums. Schon wie der Schriftsteller Kette raucht und ständig vergeblich nach einem eigenen Feuerzeug verlangt!"

Außerdem: Helmut Merker schreibt über die Retrospektive, die in diesem Jahr unter dem Titel "Ästhetik der Schatten" dem filmischen Licht von 1915 bis 1950 gewidmet ist. Patrick Wildermann annonciert die "Perspektive Deutsches Kino". Und Jan Schulz-Ojala stellt das Panorama-Programm vor. Schließlich darf Berlinale-Chef Dieter Kosslick im Interview Freude auf das Kommende verbreiten.

In der New York Times untersucht Jason Zinoman die schwarzhumorige Seite von David O'Russels "American Hustle" und Martin Scorseses "The Wolf of Wallstreet". Zu letzterem meint er: Oft generiere die Kluft zwischen Jordan Belforts (DiCaprio) Sicht der Dinge und der Realität den Witz. "Belfort verdient sein Geld, indem er andere hinters Licht führt, doch er ist auch ein Trottel. In einer 10-minütigen Szene nimmt er Methaqualon und wird zum Primaten. Sein Gesicht verzerrt sich, er sabbert und seine Beine sind so lappig, dass es aussieht, als versuchte ein Fisch zu laufen."

Weiteres: Im Interview mit Zeit online spricht der iranische Regisseur Ashgar Farhadi über seinen neuen Film "Le Passé", den Unterschied zwischen Berlin und Paris und seine Hemmungen bei Interviews: "Meine Filme handeln von Unsicherheit und die Medien wollen immer präzise Antworten von mir - mit diesem Widerspruch komme ich nicht gut zurecht." Geri Krebs berichtet in der NZZ weiter über die Solothurner Filmtage und konstatiert schon kurz vor Abschluss einen herausragenden Jahrgang. Thomas Groh berichtet in der taz von der Pressekonferenz zur Berlinale. Besprochen wird Justin Chadwicks "Mandela: Der lange Weg zur Freiheit" (taz).

Außerdem: Heute vor 50 Jahren kam Stanley Kubricks meisterliche schwarze Komödie "Dr. Seltsam oder wie ich lernte, die Bombe zu lieben" in die Kinos. Für den New Yorker hat Eric Schlosser recherchiert, wie selbst noch bizarrste Aspekte des Films im Grunde genommen der Wahrheit entsprachen. Bei Keyframe Daily hat David Hudson mehr Links zusammengestellt, darunter auch diese tolle Zusammenstellung von Bildmaterial.
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Bühne

Jens Hillje, der vor drei Monaten mit Sermin Langhoff die Leitung des Berliner Maxim-Gorki-Theaters angetreten hat, wehrt im Interview mit der taz jede Kritik ab. Den insbesondere nach dem Stück "Small Town Boy" geäußerten Vorwürfen, das Haus biete einem politisierten Publikum nur Angebote zur Selbstversicherung, widerspricht er: "Ich teile Ihre Wahrnehmung überhaupt nicht. Ich denke auch nicht, dass Homophobie mit 'Andersdenken' richtig beschrieben ist. Es geht nicht um Andersdenkende, sondern um die Herrschenden. Es geht neben Putin auch um die mächtigsten Menschen in Deutschland. ... Eigentlich beklagen wir uns unaufhörlich darüber, dass es keine politischen Haltungen mehr gibt bei den Bürgern, und wenn sie bei uns im Publikum sichtbar werden, werfen sich einige Theaterkritiker schützend vor die Mächtigen." (Als würden nicht gerade "die Mächtigen" derzeit einen weitaus entspannteren Umgang mit Homosexualität pflegen als manche Rapper.)

Geradezu absurd findet es Udo Badelt im Tagesspiegel, ausgerechnet in Palermos spektakulär verblühendem Teatro Massimo der im deutschsprachigen Raum nahezu unbekannten Strauss-Oper "Feuersnot" zu begegnen: "Abgerockte Fassaden, viele Balkone sind mit Netzen überspannt, um zu verhindern, dass sie abbröckeln. Hier also wird mit großem Aufwand eine Oper inszeniert, die eigentlich eine Lokalposse aus dem fernen München ist? Unglaublich." Auf Youtube gewährt das Haus ausführliche Einblicke in die Inszenierung:



Weitere Artikel: Für den Tagesspiegel besucht Sandra Luzina die Proben des "Ballet Revolución" in Kuba.

Besprochen werden Sven-Eric Bechtolfs Neuinszenierung von Antonín Dvořáks Oper "Rusalka", die NZZ-Rezensent Daniel Ender "merkwürdig zahnlos" fand, und Barbara-David Brüeschs Inszenierung von Arthur Millers "Tod eines Handlungsreisenden" in Basel (NZZ).
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Literatur

Mit großem Interesse verfolgt in der Welt Wolf Lepenies, wie sich der französische Historiker Pierre Rosanvallon um die Demokratie und den gesellschaftlichen Zusammenhalt der auseinanderstrebenden französischen Gesellschaft sorgt und bemüht - und zwar in Form von Literatur und Online-Texten auf dem Portal Raconter la Vie, wo er den Menschen die Möglichkeit verschaffen will, aus ihrem Alltag zu erzählen und einander besser zu verstehen: "Indem sie ihre Erfahrungen in Erzählungen bündeln und anderen mitteilen, fühlen sich die Menschen als Teil einer Schreib- und Lesegemeinschaft, als Abgeordnete im 'Parlament der Unsichtbaren'. Raconter la Vie definiert sich als die 'Gemeinschaft derer, die sich für das Leben der anderen interessieren.' ... Den 'Wahren Roman der Gesellschaft' lässt Pierre Rosanvallon von den Betroffenen selber schreiben."

Weiteres: Im Freitag führt Andreas Schäfer durch die "Luxushölle Max Frischs", die der Schriftsteller in seinem Berliner Journal beschreibt. Besprochen werden Bücher, darunter Morio Kitas Roman "In Nacht und Nebel" (NZZ) und Jürgen Kaubes Max-Weber-Biografie (NZZ). Mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr.
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Kunst

Rainer Haubrich freut sich in der Welt, dass mit dem neuen Turm von Frank Gehry endlich etwas Schwung in die lange geplante Randbebauung des Alexanderplatzes kommt. Jetzt hofft er, dass der "Provinzialismus der Bürgerinitiative '100% Tempelhofer Feld'" auch eine Randbebauung dieses Parks nicht zum Scheitern bringt: "In der Debatte um die Zukunft des stillgelegten legendären Flughafens in der südlichen Innenstadt zeigt sich die ganze Schizophrenie eines Teils der Berliner: Sie wollen dort am liebsten alles beim Alten belassen und beklagen zugleich, dass es in der Stadt an bezahlbaren Wohnungen fehle. Genau die aber sollen unter anderem an den Rändern des Flugfeldes entstehen."

Julia Voss führt für die FAZ das erste Interview mit der neuen Staatsministerin für Kultur, Monika Grütters. Konkret sprechen sie über den Fall Gurlitt und die Konsequenzen. Die Ministerin verspricht: "Wir beabsichtigen die Mittel, die für Provenienzrecherchen aufgewendet werden, zu verdoppeln und die Finanzierung der Institutionen in der Struktur massiv zu stärken. Außerdem wollen wir die Museen in der Öffentlichkeitsarbeit unterstützen."

In der SZ melden Catrin Lorch und Ira Mazzoni mit dpa, dass Cornelius Gurlitt nun offenbar doch bereit ist, bei der Rückgabe von Werken zu kooperieren. Außerdem stellen sie die Taskforce vor, die sich weiteren Forschungen in der Sache widmen soll. Besprochen wird die Ausstellung "1914 - Die Avantgarden im Kampf" in der Bundeskunsthalle Bonn (NZZ).
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Musik

In der SZ berichtet Harald Eggebrecht über das Streichquartettfest in Heidelberg, das der "neuen Blüte junger Streichquartette aus aller Welt" gerecht wird. Es spielt unter anderen das Schumann Quartett, das hier mit Beethoven zu hören ist:



Ebenfalls in der SZ porträtiert Wolfgang Schreiber die Komponistin Lucia Ronchetti, deren Kammeroper-Reduktion von Francesco Cavallis Oper "Giasone" von 1649 am Donnerstag in einer Neuinszenierung in Berlin aufgeführt wird.

Alle trauern um den Folkmusiker Pete Seeger: "Er hat Bob Dylan den Strom abgedreht und Bruce Springsteen vor der Rockmusik gerettet." (Welt), "Eine Folklegende sowieso" Freitag, "Wiederbeleber der Folk-Musik" Berliner Zeitung, "Der humorlose Heilige" (NZZ), "Abschied von einem amerikanischen Helden" (SZ), "Sag mir wo die Lieder sind" (Tagesspiegel)
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