Efeu - Die Kulturrundschau

Manchmal ist es auch eine Zumutung

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20.05.2015. In Cannes ziehen die Kritiker eine Bilanz der ersten Festivalhalbzeit und rätseln über die Entscheidungen der Auswahlkommission. Mit großem Vergnügen lässt sich die Nachtkritik beim Internationalen Figurentheaterfestival in Nürnberg, Erlangen und Fürth überfordern. Der gefräßige Kunstmarkt macht aus Künstlern Rockstars, beklagt die SZ. Die NZZ bestaunt in Barcelona den Humor und die Selbstironie von Maria Lassnig.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.05.2015 finden Sie hier

Kunst

Dass die aktuelle Ausgabe der Biennale in Venedig international kaum zu überzeugen vermochte, liege auch am gefräßigen Kunstmarkt, schreibt Catrin Lorch in der SZ: Wo immer größere Summen hin- und hergeschoben werden und immer mehr Leute ihre Interessen gewahrt sehen wollen, könne nicht mehr vernünftig kuratiert werden. Denn "mit Künstlern, deren Namen in einer globalen Kunst-Industrie so zugkräftig sein müssen wie die von Rockstars, lässt sich nicht mehr gut arbeiten. Wenn keiner mehr der "Supporting Act" des anderen sein will, kann man einzelne Werke nicht mehr in Szene setzen. ... Nicht einmal der versierte Okwui Enwezor scheint der Künstler hier noch Herr zu werden."

In der Fundació Antoni Tàpies in Barcelona ist die erste große Einzelausstellung von Werken der österreichischen Künstlerin Maria Lassnig nach ihrem Tod im vergangenen Jahr zu sehen. Caroline Kessler hat die Schau für die NZZ besucht und ist beeindruckt, wie sich Lassnig von Entbehrungen und ausbleibender Anerkennung zeitlebens nicht verbittern ließ: "Als Gegengift waren ihr ein Übermaß an Humor und (Selbst-)Ironie gegeben. So konnte sie ihre Verletzlichkeit bekennen, ohne in der Opferrolle zu versinken. Umgekehrt bewahrte sie ihr Witz, der auch in den Bildtiteln zum Ausdruck kommt, vor pathetischen Selbsterhebungen. Von umwerfender Komik ist ihr Animationsfilm "Kantate" aus dem Jahr 1992, in dem sie ihre Biografie in all ihren Höhen und Tiefen in gereimten Versen und dazu passenden Verkleidungen Revue passieren lässt." Bei YouTube ist der Film zu sehen. (Bild: Maria Lassnig: Du oder ich. 2005)

Weiteres: Freddy Langer (FAZ) gratuliert dem Fotografen Anton Corbijn zum Sechzigsten. ZeitOnline bringt eine Strecke mit Fotografien der Werke des franzöischen Street-Art-Künstlers JR.

Besprochen werden die Ausstellung "Post-Soviet Cassandras" in der Galerie im Körnerpark in Berlin (taz), die von Ken Jacobson und Jenny Jacobson herausgebrachte Buchveröffentlichung "Carrying Off the Palaces: John Ruskin"s Lost Daguerreotypes" (SZ), die Ausstellung "Inhuman" im Fridericianum in Kassel (FAZ), die Ausstellung "Gegen/Kunst - "Entartete Kunst" - "NS-Kunst" - Sammeln nach "45" in der Pinakothek der Moderne in München (SZ) sowie Marc Ferrez" und Robert Polidoris Fotoband "Rio" (SZ).
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Film



Zweite Halbzeit in Cannes. Heute macht sich die Filmkritik Sorgen um die Zurechnungsfähigkeit der Auswahlkommission: Wenke Husmann (ZeitOnline) wüsste beispielsweise wirklich gerne, wie es ihrer Ansicht nach gründlich missratene Filme wie Dennis Villeneuves Thriller "Sicario" und Valerie Donzellis Inzestdrama "Marguerite und Julien" (mehr auf critic.de) in den Wettbewerb geschafft haben (zumindest in Anke Westphal von der Berliner Zeitung hat Villeneuves Film eine begeisterte Fürsprecherin, mehr auch auf critic.de und kino-zeit.de). Und Cristina Nord (taz) fällt nicht der geringste Grund ein, warum Miguel Gomes" "Arabian Nights" und Apichatpong Weerasethakuls "Cemetery of Splendour", dem auch Verena Lueken (FAZ) einiges abgewinnen kann, nur in Nebensektionen statt in der Königsdisziplin laufen. Überhaupt Weerasethakul: Aufs Neue ist dem thailändischen Regisseur ein Film gelungen, der "traumwandlerisch frei in den Zusammenhängen und Möglichkeitsräumen" ist und "voller reger Augenblicke" steckt, schwärmt Frédéric Jaeger auf critic.de. Und der neue Film von Jia Zhangke? Dazu hat Joachim Kurz auf die Schnelle nur das hier zu sagen:

Außerdem: Beim Perlentaucher bietet Lutz Meier seine Eindrücke von der ersten Hälfte des Festivals: Zu beobachten gebe es dort "Sozialfilmer, die die Wirklichkeit verloren haben, und Geschichtenerzähler, die sie wiederfinden." Immer wieder gehe es in den Wettbewerbsfilmen auch um "Mut und Einsamkeit der Frauen", stellt Jan Schulz-Ojala im Tagesspiegel fest. In der NZZ berichtet Susanne Ostwald, in der SZ Tobias Kniebe. Weitere Besprechungen in den laufend aktualisierten Berichterstattungen von kino-zeit.de, critic.de, epdFilm, film-dienst, KeyFrame Daily und Negativ Film. Für ein schnelles Stimmungsbild ist dieser Kritikerinnenspiegel von critic.de sehr brauchbar. Und Katrin Doerksen begleitet das Festival weiterhin mit der Fotokamera.

Ferner: Das also war "Mad Men" gewesen, seufzt Lisa Forster auf ZeitOnline, denn die Serie ist nach der am Sonntag ausgestrahlten finalen Episode als rundum geglückt anzusehen: "Die Geschichte des Don Draper ist die Geschichte eines modernen Odysseus." Von Fantastikfreunden lange erwartet, lief am Sonntag auf der BBC die erste Folge der Serienadaption von Susanne Clarkes Roman "Jonathan Strange und Mr. Norrell". Emily Asher-Perrin von Tor ist in ihrer Rekapitulation der Pilotfolge allerdings noch etwas unterwältigt.
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Literatur

Besprochen werden unter anderem Leif GW Perssons "Der glückliche Lügner" (FR), Sarah Kirschs Reisetagebuch "Aenglisch" (SZ, mehr) und Tommi Musturis Comic "Das Handbuch der Hoffnung" (taz)
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Stichwörter: Kirsch, Sarah

Architektur

Dieter Bartetzko, langjähriger Architekturkritiker der FAZ, ist gestern im Alter von 66 Jahren gestorben. FAZ-Feuilletonchef Jürgen Kaube würdigt seinen Kollegen in einem sehr persönlichen Nachruf, der zugleich auch auf Bartetzkos letzte Texte verweist.

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Stichwörter: Bartetzko, Dieter

Bühne

Überwältigt von der zur Schau gestellten Virtuosität und Vielfalt berichtet Dieter Stoll in der Nachtkritik vom 19. Internationalen Figurentheaterfestival in Nürnberg, Erlangen und Fürth: "Das Risiko ist dabei zum Prinzip erhoben, wer sich dem Sog der Angebote aussetzte, war schnell mal vom Comedy-Trip in die Esoterik, von der Zirkus-Show ins Masken-Spalier gestolpert. Zuverlässig unberechenbar blieb es allemal. "Manchmal ist es auch eine Zumutung", sagte ein Dauergast, und das war als Kompliment gemeint." (Im Bild: "Andre & Dorine" vom Kulunka Teatro.)

Besprochen werden Gerhild Steinbuchs in Frankfurt uraufgeführtes Stück "MS Pocahontas" (FR), in Wolfsburg aufgeführte Choreografien von Lin Hwai-Min (mitunter "Kitsch", schreibt Alexandra Albrecht in der FAZ) und Stefan Puchers Zürcher Sartre-Inszenierung "Schmutzige Hände" ("der Funke springt nicht über", beklagt sich Martin Halter in der FAZ).

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Musik

Der allgemeinen Begeisterung für Kamasi Washingtons ausuferndes Jazzalbum "The Epic" schließt sich nun (nach Pitchfork und SZ - unser Resümee) auch Markus Schneider an, der sich in der Berliner Zeitung tief vor diesem Meisterwerk verneigt: "Noch schöner als der immense ästhetische Anspruch, der einnehmend größenwahnsinnige Bogen, die schiere Opulenz ist aber dies: Keine dieser 172 wundervollen Minuten klingt auch nur eine Sekunde geschwätzig, angeberisch, retro oder irgendetwas außer: selbstverständlich und grandios." Hier eine weitere Hörprobe:



Weiteres: Auch das Bonner Beethoven Orchester tut sich schwer mit der Dirigentenwahl, meldet Manuel Brug in der Welt: die Musiker haben in Jun Märkl einen anderen Favoriten als die prominent besetzte Findungskommission in Marc Piollet. "Keine guten Aussichten": Im Freitag sieht Jörg Augsburg die Popfestival-Blase mitten im Platzen begriffen. Harald Jaehner (Berliner Zeitung) porträtiert Bibi Bourelly, die in Berlin lebende Hitschreiberin für Rihanna. Ebenfalls in der Berliner Zeitung porträtiert Elmar Kraushaar die Sängerin Ann-Sophie, die für Deutschland zum Eurovision Song Contest nach Wien reist. In der Welt unterhält sich Frédéric Schwilden mit Nick Cave. Christian Schröder (Tagesspiegel) und Andreas Platthaus (FAZ) gratulieren Pete Townshend zum Siebzigsten.

Besprochen werden ein Konzert von Herbert Grönemeyer in Zürich (Tages-Anzeiger) sowie neue Veröffentlichungen von Faith No More (Pitchfork), Daniel Bachmann (Pitchfork) und Cecil Taylor (Pitchfork).
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