Efeu - Die Kulturrundschau

So viel heilige Naivität

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11.03.2015. Die Welt lernt in Venedig, warum Henri Rousseau der wahre Bohemien ist. In der Berliner Zeitung erzählt Mircea Cartarescu, wie Welt und Worte sein Papier überfluten. Najem Wali erinnert in seiner Dankesrede für den Kreisky-Preis daran, dass es Freiheitskämpfer überall auf der Welt gibt. In der Welt spielt Rammstein-Organist Christian Lorenz lieber mit der Stasi.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.03.2015 finden Sie hier

Kunst


Henri Rousseau, La Guerre- La chevauchée de la Discorde, ca. 1894

Während David Graeber gerade in der Financial Times das Lob des deutschen Postamts singt, betrachtet Welt-Korrespondent Dirk Schümer in Venedig die Bilder Henri Rousseaus und versteht, warum dieser gescheiterte Beamte der wahre Bohemien ist: Es "musste vielleicht ein komplett Ungebildeter kommen, um den großen Knoten der Verfeinerung zu lösen und seine Gestalten ins Bild zu klotzen wie ernste Bauern beim Fototermin. Oder Tropenwälder durch die Lupe fett zu begrünen. Oder das Meer mit dem Lichtspektrum eines Waschkessels einzufangen. Selbst der heilig-fatale Nationalismus jener Vorkriegsjahre wird bei Rousseau zum Kinderspiel, wenn er zu einem grellbunten Staatsakt Europas gekrönte Häupter unter Fantasiewimpeln zur rührenden Stehparty versammelt. So viel heilige Naivität haute Décadents, die wie Wassily Kandinsky nicht weiterwussten, einfach um."

Wenn im Hamburger Bahnhof in Berlin die abstrakten Arbeiten von Mary Heilmann und David Reed qua kuratorischer Eingebung miteinander "verpartnert" werden, entsteht dabei in erster Linie bloß dekorativer Mehrwert, meint Brigitte Werneburg in der taz. Ärgerlich findet sie das auch, weil Heilmann das ganz ohne Not nun schon zum zweiten Mal im Museumsbetrieb geschieht: "Dieses Vergehen in Schönheit hat sie (...) nicht verdient. Denn Mary Heilmann hat die Abstraktion ins Unreine und damit auch ins Unschöne getrieben ... Müssen die Ausstellungsmacher so originell tun, um die Künstlerin doch nur wieder wegzuschieben, weil es die Marketingprofis der großen Galerien wie Hauser & Wirth und die Auktionshäuser waren, die sie groß herausgebracht haben?" (Bild: Mary Heilman, Matisse, 1989, Privatsammlung, Courtesy Hauser & Wirth)

Weiteres: Der Architekt Frei Otto ist gestorben, meldet Monopol. Besprochen werden außerdem eine Ausstellung zum Schaffen von Adolf Loos und Josef Hoffmann im Wiener MAK (NZZ), Harun Farockis und Anja Ehmanns Videoinstallation "Eine Einstellung zur Arbeit" in Berlin (SZ), die Ausstellung "Boys and their Toys" im Kunstraum Kreuzberg (taz), die Ausstellung "Inventing Impressionism" über den Kunsthändler Paul Durand-Ruel in der National Gallery in London (FAZ) und die Ausstellung "Monet und die Geburt des Impressionismus" im Städel in Frankfurt ("Jedes einzelne Bild konnte zum Freiheitsversprechen werden", erklärt Julia Voss in der FAZ).
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Bühne

Besprochen werden Choreografien beim Wiener Imagetanz-Festival (Standard), Hakan Savan Micans "Clavigo"-Bearbeitung in Wiesbaden (FR), Mieczysław Weinbergs Auschwitz-Oper "Die Passagierin" in Franfurt (NZZ), David Dawsons Choreografie "Tristan + Isolde" in Dresden (Welt), Ronaldo Villazóns Inszenierung von Puccinis "La Rondine" an der Deutschen Oper Berlin (Tagesspiegel, mehr) und Christian Josts in Zürich uraufgeführte Oper "Rote Laterne" (FAZ).
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Literatur

In diesem Jahr wird Mircea Cartarescu mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet. In der Berliner Zeitung zeichnet Mathias Schnitzler ein schönes Porträt des rumänischen Autors, der sich selbst gar nicht für einen solchen hält, wie er im Gespräch verrät. Und der darauf besteht, keine anderen Realitäten zu beschreiben: "Die Wirklichkeit ist für mich eine untrennbare Mixtur von sinnlichen Daten und Sprache. Beim Schreiben übersetze ich die Welt nicht in Worte, sondern empfange eine Verschmelzung von Bildern, Geräuschen, Vorahnungen und andererseits von kulturellen und linguistischen Daten. In einem einzigen Fluss, der das Blatt überflutet."

In der taz gratuliert Ralf Leonhard Najem Wali zum Bruno-Kreisky-Preis für seinen Roman "Bagdad Marlboro". In seiner Dankesrede (veröffentlicht im Perlentaucher) erinnert Wali an drei junge Männer, die ihren Kampf für die Freiheit mit einem hohen Preis bezahlten: Hans Scholl, Bruno Kreisky und Najem Wali. Und er erinnert an Chelsea Manning, die heute in Isolationshaft sitzt, weil sie Kriegsverbrechen aufgedeckt hat: "Freiheitskämpfer wie Kreisky leben überall auf der Welt verstreut, zu verschiedensten Zeiten an verschiedensten Orten und gehören unterschiedlichsten Ethnien, Nationen, Hautfarben und Religionen an. Männer und Frauen, die der Geist der Freiheit eint. Sie kämpften gegen das Böse, gingen ins Gefängnis oder ins Exil, manche kamen dabei auch um, und sie sind nicht sehr zahlreich, doch sie gehen in das Gedächtnis der Menschheit ein."

Weitere Artikel: Tagesspiegel-Redakteur Gerrit Bartels beschleicht bei der Leipziger Buchmesse der Eindruck, dass "Bücher [hier] lediglich der Anlass sind, um dann nichts anderes zu tun als zu plauschen, zu reden, sich auszutauschen, zu diskutieren und zu debattieren." Zur Leipziger Buchmesse hat die SZ zahlreiche Schriftsteller und Schriftstellerinnen zu ihren Schreibgewohnheiten befragt. Im Schloss Bellevue erinnerten sich unter anderem Herta Müller und Uwe Kolbe auf Einladung von Joachim Gauck an den Schriftsteller Johannes Bobrowski, berichtet Arno Widmann in der FR. Der Standard bringt ein ausführliches Interview mit Sibylle Berg über ihren neuen Roman "Der Tag, als meine Frau einen Mann fand", Liebe, Sex und Feminismus. Außerdem hat die FAZ Sandra Kegels gestern im Print veröffentlichte Kritik am Deutschunterricht online nachgereicht. Und die taz bringt ihre Beilage zur Buchmesse.

Besprochen werden Chigozie Obiomas "Der dunkle Fluss" (Tagesspiegel), Scott McClouds "Der Bildhauer" (Tagesspiegel, Berliner Zeitung), Michael Degens Roman über Oscar Werner "Der traurige Prinz" (Standard), Rachel Kushners Roman "Flammenwerfer" (Standard), Kim Gordons Autobiografie "Girl in a Band" (Standard), Alfonso Zapicos Comic "James Joyce - Porträt eines Dubliners" (ZeitOnline), Giancarlo De Cataldos Krimi "Suburra - Schwarzes Herz von Rom" (Freitag) und Iris Hanikas "Wie der Müll geordnet wird" (FAZ).
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Film

Für ZeitOnline spricht Julia Dettke mit Kenneth Branagh über dessen (in der FAZ von Dietmar Dath besprochene) Neuverfilmung von Disneys "Cinderella".

Besprochen werden die Geheimagentensatire "Kingsman" mit Colin Firth (Welt), Gérard Depardieus Autobiografie "Es hat sich so ergeben" (taz) und Andrej Swjaginzews "Leviathan" (Berliner Zeitung, SZ).
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Musik

Im Standard singt Ronald Pohl ein kleines Liebeslied an die französischen Pianistin Marcelle Meyer (1897-1958), eine "Exponentin der Avantgarde", deren Studioaufnahmen wieder erhältlich sind: "Ein Kritiker schrieb einst: Wer Meyers Klavierspiel lausche, der denke unaufhörlich an das Lichtspiel auf bewegten Oberflächen. Tatsächlich hat man Ravels "Menuet antique" kaum je so unternehmungslustig und forsch gehört. Meyers Genie liegt in der fließenden Rhythmik. Die Stücke des Protoimpressionisten Emmanuel Charpentier inszeniert diese Logikerin am Flügel als heiter bewegte Kinderszenen. Alles glitzert und fließt, und noch die Sonaten Domenico Scarlattis werden zu kleinen, dramatischen Denkaufgaben. Ergötzlicher kann man den Frühling kaum beginnen."

Hier spielt sie sieben Sonaten von Scarlatti:



Michael Pilz besucht für die Welt den Rammstein-Organisten Christian "Flake" Lorenz, der in seiner Autobiografie "Der Tastenficker" und im Gespräch nur die wärmsten Erinnerungen an die DDR pflegt: "Flake schreibt, wie praktisch er es fand, wenn die IM in Bands spielten und ihre Bands auch noch so hießen wie Die Firma. "Da hat sich die Stasi Bands gezüchtet, um gegen die Stasi anzuspielen und die Stasi abzuschaffen. Das fand ich schon damals faszinierend", sagt er. Eine seiner eigenen Bands hieß Magdalene-Keibel-Combo, weil die Stasi in der Magdalenenstraße saß (die Polizei saß in der Keibelstraße). "Dann verharmlose ich eben", sagt er. "Aber ich habe das so erlebt.""

Weitere Artikel: Grayson Haver Currin (Pitchfork) unterhält sich mit der philosophisch vergrübelten US-Black-Metal-Band Liturgy. Für VAN spricht Julian Tompkin mit Bryce Dessner, der sich neben seiner Tätigkeit als Gitarrist der Indierockband The National noch eine künsterische Karriere als Komponist zeitgenössisch-klassischer Musik aufgebaut hat. Die taiwanesische Indieband Sodagreen hat in Berlin ein Album aufgenommen, berichtet Jens Balzer in der Berliner Zeitung. Dieter Bartetzko (FAZ) gratuliert Nina Hagen zum Sechzigsten. Besprochen wird Rebecca Fergusons "Lady Sings The Blues" (taz).
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