Efeu - Die Kulturrundschau

Tragische Suggestionsübertragung

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12.11.2015. In der Presse erklärt Achim Freyer: Don Giovanni ist kein Verführer, sondern die Freiheit. Im Standard baut Oliver Py für seinen "Fliegenden Holländer" den Schatten eines Schiffs. Im Tagesspiegel verkündet Peter Greenaway: Das wahre Kino ist noch gar nicht erfunden. Die Filmkritiker nehmen so lange gern mit Danny Boyles Steve-Jobs-Biopic vorlieb. Und Madonna kann Musikkritiker immer noch irritieren.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.11.2015 finden Sie hier

Bühne

In der Presse spricht der Bühnenbildner Achim Freyer über Kunst, Geister, die DDR und den Don Giovanni, den er gerade in Wien inszeniert. Und klärt dabei ein Missverständnis auf: "Giovanni ist eine positive Kraft in der Gesellschaft. Man könnte ihn als üppigen Kapitalisten mit Geld und Schloss sehen, aber das finde ich unheimlich langweilig. Giovanni ist eine Idee, er bringt das Leben, die Sonne und das Licht in die Welt. Damit kann die Gesellschaft, damit können wir nicht umgehen. Wir haben unsere Religion, unsere Reglementierung, gesellschaftlichen Zwänge, die Freiheit verhindern. Don Giovanni ist kein Verführer, er ist auch keine Figur, die sich auf der Straße entdecken lässt, er ist kein Klischee mit Leder-Jeans und rotem Hemd. Er ist anders als die anderen, sein Freiheitswille weckt die Wut der anderen."

Im Interview mit dem Standard erklärt Regisseur Olivier Py, warum das Schiff in seinem "Fliegenden Holländer" eine sehr unwirkliche Angelegenheit bleibt: "Ich sehe ein Theater, das vorgibt, ein Schiff zu sein - den Schatten eines Schiffs. Ein Theater kann alles sein. Es geht in meiner Regie um die Kunst. Senta ist eine Künstlerin, die nicht in der Welt leben kann, wie sie ist, in dieser langweiligen, engstirnigen Kleinstadt."

Die Regisseurin Andrea Breth wurde am Dienstag mit dem Schillerpreis ausgezeichnet, Gerhard Stadelmaier hielt die Laudatio. Hubert Spiegel berichtet für die FAZ über die Veranstaltung und hält selbst eine kleine, verspätete Laudatio auf den vor kurzem fast unbemerkt in den Ruhestand gegangenen Theaterkritiker der FAZ: "Unterwerfung ist ihm fremd. Er dient seinen Göttern, indem er ihre Taten deutend vergegenwärtigt. Dann kann er sein, was er am liebsten immer wäre: ein Liebender. Er bekämpft seine Feinde, indem er ihre Taten deutend vergegenwärtigt. Dann kann er sein, wofür ihn viele fürchten: ein Vernichtender, der seine Pointen mit dem Fallbeil aufs Papier ziseliert. Mildernde Umstände lässt er in der Kunst nicht gelten. Er richtet, aber nicht, um zu retten."

Weitere Artikel: In der NZZ stellt Barbara Villiger Heilig die Gastspielreihe "Civil Twilight" am Schauspielhaus Zürich vor. Mounia Meiborg porträtiert in der SZ den am Berliner Maxim Gorki engagierten Schauspieler Dimitrij Schaad. Außerdem dokumentiert die FAZ Norbert Lammers Schillerrede, der mit Schillers Werken dazu aufruft, die Demokratie vor den neuen Rechtsaußen-Flegeln zu schützen.
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Literatur

Joseph Wälzholz zeichnet in der taz die rhetorischen Purzelbäume des Philologen Klaus Kastberger nach, mit denen sich dieser aus seiner mittlerweile widerlegten Behauptung, Daniel Kehlmann habe "Wikipedia abgeschrieben", winden will: "Natürlich hat Kastberger aber nach wie vor die Chance, in den Kreis der zivilisierten Menschen zurückzukehren: Er bräuchte sich dazu nur bei Daniel Kehlmann öffentlich zu entschuldigen."

Weiteres: Für die FR plaudert Sebastian Borger mit dem Schriftsteller John Niven. Besprochen werden neben vielen Büchern von Roland Barthes, der heute 100 Jahre alt geworden wäre (FAZ), auch Tiphaine Samoyaults Biografie über den französischen Semiotiker (SZ) und ein Band über städtebauliche Theorien und Entwurfsansätze von Frauen (NZZ).

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Kunst


Bild: Paris Photo

Im Pariser Grand Palais beginnt heute die Paris Photo, die größte Fotomesse der Welt, berichtet Time: "Some 147 galleries from 34 countries will congregate in the French capital's Grand Palais where they will showcase everything from vintage prints to contemporary works across multiple genres within photography. There is much to look forward to inside the fair itself, but don't forget to venture onto the streets of Paris to check out what else the photo world has in store this week." Gemma Padley gibt im Artikel zahlreiche Tipps.

Weitere Artikel: Nachdem Pjotr Pawlenski eine Holztür des russischen Geheimdiensts abgefackelt hat, sieht der russische Aktionskünstler nun drei Jahren Haft entgegen, berichtet Stefan Scholl in der FR. Im Freitag feiert Ingo Arend das 25-jährige Bestehen der Texte zur Kunst: Die Zeitschrift sei "ein markantes Beispiel für den Versuch eines Teils der linken Intelligenz, sich nach dem Epochenbruch 1989 neu zu orientieren".

Besprochen werden die Ausstellung "Der Botticelli-Coup" im Kupferstichkabinett in Berlin (Berliner Zeitung), eine Arbeit von Heimo Zobernig zur Wahrnehmung von Architektur im Kunsthaus Bregenz (Standard) und die Ausstellung "Auf der Suche nach 0,10" in der Fondation Beyeler in Riehen (NZZ).
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Film

Sehr angetan ist die Filmkritik von "Steve Jobs", in dem Michael Fassbender nach einem Drehbuch von Dialogmeister Aaron Sorkin und unter der Regie von Danny Boyle den längst heilig gesprochenen Apple-Guru spielt. Sorkin ist hier ganz in seinem Element, meint Frédéric Jaeger in der Berliner Zeitung: "Seine Dialoge kehren das Innere nach außen; sie haben etwas zu beweisen und zudem eine literarische Kraft; sie lassen das Denken und das Fühlen miteinander in den Ring steigen." Der Film ist "mustergültig (...) in der Vermittlung einer hochgradig ambivalenten Biografie", lobt Andreas Busche in der taz, dem sich die Frage stellt, "was die Persönlichkeitsstruktur von Internetpionieren" über uns erzählt.

Der Film beweist seinen Historismus "nicht durch von Retroartikeln vollgemüllte Szenenbilder", beobachtet Matthias Dell im Freitag, "sondern zuallererst durchs Material: Das Kapitel 1984 ist auf körnigem 16-mm-Film gedreht, 1988 auf 35 mm, und wenn der Film ins Jahr 1998 springt, reißt ein Zelluloidstreifen und es ruckelt sich im Digitalbild die Golden Gate Bridge zurecht." Im Tagesspiegel spricht Jan Schulz-Ojala schlich von einem "Wunder": So werde "sichtbar, wie einer, der nahezu als Gott verehrt wird, sich selber für Gott hält, in einer tragischen Suggestionsübertragung in beide Richtungen. Zugleich geschieht die mühselige Vermenschlichung in Schüben." In der FAZ bespricht Verena Lueken den Film. Und Alexander Menden unterhält sich für die SZ mit dem Drehbuchautor.



Neu im Kino ist auch Peter Greenaways Film "Eisenstein in Guanajuato" (hier unsere Kritik). Dass der Regisseur um provokante Thesen zur Kunst nie verlegen ist, stellt er im Tagesspiegel-Gespräch mit Christiane Peitz unter Beweis. So geißelt er mal wieder fröhlich die Lust des Kinos am literarischen Erzählen: "Das Kino der Zukunft müsste dem Zuschauer die Kontrolle über die Zeitspanne ermöglichen, in der er die Bilder betrachtet, genau wie bei einem Gemälde. Sie sollen so viel Kontrolle haben wie ich. Das wahre Kino ist noch gar nicht erfunden. Es müsste sich an alle sieben Sinne richten, jetzt richtet es sich gerade mal an zwei." Weitere Besprechungen zum Film bringen der Tagesspiegel und die taz.

Weiteres: Christian Aust unterhält sich für die Stuttgarter Zeitung mit Woody Allen über dessen neuen (in der Berliner Zeitung, der NZZ und im Standard besprochenen) Film "Irrational Man". Dem Berliner Publikum empfiehlt Fabian Tietke in der taz eine Filmreihe über das New Black Cinema im Kino Arsenal. Im Freitag resümiert Matthias Dell das Dokumentarfilmfestival in Leipzig.

Besprochen werden der Schweizer Episodenfilm "Heimatland" (NZZ), außerdem eine DVD-Edition von Alain Resnais' "Nacht und Nebel" (taz), Miguel Gomes' Trilogie "Arabian Nights" (NZZ) und David Bernets Dokumentarfilm "Democracy - im Rausch der Daten" (FAZ).

Und im Angelika Film Center in New York schaut Shia LaBeouf noch immer alle seine Filme am Stück. Wenn Sie nicht vor Ort sind - der Eintritt ist frei! - können Sie ihm dabei hier zusehen. Manchmal schläft er oder bohrt in der Nase.


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Musik

Madonna in der Stadt - Pflichttermin für die Berliner Popkritik. Bei der Show gabs viel Getöse und Bühnenaufwand, richtig gut wurde es aber immer dann, wenn Madonna zur Ukulele griff, berichtet Martin Hossbach in der Berliner Zeitung, der die Lady ziemlich irritierend fand: "Richtig merkwürdig wird es dann nochmal, als Madonna in das große Rund hinein fragt, ob jemand sie heiraten möge. Es melden sich einige Tausend Menschen. Madonna konzentriert sich auf einen jungen, groß gewachsenen, wirklich sehr hübschen Mann. Sie lobt seine Körpergröße und seine langen Arme. Und herrscht ihn an: Ob er Bescheid wisse, auf was er sich einließe? Sie hätte schließlich schon zwei Ehen hinter sich, sie sei eine Ehe-Veteranin, aber an die Liebe glaube sie noch immer, sonst würde sie das alles hier ja nicht machen."

Außerdem vom Konzert berichten Nadine Lange im Tagespiegel, Jenni Zylka in der taz und Julia Friese in der Welt.

Weitere Artikel: Für Skug spricht Hardy Funk mit Schorsch Kamerun von den Goldenen Zitronen. Brittany Howard, Sängerin der Alabama Shakes, unterhält sich mit der NZZ über Vorbilder, musikalische Stile und Live Konzerte. Auch Ulrich Olshausen von der FAZ zeigt sich sehr begeistert vom ersten Jahrgang des Jazzfests Berlin unter Richard Williams: Das "Programm vermittelte Offenheit nach vielen Seiten, Stars im besten Alter, Jugend mit neuen, auch skurrilen Ideen, große Internationalität, Aufspüren von im Verborgenen blühenden Talenten" (mehr dazu hier). Stefan Hentz gratuliert in der NZZ Neil Young zum Siebzigsten. Detlef Diederichsen (taz) und Mike Powell (Pitchfork) schreiben zum Tod von Allen Toussaint.

Besprochen werden das neue Album "Es ist die Wahrheit, obwohl es nie passierte" von A Tribe Called Knarf (Freitag), eine Kollaborationsalbum von Hans Joachim Roedelius und Leon Muraglia (The Quietus), ein Auftrtt der Sängerin Paula Murrihy in Frankfurt (FR), ein Schubert/Chopin-Konzert von Grigory Sokolov (FR), ein Konzert von The Prodigy und Public Enemy (FR) und ein Konzert von Rihm-Kompositionen bei den Tagen für Neue Musik in Weingarten (FAZ).
Archiv: Musik