Efeu - Die Kulturrundschau

Phänomen und Phantom

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12.01.2016. David Bowie dominiert die Feuilletons. Sein Lied "Lazarus" wirkt wie ein bewusster Abschied - wir binden es ein. Domus beschreibt die Luxus-Ghettoisierung in Beirut trotz - oder gerade wegen - der 1.2 Millionen syrischen Flüchtlinge. Die NZZ besucht die neue Smart City bei Wien. Das russische Publikum liebt den Sozialistischen Realismus in der Kunst, notiert erstaunt der Standard.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.01.2016 finden Sie hier

Musik

David Bowie ist tot - eine Katastrophe für die Popmusik. Am vergangenen Freitag hatte Bowie das Musikvideo zu "Lazarus", der zweiten Auskopplung seines aktuellen Albums "Blackstar", veröffentlicht, das nicht nur wegen des Titels, sondern auch wegen der ersten Textzeilen ("Look up here, I'm in heaven") wie eine Ankündigung klingt:



Das an seinem 69. Geburtstag veröffentlichte 25. Studioalbum "Blackstar", das damit sein Vermächtnis darstellt, wird wegen seiner düsteren Atmosphäre von den Kritikern als Ankündigung seines bevorstehenden Todes gelesen: 18 Monate vor seinem Tod erhielt der Künstler seine Krebsdiagnose. In den Feuilletons herrscht größte Trauer. In der FAZ würdigt Dietmar Dath unter anderem Bowies "wunderschöne Stimme ... trocken, aber weich, großzügig, aber eigen, oft nah am Sprechgesang und gerade dann von ahnungsvoll liebebedürftigem Melos getränkt, ein lebendiger, feiner Sand, der durch die engsten Stellen der Lieder rieselt als Abgesang auf dem Menschen unerreichbare Dauer und Lob einer Vergänglichkeit, die man immer wieder genießen, von der man sich immer wieder verabschieden will, mit ihm, für uns: 'I've had my share / So I'll help you with the pain / You're not alone.' (Bild: David Bowie, 1973)

In der Berliner Zeitung identifiziert Markus Schneider das Vermächtnis Bowies: "vom Gefühl der Fremdheit und der Unsicherheit im Sozialen, der Erotik und der Musik nicht nur zu schmachten, sondern sie sexy und geheimnisvoll zu inszenieren." Bowie war "ein Surrealist, ein Phänomen und Phantom der Popmusik, eine Erscheinung, ein Grenzgänger zwischen den Welten", schreibt Christiane Peitz im Tagesspiegel. Für Jan Kedves von der SZ, der gar nicht fassen kann, wie minutiös und stimmig Bowie selbst noch sein Image zu seinen absehbaren Abschied gestaltete, war er "einer der großen Style-Weisen dieser Zeit". Bowie war "bis zuletzt Herr seiner eigenen Inszenierung", bestätigt da Christian Bos in der FR. Carmen Böker würdigt in der Berliner Zeitung die Wandlungsfähigkeit des verstorbenen Künstlers (siehe dazu auch Helen Greens schönes GIF, das in den sozialen Medien gestreut wird). Variety erinnert an den Schaupieler David Bowie. Die Redakteure von Berliner Zeitung (hier) und Tagesspiegel (hier) bringen außerdem Notizen darüber, was ihnen Bowie bedeutet. Fantasyautor Neil Gaiman hat seine als Hommage an Bowie konzipierte Kurzgeschichte "The Return of the Thin White Duke" online gestellt. Die Titanic malt sich aus, wie Lemmy Kilmisters und David Bowies Aufeinandertreffen im Himmel aussehen könnte. In der NZZ schreibt Markus Ganz den Nachruf und Marion Löhndorf resümiert die Reaktionen in Großbritannien: "Bowies Tod wurde in England zum großen emotionalen Kollektiv-Erlebnis. Auf den Websites der Medien und in den sozialen Netzwerken ging es zu wie auf einer Beisetzung - in der virtuellen Welt."

Weiteres: In der taz erinnert Frank Schäfer an die Trips-Festivals in den 60ern. Besprochen werden Julia Fischers und Igor Levits in Zürich gespielter Zyklus von Beethovens Sonaten ("eruptiv bis an die Grenzen der Intensität", jubelt Harald Eggebrecht in der SZ, NZZ) und ein Konzert der Staatskapelle Berlin (Tagesspiegel).
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Kunst


Bild aus der Ausstellung "Russland. Realismus. XXI. Jahrhundert" im Russischen Museum in Petersburg

Herwig G. Höller hat für den Standard in Moskau mehrere Ausstellungen besucht, die völlig unkritisch Werke des Sozialistischen Realismus ausstellen. Dem Publikum gefiel's jedoch: "Bei freiem Eintritt kamen fast 200.000 Besucher innerhalb eines Monats. Dass es in Russland eine Sehnsucht auch nach Kunst der Stalin-Zeit gibt, illustriert noch eine Schau zeitgenössischer russischer Malerei in St. Petersburg: Während Kunstkritiker bei Russland. Realismus. im Russischen Museum eine fragwürdige Anbiederung an die politische Konjunktur betonten und eine schlechte Qualität der Gemälde beklagten, vermitteln die Eintragungen im Gästebuch einen anderen Eindruck: Realismus wird von vielen Besuchen gutgeheißen, kritisiert wird an der Schau jedoch ein Mangel an lebensbejahenden Sujets, durch die sich etwa der Sozialistische Realismus auszeichnen würde."

Weitere Artikel: Für die taz porträtiert Petra Schellen das Ehepaar Schmidt, das sich mit seiner Hamburger Roots Galery auf Kunst von Aborigines spezialisiert hat.

Besprochen werden eine Retrospektive des Malers Franz Ludwig Catel in der Hamburger Kunsthalle (NZZ) und die Ausstellung "Picasso. Registros Alemanes" im Museo Picasso in Málaga (FAZ).
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Film

Im Tagesspiegel empfiehlt Gregor Dotzauer die Hou-Hisao-Hsien-Retrospektive im Berliner Zeughauskino. Für die Berliner Zeitung unterhalten sich Petra Ahne und Anja Reich mit der Schauspielerin Nora von Waldstätten. Jürgen Schmieder resümiert in der SZ die Golden-Globes-Verleihung.

Besprochen werden Adam McKays Wirtschaftskrisenkomödie "The Big Short" (taz) und die dritten Staffeln der Serien "Rectify" und "Orphan Black" (Freitag).
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Bühne

Besprochen werden Peter Konwitschnys Mannheimer Inszenierung von Fromental Halévys Oper "Die Jüdin" (FR) und David Böschs Inszenierung von Franz Xaver Kroetz' "Mensch Meier" am Münchner Residenztheater (nachtkritik, SZ).
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Literatur

Im Standard abgedruckt ist Gerhard Melzers Laudatio auf Marlene Streeruwitz zur Verleihung des Franz-Nabl-Preises.

Besprochen werden Peter Handkes "Tage und Werke" (NZZ),  William Trevors "Ein Traum von Schmetterlingen" (SZ),Witold Gombrowiczs "Kronos: Intimes Tagebuch" (Jungle World), Frans Eemil Sillanpääs Erzählung "Hiltu und Ragnar" (FR) und Max Brods  Biografie über Heinrich Heine (FAZ).

Mehr aus dem literarischen Leben im Netz in unserem Metablog Lit21.
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Architektur


Flint House (Waddesdon, Buckinghamshire, Completed 2015) von Skene Catling de la Peña. Foto: James Morris für SCDLP

Was für ein Haus! Skene Catling de la Peña hat es aus Silex und Kreidestein gebaut, im englischen Buckinghamshire. Domus stellt es kurz vor: "The site is a remote island, a strange, still, anomaly of wilderness within highly cultivated agricultural fields. The Flint House and Annex form two stepped, linear monoliths that appear pulled from the landscape as geological extrusions of infinite age, with the rough texture and rawness of their surroundings. The buildings are both viewing platforms and condensing lenses for the surrounding panorama."

Ebenfalls in Domus beschreibt der Architekturprofessor Stefano Corbo, welche Folgen die Flucht von 1.2 Millionen syrischen Flüchtlingen seit 2011 in den Libanon hat. Eins der größten Probleme ist die Unterbringung so vieler Menschen in günstigen Wohnungen. Gleichzeitig verstärkt sich jedoch ein Trend, den man nur als Luxus-Ghettoisierung immer größerer Teile Beiruts und eines Teils der Küste beschreiben kann: "A recent example is the port of Daliyeh and its famous rocks, an area used for decades for picnics and family trips, a refuge for fishermen and the working class. It is now fenced off and closed to the public, and is about to be transformed into a luxury resort designed by OMA/Rem Koolhaas. In the same way, almost 200 kilometres of coast and 2,500,000 square metres of land have been gradually privatised, the result of the construction of resorts of hotel buildings linked directly or indirectly to local political figures."

Außerdem: Die Architekturhistorikerin Patricia Grzonka begutachtet für die NZZ die neue Smart City in Aspern bei Wien. Dezeen stellt den von Gensler Architekten fertig gestellten Shanghai Tower vor, das höchste Gebäude in China und zweithöchste auf der Welt.
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