Efeu - Die Kulturrundschau

Auf den Wogen des Vegetativen

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14.03.2015. In der NZZ erinnert sich Bora Cosic an seinen Freund Danilo Kis, der die ganze Leere des Lebens in eine rote Blechkiste packte. In der Welt beschwört A.L. Kennedy die Stille vor dem Kuss. Die SZ erlebt halbe Saalschlachten mit Thomas Ostemeiers "Volksfeind" auf Welttournee. Die FAZ bewundert in Frankfurt Isa Genzkens leicht derangierte Figuren. Mit Begeisterung reiten die Kritiker auf den Gefühlswellen in René Polleschs und Dirk von Lotzows Berliner Oper "Von einem der auszog, weil er sich die Miete nicht mehr leisten konnte".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.03.2015 finden Sie hier

Bühne


Martin Wuttke, Lilith Stangenberg und der Wal. © Lenore Blievernicht

Premiere an der Berliner Volksbühne von René Polleschs und Dirk von Lowtzows gemeinsamer Oper "Von einem der auszog, weil er sich die Miete nicht mehr leisten konnte": Entgegen ihrem Titel handelt sie weniger von Gentrifizierung, als vielmehr von der Ernüchterung der Liebe, hält Christian Rakow auf der Nachtkritik fest und war von dem Abend schlicht umgehauen: "Überall Anleihen, überall Zitate, überall Verse zwischen Ironie und Pathos - und: Es geht auf! Es blitzt! Es ist durch und durch Pollesch. ... Die Liebe, im Moment des Aufkeimens wie im Verlust, ist ja ein ozeanisches Gefühl - ein Treiben auf den Wogen des Vegetativen. Man isst nicht mehr, man bebt nur noch, man deliriert. Auf diese Gefühlswelle nimmt uns Pollesch mit, wenn er diskutieren lässt, wie viel Selbstverständnis wir eigentlich aus dem Partner beziehen." Und er prognostiziert: "Das Ding wird ein Hit, man muss es gesehen haben."

Im Tagesspiegel lobt Christine Wahl die Arbeitsteilung zwischen Theatermann und Musiker: "Kreativitätstechnisch hat jeder, was man dem Abend im positivsten Sinne anmerkt, das Ureigene gemacht. Theatertext, Songs und Kompositionen korrespondieren zwar, hängen aber strukturell-dramaturgisch nicht voneinander ab. Tatsächlich taugt das Resultat zur Werbemaßnahme für die hohe Kunst der Nicht-Zusammenarbeit." Dirk Pilz (Berliner Zeitung) gratuliert. Bei den zitatgespickten "Pollesch-typischen Diskursen" geriet Jenni Zylka (taz) zwar ins Gähnen, doch dafür imponierte ihr der von Colin Mitchell konstruierte, über der Bühne schwebende und überdies begehbare Holzwal umso mehr. In der FAZ bezeugt Klaus Ungerer einen immerhin "recht netten Abend zwischen Phantasma und Psychose".



DerVolksfeind. Regie: Thomas Ostermeier
Von Berlin nach Indien: In Kalkutta herrscht reges Interesse an Thomas Ostermeiers durchs Land tourenden "Volksfeind"-Inszenierung der Berliner Schaubühne, berichtet Christine Dössel in der SZ: Insbesondere bei den Publikumsdiskussionen im Anschluss gehe "stets die Post ab". Und: "Beim Austausch mit dem Publikum hat das Ensemble schon die irrsten Sachen erlebt. In Buenos Aires kam es fast zur Saalschlacht. Im von den Gezipark-Protesten aufgeladenen Istanbul sah die regierungstreue Presse in dem Gastspiel einen regelrechten Aufruf zum Sturz Erdoğans. In Moskau enterten Zuschauer die Bühne, um sich mit Stockmann zu solidarisieren. "Das Stück trifft weltweit auf eine große Frustration über politische Entscheidungsprozesse", sagt Ostermeier."

Udo Badelt (Tagesspiegel) besucht die Proben zu Tobias Ribitzkis Berliner Inszenierung von "Triple-Sec", die Marc Blitzstein und Gershwin kombiniert. Besprochen werden Philipp Kuglers Inszenierung von Harold Pinters "Hausmeister" am Theater Duisburg (Nachtkritik).
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Literatur

In einem sehr schönen Text in der NZZ erinnert sich Bora Cosic an seinen jugoslawischen Dichterfreund Danilo Kis, dessen Hab und Gut in eine rote Blechkiste passte: "Das Dasein eines Apatriden war sein Schicksal, wie er später auch eine Erzählung genannt hat. Die Gefühllosigkeit, auf die er während seines ganzen Lebens stieß, widerfuhr ihm auch in der lieblichen Stadt Rovinj, es stellte sich heraus, dass er das Zimmer in der Via del Monte nicht bekommen würde, die rote Kiste blieb unausgepackt. Nie habe ich erfahren, was drin war. Eine Freundin von mir, eine russische Dichterin, später ermordet von unreinen Mächten (die es in Russland immer gibt), traf einmal in Bayern ein, und als sie vor mir ihren Koffer öffnete, waren, trostlos hin und her schlackernd, zwei, drei Bücher und ein paar Schuhe darin, weil sich in diesem Gepäck eigentlich die Leere des damaligen Lebens in Russland befand. Vielleicht wurde auch in Kis" Kiste die Leere unseres Lebens, am Vorabend des letzten wahnsinnigen Kriegs auf dem Balkan, verwahrt."

Karl-Markus Gauß schreibt zudem über Romanwerk "Familienzirkus" und Mark Thompsons Kis-Biografie "Geburtsurkunde".

In der Literarischen Welt unterhält sich Thomas David mit der schottischen Schriftstellerin A.L. Kennedy über ihren neuen Erzählungsband "Der letzte Schrei" und die Konzentration beim Schreiben: "Wenn man Fotos betrachtet, die Schriftsteller bei der Arbeit zeigen, denkt man meist, sie würden unsäglich leiden, aber die Ernsthaftigkeit ihres Blicks ist lediglich Ausdruck einer Konzentration. Es ist wie kurz vor einem Kuss, wenn das eigene Gesicht sehr ernst und ruhig wird, weil man sich selbst vollkommen vergisst und nur noch an den anderen denkt. Man ist nicht ernst, man ist im Gegenteil voller Freude."

Fatma Aydemir bringt in der taz Impressionen von der Leipziger Buchmesse, wo Jochen Distelmeyer aus seinem von der Kritik wenig geliebten Debüt "Otis" liest und damit voll zu punkten versteht: "Über das Gehör wirkt die an Homers "Odyssee" angelehnte Geschichte des Tristan Funke ganz anders. Die Sätze hat Distelmeyer größtenteils im Gehen und Sprechen konstruiert."

Weiteres: Die FAZ bringt Uwe Tellkamps Laudatio auf Mircea Cărtărescus "Orbitor"-Trilogie, für die der Autor mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet wurde. Joachim Güntner resümiert für die NZZ den Auftakt der Buchmesse und registriert auch den Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik für Manfred Papst, den Feuilleton-Chef der NZZ am Sonntag. Auch Jan Wiele (FAZ) flaniert über die Leipziger Buchmesse. Marc Reichwein geht in der Welt mit dem Leipziger Verlager Mark Lehmstedt essen. Christian Gasser berichtet in der NZZ vom Comix-Festival Fumetto in Luzern, das den Altmeister und bekennenden Anarchisten Jacques Tardi mit einer Retrospektive würdigt. Philipp Theisohn (FAZ) schreibt zum Tod des Fantasyautors Terry Pratchett.

Besprochen werden Amos Oz" "Judas" (Berliner Zeitung, mehr), Dirk Lauckes "Mit sozialistischem Grusz" (taz), Giancarlo De Cataldos und Carlo Bonini Mafiathriller "Suburra" Leif Randts "Planet Magnon" (ZeitOnline, mehr), Marcin Szczygielskis "Flügel aus Papier" (Berliner Zeitung), Ulla Lenzes "Die endlose Stadt" (Berliner Zeitung), Peter Richters "89/90" (Berliner Zeitung), Thomas Brussigs "Das gibts in keinem Russenfilm" (Freitag), Kate Beatons Comic "Obacht! Lumpenpack" (Tagesspiegel), Albrecht Schönes "Der Briefschreiber Goethe" (SZ) und Polina Scherebzowas "Polinas Tagebuch" (FAZ).
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Architektur

Im Tagesspiegel schreibt Christian Schröder den Nachruf auf Michael Graves, der das Ornament zurück in die Architektur brachte. Rainer Haubrich beklagt noch einmal in der Welt, dass die Moderne nichts geschaffen hat, was den Wohnbauten der Gründerzeit gleichkommt.
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Kunst


Isa Genzken, Schauspieler III, 2015, New Works, MMK Museum für Moderne Kunst, 2015 Foto/photo: Axel Schneider.

Isa Genzkens
derzeit im MMK in Frankfurt ausgestellte Figuren mögen derb wirken, doch davon sollte man sich nicht beirren lassen, erklärt Sandra Danicke in der FR: Diese Kunst "ist grobschlächtig und verspielt, lustig und gnadenlos, extrem hip mit ihren Knallfarben und Spiegelfolien und gleichzeitig alles andere als oberflächlich. Ihre Werke sehen aus, als entstünden sie schnell, intuitiv, mit leichter Hand. ... Das Aufregende in diesen Arbeiten ist, dass konkrete Deutungsversuche immer ins Leere laufen. Zum Beispiel dadurch, dass die Schaufensterpuppen nicht nur derangiert, sondern zugleich auch hochkomisch anmuten und an die Zumutungen der Modeindustrie erinnern." Weitere Besprechungen bringen SZ und FAZ.


Carl Apstein, Eisberg mit dicken Schichten blauen Eises, 1.12. 1898 © Museum für Naturkunde Berlin, Historische Bild- und Schriftgutsammlungen

In einer von Beatrice Staib kuratierten Ausstellung in der Berliner Guardini Galerie treffen historische Fotos der Valdivia-Expedition in die Antarktis auf Hans-Christian Schinks neue Antarktis-Bilder. Vor allem die historischen Aufnahmen versetzen Christian Schröder im Tagesspiegel in eine fast schon literarisch-abenteuerlustige Stimmung: "In ihnen spürt man ein beinahe naives Staunen. Die Akademiker sind ganz offensichtlich hingerissen von dem, was sie entdecken. ... Wind bauscht ihre Mantelsäume. Sie stehen erwartungsvoll mit hochgeschlagenem Kragen auf Deck, lehnen über der Reling, starren gebannt in eine milchige Ferne, bei der sich nur raten lässt, was sie verbergen mag. Ist Land in Sicht? Zeigt sich endlich, endlich der Weiße Wal?"

Die FAZ gratuliert dem Städel-Museum mit einer Hommage zum 200-jährigen Bestehen. Edi Zollinger entwirrt in der NZZ die Fäden, die Velazquez in seinem Bild "Die Spinnerinnen" zu einem verwickelten Anspielungsnetz verknüpft. Besprochen wird die Alexander-McQueen-Retrospektive in London (FAZ).
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Film

Paul Katzenberger (SZ) plaudert mit Kenneth Branagh über dessen "Cinderella"-Film: An der Aschenputtel-Figur reizte ihn vor allem ihr widerständiger Aspekt, erklärt er. Besprochen werden Zeresenay Berhane Meharis "Das Mädchen Hirut" (Tagesspiegel, epd-Film, filmgazette) und J.C. Chandors "A Most Violent Year" (critic.de).
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Stichwörter: Branagh, Kenneth

Musik

Mit seinem Projekt "Dollhouse" unternimmt der Klarinettist Martin Fröst den Versuch, die eingefahrene Form klassischer Konzerte mit Performance- und Tanzaspekten aufzubrechen. Für VAN hat sich Breandáin O"Shea bei dem Musiker nach dessen Motivation erkundigt: "Ich habe mich gefragt, wohin die klassische Musik geht: Was sind ihre Ursprünge, und was machen wir heute daraus? Mir scheint, wir verlieren diese Ursprünge aus dem Blick. Als wir heute zum Beispiel diese Beethoven-Sinfonie gespielt haben (...), dachte ich, wir sind so weit weg von dieser Musik. Nicht nur zeitlich - wir haben auch nicht mehr diese enge Verbindung zu den Tänzen, die darin enthalten sind." Im Netz kann man sich ein solches Konzert in voller Länge ansehen:



Weiteres: In der FAZ hält Edo Reents Rückschau auf das Popjahr 1965, in dem sich nicht nur das Album als Form durchsetzte, sondern auch Bob Dylan, die Beatles und die Stones eine neue, selbstbewusst behauptete Subjektivität in den Pop brachten. Spex und Pitchfork tun sich schwer mit dem neuen Album von Madonna: "Diese Musik will nichts, sagt nichts, fragt nichts", beklagt sich Thomas Groß und bedauert es, dass Madonna sich nicht ihrem Alter entsprechend für den "Joni-Mitchell-und-Bob-Dylan-Weg als Alternative" entschieden habe. Jessica Hopper bescheinigt dem Album unterdessen, mit zunehmender Dauer "verwirrend und unauflösbar unausgewogen" zu werden. Sebastian Leber porträtiert das Privatfernsehen-Phänomen Daniel Küblböck. Auf ZeitOnline stellt Daniel Gerhardt aktuelle Popveröffentlichungen vor, darunter das neue Album von Modest Mouse.

Besprochen werden Konzerte von Asaf Avidan (Tagesspiegel), Katy Perry (Berliner Zeitung), Yefim Bronfman und Pinchas Zukerman (Tagesspiegel) sowie Westbams Autobiografie (FAZ).
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