Efeu - Die Kulturrundschau

Schönheit, Kraft und Majestät

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.01.2015. Zeit und FAZ erliegen dem organischen Rhythmus, mit dem Damian John Harpers Handkamera das Leben illegaler Einwanderer in LA beschreibt. Die Berliner Zeitung berichtet vom Club Transmediale. In der FR fragt Andras Schiff: Warum immer nur Steinway? Die NZZ lässt bei Mozart ihr Haar herunter. Literatur aus Afrika darf sich nicht auf politische Inhalte beschränken, fordert der nigerianische Schriftsteller Ben Okri im Freitag. In der Berliner Zeitung erklärt die Künstlerin Lorna Mills: Kunstzeitschriften sind out.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.01.2015 finden Sie hier

Film



Damian John Harpers Sozialdrama "Los Angéles" beeindruckt die Filmkritiker vor allem mit seiner, von den Brüdern Dardenne inspirierten Handkameraarbeit. Die ist hier nicht Ausdruck eines Authentizitäts-Klischee, versichert Andreas Busche in der Zeit: "Harper entdeckt in diesem Stilmittel wieder eine soziale Brisanz. Die Handkamera simuliert hier nicht Aktion, sie erzeugt stattdessen einen organischen Rhythmus: Es scheint, als würden die Bilder unter der körperlichen Anspannung zittern." In der FAZ schreibt Bert Rebhandl: Der unaufdringliche Kamerablick bewegt sich hier "mit jener Intuition, in der sich Wachsamkeit und Begehren nie unterscheiden lassen - es ist eine Beweglichkeit so nah an den Figuren, dass deren Blick mit dem des Films zusammenzufallen scheint, aber immer nur für Momente."

Für die Zeit hat Katja Nicodemus das Vergnügen, sich von Marcel Ophüls durch Paris chauffieren zu lassen. Der Filmemacher, der auf der Berlinale mit einem Spezialpreis geehrt wird und dessen Erinnerungen in diesen Tagen erscheinen (hier unser Vorgeblättert) sprüht vor Charme und Tatendrang, aber bezüglich seines Werks bedauert er doch etwas: ""Wissen Sie, es ist leichter, einen Oscar mit einem Film über KZs zu gewinnen als mit einem lustigen Film", sagt er, als wir den Arc de Triomphe umkreisen. "Die Themen meiner Filme erzeugen automatisch schon eine Bedeutung, die mir etwas ungemütlich ist. Eigentlich bedaure ich es, dass ich nicht in der Lage bin, Liebesfilme wie mein Vater zu drehen.""

Weitere Artikel: Beim Filmfestival in Rotterdam hat Beatrice Behn den deutschen Horror-Episodenfilm "German Angst" gesehen, mit dem Jörg Buttgereit, Michael Kosakowski und Andreas Marschall das verfemte Genre für das hiesige Kino wieder urbar machen wollen: "Ein Unternehmen, das im Großen und Ganzen gut gelingt", denn die Beiträge erinnern Behn "subkutan tatsächlich sehr an die expressionistischen Zeiten". Für die taz spricht Cristina Nord mit dem Regisseur Gabe Polsky, der mit "Red Army" einen Dokumentarfilm über Eishockey in der Sowjetunion gedreht hat. Zum Film gibts auch eine Besprechung in der Welt.

Der Tagesspiegel freut sich auf die Berlinale: Gunda Bartels schreibt über die Technicolor-Retrospektive, Christiane Peitz wirft einen Blick ins Forum und Patrick Wildermann begutachtet in der Perspektive Deutsches Kino den hiesigen Film-Nachwuchs. Anke Sterneborg trifft sich für die SZ mit Marcel Ophüls. Eine Meldung im Standard informiert über die Preisträger des Österreichischen Filmpreises.

Besprochen werden u.a. der endlich auf DVD vorliegende "Bierkampf" von Herbert Achternbusch (Freitag), "Birdman" ("eine gigantische Referenzmaschine", freut sich Frank Olbert in der Berliner Zeitung; taz, Welt, Standard) und Marie Kreutzers Film "Gruber geht" (Standard).
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Bühne


Académie équestre de Versailles | Bild: Matthias Baus

Für die NZZ berichtet Peter Hagmann von der Salzburger Mozartwoche, wo die Kantate "Davide penitente", (KV 469), in der Felsenreitschule von - pardon: mit - Pferden aufgeführt wurde. Der Kritiker ist entzückt: "Akustisch war das alles ganz hervorragend. Was aber die acht Grauen und die drei Schimmel mit ihren Reiterinnen und Reitern vollbrachten, konnte einem in seiner Ausstrahlung von Schönheit, Kraft und Majestät geradewegs das Wasser in die Augen treiben. Welche Perfektion der choreografierten Bewegungen, welche sinnreichen Spiegelungen der Musik. Und welche Effekte, wenn die Pferde gleichsam im Takt schritten oder Pas de deux aufführten, wenn die Reiterinnen, wie es die hohe Kultur von damals verlangte, zu singen anfingen und sich mit ihren Stimmen in den Chor einfügten oder wenn sie ihre Haarzöpfe öffneten und zu einem großen Tutti-Akkord in Kreisen reitend die Arme in die Höhe hoben."

Im Freitag-Gespräch mit Andreas Hartmann erinnert sich Dramaturg Carl Hegemann an die goldenen anarchistischen Jahre an der Berliner Volksbühne in den 90ern: "Die Volksbühne [war] kein Abbild von Berlin, sondern ein Gegenbild. Und zwar ein zutiefst widersprüchliches, in sich zerrissenes. ... Es war eine kolossale Selbstausbeutung. Familien- oder Privatleben konnte man vergessen. Allerdings war das auch mit einer großen Freiheit verbunden. Castorf war "der Fürst", aber jeder machte, was er wollte. Es war eine Mischung aus Monarchie und Anarchie. Als Gesellschaftsmodell würde ich das nicht empfehlen wollen, aber in der Kunst ist das wunderbar."

Besprochen werden Marcos Moraus in Oslo aufgeführte Choreografie "Edvard" (SZ) und Thom Luz" Bühnenbearbeitung von Manns "Zauberberg" in Basel (SZ).
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Literatur

Literatur aus Afrika erfährt vor allem dann in den klassischen Industrienationen Beachtung, wenn sie als Themenliteratur jene Probleme behandelt, die der anvisierte Markt als die akuten Probleme Afrikas definiert, ärgert sich der nigerianische Schriftsteller Ben Okri im Freitag: "Wenn ein Roman von der Sklaverei handelt, halten wir ihn automatisch für bedeutsam - für bedeutsamer als einen Roman über einen Mann, der zu viel trinkt. Die Geschichte Afrikas hat mit ihren Tragödien und Kriegen dazu geführt, dass schwarze Autoren als Sprecher für diese Missstände angesehen werden. Ihre Literatur ist engagierter als andere. Es kann aber auch dazu führen, dass sie nicht so abwechslungsreich und unterhaltsam ist und dann auch nicht so lange Bestand hat."

Weitere Aritikel: Andreas Kurtz plaudert für die Berliner Zeitung mit dem Bestseller-Autor Sebastian Fitzek über dessen Thriller "Passagier 23".

Besprochen werden Cynan Jones" "Graben" (FR), Phil Klays "Wir erschossen auch Hunde" (Zeit), Jochen Diestelmeyers Romandebüt "Otis" (Zeit), Ursula Ackrills Debütsroman "Zeiden, im Januar" (Zeit), Thomas Gnielkas Romanfragment "Als Kindersoldat in Auschwitz" (Zeit). Mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr.
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Musik

Jens Balzer berichtet in der Berliner Zeitung von seinen Abenteuern als DJ in Lappland. Außerdem hat er sich als Generalzuständiger der Berliner Popkritik für mutwillig in Kauf genommene Gehörschäden auf die Konzerte der Transmediale begeben. Bei Peder Mennerfelt etwa hörte er sich an "ganz undogmatischen Krach; an den schönsten Stelllen bissen sich fies ziepende Tinnitustöne kontemplativ in vibrierende Bassflächen".

Tilman Baumgärtel (Berliner Zeitung) und Birgit Rieger (Tagesspiegel) führen derweil durch das künstlerische Rahmenprogramm - mit Big Data als bestimmendem Thema - der Transmediale. Sophie Jung (taz) empfiehlt unterdessen das heutige Club-Transmediale-Konzert von Gazelle Twin, die ihr Schauer über den Rücken jagen: Sie sind "vor allem gruselig. Das Schauerhafte sitzt in den alltäglichen Dingen, denen sie in ihrer Musik ein eigenes, dunkles Leben einhaucht. Der simple Signalton einer Supermarktkasse etwa, dieses monotone Piepen, wenn der Laser einen Warenartikel erfasst, wird plötzlich zum unheilvollen Herzton."

Die Polemik des Pianisten András Schiff wider das Regietheater hatte vor einigen Wochen Wellen geschlagen. Im FR-Gespräch mit Stefan Schickhaus mahnt er nun auch die eigene Zunft zu Werktreue und Neugier, die über den Tellerrand geht, an. Insbesondere die unbedingte Treue zum Steinway ist ihm ein Gräuel: "Auf dem Steinway kann man wunderbar klar, fein und farbig spielen, es ist aber nicht einfach. Wenn man Schubert im Großen Saal der Alten Oper Frankfurt spielt, kommt ein Hammerflügel nicht infrage, deshalb muss ich dort einen modernen Steinway-Flügel nehmen. Es würde aber nicht schaden nachzudenken, ob es der Musik immer guttut, wenn wir sie in riesengroßen Auditorien aufführen. Die Menschen akzeptieren das allzu gern. Warum eigentlich?"

Weitere Artikel: Vor allem seinen alteingeschworenen Fans kommt Aphex Twin mit seiner neuen EP musikalisch sehr entgegen, meint Mark Richardson auf Pitchfork. Laura Ewert plaudert auf ZeitOnline mit den Spaßkanonen von Deichkind. Hartmut Welscher (VAN) lässt sich von Avantgarde-Elektromusiker Jan St. Werner Musik vorspielen und hat die dazu passenden Youtube-Videos rausgesucht. Kerstin Holm berichtet in der FAZ über Wolfgang Rihms Frankfurter Poetikvorlesungen.

Besprochen werden Jan St. Werners "Miscontinuum Album" (Pitchfork), Bob Dylans Cover-Album "Shadows in the Night" ("keine Sinatra-Hommage, sondern eine Sinatra-Beschwörung", wie Thomas Gross in der Zeit zufrieden feststellt), das Berliner Gedenkkonzert für Opfer der Shoah "Violins of Hope" (Tagesspiegel) und eine von Marc Soustrot dirigierte Aufführung von Claude Debussys "Pelléas et Mélisande" in Dresden (FAZ).
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Kunst

Selbst schuld, wer sich heutzutage als Künstler noch auf Objekte stürzt und auf Einladungen im Briefkasten wartet, könnte man als Fazit aus dem Gespräch ziehen, das Tilman Baumgärtel für die Berliner Zeitung mit der gerade im McLuhan-Salon in Berlin ausgestellten Künstlerin Lorna Mills geführt hat. Die auf verstörende GIF-Animationen spezialisierte Künstlerin singt jedenfalls ein enthusiastisches Loblied auf die digitale Vernetzung und Entmaterialisierung der Kunst: "Kunst ist im Web so viel leichter verfügbar, anders als eine traditionelle Ausstellung in einer Galerie. ... Jüngere Kuratoren suchen in den sozialen Medien nach Künstlern. Die lesen keine Kunstzeitschriften mehr, sondern treten direkt über Google+ und Facebook mit mir in Kontakt. Eine Sache, die mir an web-basierter Kunst im Allgemeinen gefällt, ist, wie international es ist. Und es ist nicht international auf die Art, dass es nur um die großen Metropolen geht. (Bild: Lorna Mills, Rayon)


Bild: Alexey Kallima, Relive The Blink (from the series "Chechnya Post-Rock"), 2001

Mit Bedauern berichtet Wladimir Velminski (Freitag) von der Ausstellung "Post Pop: East Meets West" in London, die an sich das Potential hätte, die Ausstellung zur Zeit zu sein: "Die Brisanz der Schau liegt auf der Hand. Denn wenn Machtsymbole aus West und Ost heute aufeinandertreffen, kommt dabei kein Lächeln zustande." Doch die Sache hat einen Haken: "Das Fehlen von Kontexten ist systematisch für die Gesamtschau. Und wenn es mal zu einem Dialog der Kunstwerke untereinander kommt, wird bei genauem Hinsehen deutlich, dass es sich nicht um eine Begegnung zwischen East und West handelt, sondern zwischen East und East beziehungsweise West und West. "

Weitere Artikel: Im Standard berichtet Roman Gerold von der Salotto Vienna in Aspern.

Besprochen werden die Ausstellung "Schlaflos - Das Bett in Geschichte und Gegenwartskunst" im 21er-Haus in Wien (Presse, Standard), das Projekt "Liberation Continued" im Museum Graz (Standard), Thomas Trenklers Fotoausstellung im Grazer Literaturhaus (Standard), die Paula Modersohn-Becker gewidmete Ausstellung im dänischen Humlebaek (SZ), die Rosemarie-Trockel-Ausstellung im Kunsthaus Bregenz (FAZ) und die Stuttgarter Dieter Roth-Ausstellung "Balle Balle Knalle" (bei der Hanno Rauterberg in der Zeit bemerkt, "dass Roths Gesten des Allesverschlingens und Allesumarmens doch ein wenig in die Jahre gekommen sind").
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