Efeu - Die Kulturrundschau

Kalorienreiche Partituren

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.07.2014. Die FAZ hört in Bad Kissingen, wie Wilhelm Killmayer das Heideröslein metzelt. Die Welt erinnert daran, wie Roland Klick 1970 vom Jungen Deutschen Film in Cannes gemobbt wurde. Die taz runzelt die Stirn über ahumane Urformen in Metz. Die NZZ besucht Andrea Camilleri. Joachim Kalka sucht in der Stuttgarter Zeitung nach dem deutschen Argot.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.07.2014 finden Sie hier

Musik

Ach, Musikkritiker müsste man sein! FAZ-Rezensent Malte Hemmerich stand bei der "Liederwerkstatt" in Bad Kissingen förmlich "unter Strom". Diesmal hatten Wolfgang Rihm, Aribert Reimann und andere Goethe vertont: "Wilhelm Killmayer ist in diesem Jahr vertreten mit einer "Heidenröslein"-Vertonung, die er bereits 2007 komponierte, ein einziger lautmalerischer Gewaltakt. Obwohl sich das arme Röslein mit seinem Stachel, musikalisch plastisch dargestellt durch eine schrill wiederkehrende Sekunde in hoher Lage, heftig zur Wehr setzt, muss es am Schluss unterliegen. Melzer singt das ganz wunderbar."

Frank Schmiechen stellt in der Welt die Band Riviera vor, ein Geschwisterpaar aus Hückelhoven. Inzwischen lebt Schwester Julia in Kalifornien und Bruder Roland in Mönchengladbach. Richtig groß waren sie nur eine zeitlang in Japan, erzählt Schmiechen, in Deutschland hat sich nie eine Plattenfirma für sie interessiert: "Julia und Roland machen Musik, die es in Deutschland schon immer schwer gehabt hat. Leicht. Locker. Augenzwinkernd. Keine verzerrten Gitarren. Kein Rock, kein Ramm, kein Stein, nirgends. Es sind nicht gerade die Massen, die eine Schnittmenge aus den Carpenters, Manfred Krug, den Beach Boys, Prefab Sprout, Burt Bacharach und Sunshine-Pop mit brasilianischen Momenten hören wollen. Ohne eine Spur von Düsternis, Kapitalismuskritik oder Selbsterfahrungstrip in den Texten. Höchstens Spuren von heiterer Melancholie."

Hier eine Kostprobe:



Weitere Artikel: Beim Konzert von Phantom Ghost in Berlin war es "gemütlich, behaglich, sanft − bis an die Grenze des Entschlummerns", berichtet Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung. Jens Balzers Euphorie nach der Ankündigung des ersten Pink-Floyd-Albums nach 20 Jahren hält sich spürbar in Grenzen.

Besprochen werden Schumann-Aufnahmen der Pianistin Lise de la Salle (Zeit), CDs mit brasilianischer Musik (Welt), ein Konzert von Arto Lindsay (Tagesspiegel), eine CD mit eigens für die Geigerin Hilary Hahn beauftragten Kompositionen (SZ).
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Film

Vor fünf Tagen feierte Roland Klick seinen Fünfundsiebzigsten! In der Welt erinnert Harald Peters daran, wie 1970 die Premiere von Klicks Film "Deadlock" bei den Filmfestspielen in Cannes ins Wasser fiel. Es ist eine sehr deutsche Geschichte. "Statt sich über den Erfolg ihres Kollegen zu freuen, hatten sich Vertreter des Jungen Deutschen Films unter Tränen an den damaligen Festivalchef gewandt und alles daran gesetzt, dass der Film nicht gezeigt wird, weil das vermeintlich oberflächliche und vor allem unterhaltsame Werk alles unterminieren würde, was sich das deutsche Kino in den Jahren davor an Schwerkraft erarbeitet hatte. "Und die haben es tatsächlich geschafft", sagt Klick. "Ich bin nach Cannes gekommen, da war die gesamte Croisette schon gepflastert mit Deadlock-Plakaten. Und drei Tage später war ich draußen.""

Außerdem: Hanns-Georg Rodek schreibt in der Welt eine kleine Kulturgeschichte des langen Films. Und Matthias Heine hat den Nachruf auf den Schauspieler Horst Bollmann verfasst.

Besprochen werden Takashi Miikes Polizeithriller "Wara no tate - Die Gejagten" (taz), Alexander Kluges DVD-Dokumentation zum Ersten Weltkrieg (Welt) sowie James Tobacks und Alec Baldwins Filmindustrie-Doku "Verführt und Verlassen" (Berliner Zeitung, FAZ).
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Literatur

In der Stuttgarter Zeitung überlegt Joachim Kalka in einem Essay, warum es so schwer ist, Slang ins Deutsche zu übersetzen: "Dafür kann man spekulativ mannigfache Gründe anführen, von der phobischen Verachtung des deutschen Bildungsbürgertums für die deklassierte Bevölkerung (die sich noch in Marx" "Lumpenproletariat" findet) bis hin zur Fetischisierung des "Anständigen" durch die deutsche Arbeiterschaft, von der späten Entwicklung des Gesellschaftsromans bis zum Fehlen der repräsentativen Metropolenkultur. Das Französische hat ebenso mühelos ein geläufiges Argot-Wort für die Leiche bereit wie das Englische: un macchabée; a stiff. Das Deutsche hat neben "Leiche" nur den noch ernsteren "Leichnam" und den anatomischen oder pathetischen "Kadaver"."

Weitere Artikel: Maike Albath besucht für die NZZ Andrea Camilleri, dessen neuer Roman "Die Revolution des Mondes" gerade erschienen ist. Der haitianische, dieser Tage mit dem Literaturpreis im Haus der Kulturen der Welt in Berlin ausgezeichnete Schriftsteller Dany Laferrière ist ein Meister der "getäuschten Erwartung", schreibt der Schriftsteller Hans Christoph Buch in seiner Laudatio, die die FR dokumentiert.

Besprochen werden eine Biografie des Verlegers Johann Friedrich Cotta (NZZ), Madeleine Thiens Kambodscha-Roman "Flüchtige Seelen" (FR), Peter Sloterdijks "Die schrecklichen Kinder der Neuzeit" (Zeit), Gertraud Klemms "Herzmilch" (FAZ) sowie Dan Mazurs und Alexander Danners "Comics. A Global History" (SZ).
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Kunst


(Constantin Brancusi, Der Fisch, 1924, Centre Pompidou)

Sichtlich fasziniert und schwelgend begeht Ingo Arend (taz) die von Jean de Loisy kuratierte Ausstellung "Urformen" im Centre Pompidou in Metz. Dennoch schieben sich bei all den schönen Kreis- und Bogenformen leichte Zweifel unter: "So großartig, so anregend Loisys Schau ist, durchzieht sie doch ein konservativer Unterton: Mit seinem Satz von der "latenten Form in der noch ungeordneten Materie" suggeriert der Kurator die Existenz prä- oder ahumaner ästhetischer Grundformen. Und läuft damit Gefahr, hinter das rezeptionsästhetische Credo zurückzufallen, nach dem Kunst immer nur das sein kann, was jeder Betrachter in ihr sieht." John McCrackens Hommage an den Monolithen aus Kubricks Science-Fiction-Epos "2001" hält er am Ende dann aber doch selbst für "ein Objekt, das auch dann noch schön ist, wenn längst kein Mensch mehr existiert."

Nicht zufrieden ist Freddy Langer (FAZ) mit dem Konzept einer Ausstellung über die Fotosammlung des Frankfurter Städel Museums: "Die Geschichte der Fotografie lässt sich heute nicht mehr linear erzählen. Und genaugenommen werden dadurch falsche Fährten gelegt."

Weitere Artikel: Nicht direkt aufregend, aber doch "ruhig und schön" ist die Manifesta in Sankt Petersburg geraten, lobt Samuel Herzog in der NZZ. Womöglich ist die Postmoderne in der Architektur noch gar nicht zu den Akten gelegt, überlegt sich Laura Weissmüller (SZ) nach dem Besuch einer Schau, die das Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt seinem Gründungsdirektor Heinrich Klotz widmet. Sehr zufrieden schlendert Dieter Bartetzko (FAZ) von einer "Don Carlos"-Aufführung im Staatstheater Saarbrücken nach Hause, denn das Theater, einst als NS-Repräsentationsbau konzipiert, verbreitet nach einer Umbauphase ein deutlich luftigeres Flair, erklärt er: Es sei jetzt "eine Stätte freier Gedanken".

Besprochen werden eine Ausstellung über Rosso Fiorentino, Pontormo und den Manierismus im Florentiner Palazzo Strozzi (Welt), eine Corinne Wasmuht gewidmete Ausstellung in der Berliner Akademie der Künste (taz), die Kokoschka-Ausstellung im Kunstmuseum Wolfsburg (NZZ), "Kunst und Alchemie" im Museum Kunstpalast in Düsseldorf (NZZ), die Ausstellung "Der gefühlte Krieg" des Museums Europäischer Kulturen in Berlin (Tagesspiegel)die Ausstellung "Krieg! Juden zwischen den Fronten 1914-1918" im Jüdischen Museum in München (SZ).
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Bühne

Das Festival d"Avignon hat nach Streikaktionen zum Auftakt "an seinem zweiten Abend in politisch schweren Zeiten überraschend reibungslos in seine gewohnte Routine zurückgefunden", schreibt Eberhard Spreng im Tagesspiegel. In der FAZ porträtiert Kerstin Holm Lew Dodins "einzigartige Ensembleschule" am Malyj-Theater in St. Petersburg.

Besprochen werden Iván Fischers Kurzoper "Die Rote Färse" im Berliner Konzerthaus (Welt) und ein Richard-Strauss-Ballettabend in Dresden mit einer "von Strauss" besonders kalorienreichen, glissandorieselnden, harfenumglitzerten, bläserschmetternden Partituren" (Welt)
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Design

In Paris sind Haute Couture Schauen. "Die Attitüde muss modern sein", zitiert Alfons Kaiser in der FAZ Karl Lagerfeld. Und das scheint gelungen zu sein, betrachtet man die Bilder. Bei Chanel hieß das Motto "Le Corbusier geht nach Versailles" und das war, so Kaiser, " gut gewählt. Denn die Modernität der weißen Kleider aus künstlichem Stoff, der Kostüme à la Mademoiselle Chanel und der strubbeligen Newspaper-Boy-Frisuren werden erweitert um Tournüren wie aus vorrevolutionären Zeiten und üppige Stickereien wie aus dem Barock."

Im Guardian staunt Lauren Cochrane über die Dior-Schau von Raf Simons: Wie ein Konzeptalbum! "Extended over six segments, models dressed in everything from full-skirted ballgowns to full-length fur coats, chiffon slips and embroidered parachute silk boilersuits walked around a circular white room wrapped in chrome and covered - floor to ceiling - in white orchids. It even had a soundtrack of alpha experimentalists Sonic Youth. The front row included actors Charlize Theron and Sean Penn. Put together, it was a dizzying expression of creative director Raf Simons" vision for this revered Parisian house: futuristic, red carpet friendly and art-house all at once."

Und Jezebel fasst die Versace-Schau so zusammen: "For the Debutante-Slash-Dominatrix in You". (Bild: Dior)
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