Efeu - Die Kulturrundschau

radikale marien und freie susannen

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11.06.2015. Die NZZ verliebt sich in die radikalen Pietisten des Dichters Ulf Stolterfoht. Giorgio Moroders erstes Album seit 30 Jahren ist perfekt, aber nicht fantastisch, urteilt eine verstörte SZ. Größenwahnsinnige Wissenschaftler, staunende Kinderaugen, jede Menge weit aufgerissene Sauriermäuler - in "Jurassic World" funktioniert selbst dieses abgenudelte Konzept, versichern die Kritiker.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.06.2015 finden Sie hier

Literatur

Ein Langgedicht über die Auswanderungsbewegung radikaler Pietisten im 18. und 19. Jahrhundert? Aber ja, warum nicht, meint Michael Braun in der NZZ nach Lektüre von Ulf Stolterfohts "neu-jerusalem". Das passt: "Wenn Stolterfoht vom großen Aufbruch der Erweckten ins neue Utopia berichtet, dann mobilisiert er die für ihn typische Sprachkomik, die er aus der Erforschung der regionalen Wurzeln der frommen Pilger ableitet. Hier zeigt er seine sprachakrobatische Meisterschaft: "sie alle waren damals gleichfalls auf der straße . . . speckschweizer erweckte; . . . / laupheimer mucker; ledige mütter; sodomiten; böhme-versöhnte; / radikale marien und freie susannen (zum teil mit gliedpfannen); / versprengte gerenkte; die gelinden bringer von singen; klempe- / rer; schweinfurter künder der durft . . ." Es gehört indes zu den großen Reizen dieses Buches, dass es auch so manche Prämisse der experimentellen Lyrik ins Wanken bringt."

Weitere Artikel: Bei Clemens Meyers hochassoziativ summendem, brummendem Chaos-Eröffnungsvortrag seiner Frankfurter Poetikvorlesung verlor FAZlerin Lena Bopp rasch die Orientierung (mehr dazu hier). Peter Münder schreibt in der NZZ zum 150. Geburtstag des irischen Dichters William Butler Yeats, Werner von Koppenfels in der FAZ. Jan Schulz-Ojala (Tagesspiegel) gratuliert dem Schriftsteller James Salter zum 90. Geburtstag.

Besprochen werden Christoph Meckels gesammelte Gedichte in "Tarnkappe" (NZZ), Joachim Lottmanns "Happy End" (Freitag), Alexandre Kojèves "Tagebuch eines Philosophen" (FR), Richard Corbens Poe-Comic "Geister der Toten" (Tagesspiegel), Christoph Meckels Gedichteband "Tarnkappe" (SZ, FAZ), Edan Lepuckis "California" (SZ) und drei frühe Romane von Evelyn Waugh (FAZ).
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Film



Der neue Digitalsaurier-Kracher "Jurassic World" mag als Film an sich zwar wenig taugen, aber immerhin doch als Kommentar zum Gegenwartskino, wie einige Kritiker feststellen. Peter Uehling von der Berliner Zeitung etwa, der dem Film ein "unverhofft hohes Reflexionsniveau" bescheinigt. Oder Danny Gronmaier, der nach all dem Computerechsen-Trubel auf critic.de ganz nostalgisch wird: Colin Trevorrows Film "nimmt seinen dramaturgischen Kern, das Scheitern im Heischen nach Reaktionen des Staunens, als Dilemma des Pixelbildes visuell in sich auf. Das in den früheren Filmen noch auf einen realweltlichen Zuschauer beziehbare Staunen über die digital animierten Saurier weicht einer vollständigen Aneignung (des Digitalen) durch das Digitale - und adressiert so vielleicht ein generelles Problem des zeitgenössischen "Höher, Weiter, Schneller"-Blockbusters. Denn wirklich Spaß macht dieses Kino, bei aller gesteigerten Reflexionsfähigkeit, dann doch momentan am meisten in seiner stumpfen Analogizität."

Im Perlentaucher meint Lukas Foerster: "Also alles noch einmal: Größenwahnsinnige Wissenschaftler (und neu: Militärs), staunende Kinderaugen, jede Menge weit aufgerissene Sauriermäuler. ... Zu sich selbst kommt "Jurassic World" ausschließlich in den (zahlreichen) Actionszenen." (Weitere Kritiken im Standard, der Presse und der Welt)

Mehr Selbstreflexion gibt es nur in Sebastian Schippers in einer einzigen Einstellung gedrehtem Berlin-Thriller "Victoria", schreibt Matthias Dell im Freitag: Hier "geht [es] um das Jetzt, das Live, die Partikularwahrnehmung. Auch wenn Schippers Film sich in seinem Fortgang öfter ins Kino flüchtet vor dem Leben, das er in der Echtzeit gesucht hat." Hier unsere Berlinale-Kritik und hier Hanns-Georg Rodeks begeisterte Kritik in der Welt.

Noch ein Biopic über einen Musiker, braucht es das? Im Fall von Beach Boy Brian Wilson und Bill Pohlads "Love & Mercy" durchaus, meint Diedrich Diederichsen in der taz, wenngleich es ihm in erster Linie die "großartigen Studioszenen" angetan haben, die einen Eindruck davon vermitteln, "welche ausgetüftelten konstruktiven Ideen [Wilson] dazu brachten, Joghurtbecher elektrisch zu verstärken. ... Es [ist] sogar gelungen, die akustischen Halluzinationen und Soundalbträume einigermaßen plausibel und klanglich anregend zu gestalten, über die Wilson damals geklagt hat und die seiner brillanten Studiokunst schließlich eine Grenze gesetzt haben." In der Berliner Zeitung schreibt Popexperte Jens Balzer über den Film. Weitere Besprechungen in SZ, FAZ und auf ZeitOnline. Mehr in unserer gestrigen Kulturrundschau.

Außerdem: In Frankfurt lassen sich die Filme von Miklós Jancsó wiederentdecken, schreibt Lukas Foerster in der taz. Moritz von Uslar trifft sich für die Zeit mit dem Schauspieler Frederick Lau.

Besprochen werden Christian Labhards Biopic über den Maler Giovanni Segantini (NZZ), Susanna Fanzuns Dokumentarfilm über einen Sommer auf der Alp "Kühe, Käse und 3 Kinder" (NZZ), Cornelia Grünbergs auf DVD veröffentlichter Film "Achtzehn" (taz), die neue Serie "Togetherness" (FAZ) und der an den Kinokassen sensationell scheiternde FIFA-Film "United Passions" (SZ).
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Kunst

In Berlin wird am Freitag in den ehemaligen Atelierräumen des einstigen NS-Staatsbildhauers Arno Breker das zum Ausstellungsort für die Nachkriegsmoderne umgewidmete Kunsthaus Dahlem (mehr) eröffnet, schreibt Birgit Rieger im Tagesspiegel: "Spannungen, die vom Breker-Atelier ausgehen, müssen aufgearbeitet werden. Ob der neutrale Name "Kunsthaus Dahlem" dabei hilft, darüber lässt sich streiten. Über die Geschichte des Hauses informieren Wandtafeln. Brekers Werdegang wird in einer Publikationsreihe aufgearbeitet. In den ersten Ausgaben ist zu lesen, wie die Nationalsozialisten das Staatsatelier nutzten." Für die Berliner Zeitung hat sich Irmgard Berner mit der Leiterin des Hauses, Dorothea Schöne, unterhalten.

Weiteres: Zum ersten Todestag von Wolfgang Herrndorf druckt die Zeit eine gekürzte Fassung der Eröffnungsrede von Oliver Maria Schmitt zur Ausstellung "Bilder" von Herrndorfs malerischem Werk im Berliner Literaturhaus.

Besprochen werden Stefan Koldehoffs Buch "Ich und van Gogh - Bilder, Sammler und ihre abenteuerlichen Geschichten" (taz) und die Ausstellung "Newton, Horvat, Brodziak" im Museum für Fotografie in Berlin (Tagesspiegel).
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Bühne

Die neue israelische Regierung will Kultureinrichtungen die Förderung streichen, wenn diese "den israelischen Staat schädigen", berichtet die Presse in einer Agenturmeldung. So habe Kulturministerin Miri Regev vom Likud "die Streichung der Finanzmittel für ein arabisch-jüdisches Kindertheater angekündigt. Bildungsminister Naftali Bennett, Chef der nationalreligiösen Partei Jüdisches Heim, entschied ebenfalls am Dienstag, das Theaterstück "Parallelzeit" des arabischen Theaters Almidan (Der Platz) aus Haifa von der Liste der Stücke zu streichen, deren Aufführungen in Schulen vom Bildungsministerium gefördert werden." Und das, obwohl eine Fachkommission des Ministeriums dem Stück Ausgeglichenheit bescheinigt hatte.

Besprochen wird Tom Kühnels und Jürgen Kuttners bei den Ruhrfestspielen aufgeführte Inszenierung von Heiner Müllers "Auftrag" (ein "sonderbares Playback-Konstrukt", meint Martin Krumbholz in der SZ).
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Musik

Tja. Ist das nun kulinarisch auf Gloss-Effekt hin ziselierte Musik für Autowerbung oder tatsächlich die glorreiche Rückkehr eines gealterten Disco-Pioniers? Die Rede ist von "Déjà Vu", Giorgio Moroders erstem Album seit 30 Jahren, und die besorgte Frage stellt sich ein ziemlich entgeisterter Mathias Modica in der SZ: Ist das also Kunst oder kann es weg? Sein Fazit nach viel Hin und Her: "Das Album ist eine Lehrstunde in Sachen Pop-Produktion. Und ganz objektiv betrachtet, ist es perfekt. ... Nur vielleicht nicht fantastisch. Fantastisch wäre das Album, wenn man es auch als Musikliebhaber lieben könnte. Dafür müsste man bloß die Hälfte der Songs löschen und bei den verbleibenden den gesamten Gesang, die Lead-Synthie-Stimmen und die Kratzbässe rausdrehen. Das Brillante und das Unmögliche liegen in der Popmusik sehr nahe beieinander."

Das Album "Skills in Pills" des Rammstein-Sängers Till Lindemann mit dem schwedischen Produzenten Peter Tägtgren sucht verzeifelt nach Tabus, die es brechen könnte, stellt Arno Frank in der Zeit fest und hofft, dass der Jugendschutz nicht darauf reinfällt und es womöglich auf den Index setzt: "Das Böse, das hier heraufbeschworen wird, bleibt die Behauptung zweier Bi-Ba-Butzemänner... Nehmen wir das Ganze lieber als sinn- und zweckfreie Riesenregressionssause, die das Schlagereske am Death Metal herauspräpariert. Peter Tägtgren als Helene Fischer im Kettenhemd, Till Lindemann als Unheilig mit posttraumatischer Belastungsstörung. Monumentaler Mumpitz eben."

Weiteres: In der Zeit porträtiert Mirko Weber die venezolanische Pianistin Gabriela Montero. Christoph Dieckmann (ZeitOnline) spricht mit Jackson Browne. Ansonsten trägt das gesamte Musikfeuilleton nach dem Tod von James Last Trauer: Die letzte Ehre erweisen Jan Feddersen (taz), Jens Balzer (Berliner Zeitung), Christian Bos (FR), Ulrich Stock (ZeitOnline) und Julia Bähr (FAZ). Eines seiner letzten Konzerte gab der Meister der "Happy Party Music" im April in Wien:

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