Efeu - Die Kulturrundschau

Kussbereit

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.04.2014. NZZ und SZ flanieren über die Mailänder Möbelmesse. In der Zeit meint Svenja Leiber: Wer mit Literatur Geld verdienen will, passt sich an. Die Welt erlebt eine Achterbahn der Gefühle mit Reibe, Schöpflöffel, Trichter und Fleischwolf bei der großen Mona-Hatoum-Retrospektive in Doha. Tagesspiegel und Berliner Zeitung sehen "Sacre du Printemps" nach Strawinsky von She She Pop. Die NZZ feiert den Rhabarber.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.04.2014 finden Sie hier

Literatur

Wiebke Porombka spricht in der Zeit mit der Schriftstellerin Svenja Leiber. Die äußert sich darin nicht nur sehr kritisch zur Männerdomäne Literaturbetrieb, sondern ist auch skeptisch, was die jüngste Debatte zur Gegenwartsliteratur betrifft: "Wenn, dann sehe ich das Problem in der unreflektierten Teilhabe an der Ökonomisierung des Betriebes an sich. Als Nutznießer spielen erst einmal alle mit, so lange sie können, nicht nur die Literaten. Der Vatermord kann nicht ordentlich stattfinden, weil dieser 'Vater' uns dauerhaft füttert. In einem Literaturbetrieb, in dem es per Distinktion letztendlich doch um Geld geht, wird sich natürlich in Wirklichkeit angepasst."

In der Welt unterhält sich Jan Schapira mit der jungen israelischen Autorin Sarah Blau über ihr noch nicht übersetzten Romandebüt "Das Buch der Schöpfung" und über die veränderte Rolle religiöser Frauen (sie zählt sich selbst dazu) in Israel: "Orthodoxe Frauen in Israel stehen am Beginn einer Revolution. Israel war noch nie so feministisch wie heute. Die religiöse Gelehrsamkeit überlassen sie nicht mehr den Männern, sie schaffen neue Interpretationen der Tora, sie lernen, sie unterrichten und sprechen über die jüdischen Gesetze. Im Parlament haben noch nie so viele religiöse Frauen gesessen wie heute. Es gibt einen Wandel, die orthodoxen Frauen werden selbstständiger und entscheiden selbst über ihr Leben. Dennoch bleibt natürlich noch viel zu tun."

Weitere Artikel: In der FR unterhält sich Sacha Verna mit der nigerianischen Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie über schwarze Identität in Nigeria und den USA und warum Barack Obama das Image des "magic negro" aufrecht erhält. NZZ-Amerikakorrespondentin Andrea Köhler erfährt aus einem Sammelband, warum die amerikanische Gegenwartsliteratur oft so gleichförmig ist. Jürgen Brocan stellt in der NZZ neue Übersetzungen von und eine neue Biografie über Sylvia Plath vor.

Besprochen werden Michael Chabons Roman "Telegraph Avenue" (Welt), Gaito Gasdanows Roman "Ein Abend bei Claire" (Welt), neue Gedichte von Michel Houellebecq (Welt), Jan Skudlareks Gedichtband "Elektrosmog" (Welt), Artur Domosławskis Biografie des polnischen Reporters Ryszard Kapuściński (Stephan Wackwitz stellt bei der Lektüre für die Welt fest, "wie sehr das Wissen um die nicht streng dokumentarische, sondern offenbar weitgehend fiktionale Vorgehensweise Kapuścińskis die literarische Qualität dieses Klassikers eben doch beschädigt" hat), Marie Jalowicz Simons Autobiografie "Untergetaucht. Eine junge Frau überlebt in Berlin 1940 bis 1945" (taz), Julien Gracqs Roman "Der Versucher" (taz), Daniel Pennacs Roman "Der Körper meines Lebens" (Berliner Zeitung), Gedichte von Geoffrey Hill (NZZ), Alexander Kluges Buch über den "30. April 1945" (FAZ) und die Wiederveröffentlichung von Hans Herbert Grimms Roman "Schlump" (SZ)

In der Frankfurter Anthologie der FAZ stellt Ursula Krechel Albert Ehrensteins Gedicht "Leid" vor:

"Wie bin ich vorgespannt
den Kohlenwagen meiner Trauer!
Widrig wie die Spinne
bekriecht mich die Zeit.
..."
Archiv: Literatur

Film

Heute zeigen arte und der br die nach beschwerlichen Produktionsumständen und -hindernissen doch noch fertiggestellte Lang-Dokumentation "24h Jerusalem", über die Klaudia Wick in der Berliner Zeitung einiges an Hintergrundinformationen zusammengetragen hat. Als Pendant zum vielbeachteten Projekt "24h Berlin" aus dem Jahr 2008 unterscheidet sich der nun vorliegende Film allerdings triftig: "Hatte '24h Berlin' vor allem mit minutiösen Zeitangaben davon erzählt, wie zur gleichen Zeit an verschiedenen Orten der Stadt mal Verschiedenes, mal Gleiches passierte, ist in '24h Jerusalem' die Gleichzeitigkeit nicht mehr das Hauptthema, sondern das Nebeneinander. Die Episoden erzählen vor allem vom explosiven Hüben und Drüben, vom Leben im Dreieck der Weltreligionen und dem Zwiespalt der Weltanschauungen." In der FAZ schreibt Hans-Christian Rössler über die Hintergründe des Projekt.

Außerdem: In der SZ gratuliert Fritz Göttler Stanley Donen zum 90. Geburtstag. Er drehte unter anderem diese Szene:



Besprochen werden Yael Reuvenys Dokumentarfilm "Schnee von gestern" (FR) und Karzan Kaders "Bekas" (Tagesspiegel).
Archiv: Film

Musik

In der taz unterhält sich Julian Weber mit der ziemlich tiefenentspannten R&B-Musikerin Kelis unter anderem über die politische Dimension von gutem Essen in den schwarzen Communitys. Für den Tagesspiegel hat sich Katrin Gottschalk mit der Songwriterin Wallis Bird auf ein Treffen verabredet.

Besprochen werden Nik Nowaks Soundinstallation "Echo" in der Berlinischen Galerie (taz), Uli Aumüllers und Sebastian Rauschs in Berlin eingerichtete Konzertinstallation "Im Wald", die auf aus Waldfotografien gewonnenn Partituren basiert (taz), und Todd Terjes Album "It's Album Time" (Zeit).
Archiv: Musik

Bühne

Mit "Sacre du Printemps" nach Strawinsky arbeitet sich die Performancegruppe She She Pop derzeit im Berliner HAU an ihren Müttern ab. Strawinsky scheint daneben auch gleich erledigt zu werden, liest man die Kritik von Sandra Luzina im Tagesspiegel. Offenbar geht es darum, sich vom "überlebensgroßen Bild der Mutter zu befreien": "Wie so oft bei She She Pop hat der Abend etwas von einer Gruppentherapie. Auch Peinlichkeiten bleiben nicht aus. Dass Sebastian Bark sich eine blinkende Krone, die das Wort Opfer ergibt, aufsetzt, wirkt einfach nur larmoyant. Wie auch seine Klage, dass seine Mutter ihn immer idealisiert habe. Das Publikum amüsiert sich über die absurden gegenseitigen Zuschreibungen. Und immer noch lockt der mütterliche Leib."

Besprechungen gab es außerdem in der Berliner Zeitung und in der taz.

Außerdem besprochen werden die Aufführung von Lorraine Hansberrys Stück "A Raisin in the Sun" mit Denzel Washington am Broadway (Welt), Christopher Wheeldons neue Choreografie zu Shakespeare "Das Wintermärchen" in London (Welt), Tilman Köhlers Inszenierung von Brechts "Arturo Ui" im Staatsschauspiel Dresden (Welt), Christine Umpfenbachs und Azar Mortazavis in München aufgeführte NSU-Bühnenaufarbeitung "Urteile" (SZ - online im Gegensatz zum Print nur als stark gekürzter Textrumpf).
Archiv: Bühne

Kunst



Ziemlich beeindruckt von dem Unbehagen, das sie ausstrahlt, betrachtet Andrea Backhaus (Welt) die Retrospektive der libanesischen Künstlerin Mona Hatoum im Arabischen Museum für moderne Kunst in Doha: "In 'Turbulence' nun offenbart sich Hatoums stilistische Transformation, die zugleich ihr inhaltliches Leitmotiv erkennen lässt: Die unterschwellige Bedrohlichkeit einer im Ungewissen verbleibenden Welt. Abscheu, Angst, Faszination, Bestürzung: Das ist die sinnliche Achterbahn, die der Besucher, eher Akteur denn Betrachter, in Doha durchlebt. In 'Home' (1999) hat Hatoum Reibe, Schöpflöffel, Trichter und Fleischwolf auf einem Tisch platziert und über elektrische Kabel in einem Stromkreis miteinander verbunden. Das Surren und die Absperrung aus quer gespannten Drahtseilen signalisieren akute Lebensgefahr."

Besprochen werden die Ausstellung "Das neue Deutschland" im Hygiene-Museum Dresden (hoffnungslos altmodisch, findet Iris Alanyali in der Welt), die Ausstellung "Kaiser Maximilian I. Der letzte Ritter und das höfische Turnier" in Mannheim (SZ), die Ausstellung "Dix/Beckmann - Mythos Welt" in der Münchner Hypo-Kunsthalle (SZ) und eine Camille-Henrot-Ausstellung im Berliner Schinkel-Pavillon (FAZ).
Archiv: Kunst

Design

Die Geschäfte gehen gut, da traut man sich wieder was auf der Mailänder Möbelmesse, berichtet Andrea Eschbach in der NZZ: "Der italienische Hersteller Magis verfolgt beispielsweise weiter konsequent sein Konzept als 'Design-Labor'. So präsentiert er am Stand nicht nur den Prototyp eines Freischwingers von Konstantin Grcic, der Holz- und Kohlenstofffaser-Folien kombiniert, sondern auch ein Materialexperiment von Ronan & Erwan Bouroullec. In ihrer Tisch-Kollektion 'Officina' wird die Tischplatte von einem schmiedeeisernen Gestell getragen. 'Wir wollten einen modernen, zeitgemäßen Ausdruck für Schmiedeeisen finden', sagt Ronan Bouroullec." Ob das gelungen ist, kann man bei beiden Objekten hier überprüfen. (Bild: domus.it)

Thomas Steinfeld stößt in Mailand vor allem ein Widerspruch auf, und zwar den "zwischen dem Privaten und der Marke. Denn wenn die Wohnung ganz das Eigene sein soll, nach eigenem Geschmack und Bedürfnissen gestaltet, so dass der Mensch wahrlich zu sich kommt - warum geht das nur unter dem Zeichen von Minotti, Vitra, Knoll, Carl Hansen, Thonet, Hästens, B & BItalia, Cassina?"

Für die Jungle World hat Astrid Eichstedt die Ausstellung "Glanz und Grauen" über Mode im "Dritten Reich" in Euskirchen besucht. Diese räumt mit vielen Klischee-Vorstellungen von der Mode in Nazi-Deutschland auf, so etwa auch mit der "Annahme, dass die Nazis generell das brav bezopfte und bedirndlte Gretchen mit gebärfreudigem Becken zum Ideal stilisierten. Zwar war die bis dato angesagte Androgynität schon Ende der zwanziger Jahre passé, doch das Schönheitsideal, das sich langsam vom mädchenhaft-romantischen Puffärmeltyp der frühen dreißiger Jahre zur strengen, schulterpolsterbehafteten Dame der Kriegszeit wandelte, blieb bis zum Schluss die überschlanke, elegante und längst nicht immer blonde Frau. Das zeigen auch die Modelle in den Modezeitschriften."

Vergessen Sie den Spargel, jetzt ist Rhabarberzeit, ruft Samuel Herzog in der NZZ. Er beschreibt das Gemüse als gutaussehenden Verführer, der uns am Ende mit unseren Erwartungen sitzen lässt: "Zwischen den runzligen Pastinaken und den bärtigen Steckrüben machen die blassgrünen, vor Kraft strotzenden Stangen eine jugendfrische Figur - und die eigentümliche Röte, die ihnen in die Haut geschossen ist, lässt sie noch juveniler erscheinen, freudig entflammt, voller Erwartung, kussbereit."
Archiv: Design