Efeu - Die Kulturrundschau

Formvollendet anmutig

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.02.2017. Die taz erkundet mit dem Architekten Winy Maas die demokratischen Stadträume über den Dächern von Rotterdam. In der Welt wendet sich Philip Oswalt mit Grausen von der Kirche ab, die im Schulterschuss mit Militär und Staat den Wiederaufbau der Potsdamer Garnisonskirche betreibt. Die NZZ erlebt mit Alvis Hermanis' "Madame de Sade" in Zürich einen herrlich dekadenten Theaterporno. Der Standard wiegt sich in der melancholischen Poesie des Theaterphilosophen Erwin Piplits. Und in der taz erlebt Diedrich Diederichsen in einer Vinyl-Retrospektive zu Yoko Ono die künstlerische Politik der Liebe.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.02.2017 finden Sie hier

Architektur


Für die Rotterdamer Dächertage errichteten MVRDV eine provisorische Treppe zum Großhandelsgebäude. Foto: MVRDV

Klaus Englert porträtiert in der taz den niederländischen Architekten Winy Maas, der mit seinem Büro MVRDV an der vertikalen Stadt und einem demokratischen Stadtraum arbeiten, vor allem in Rotterdam: "Maas, der mit seinem Team ein Jahr zuvor die Markthall als vibrierendes neues Stadtzentrum schuf, errichtete am sensiblen Punkt des neuen Bahnhofsplatzes eine überdimensionale Treppenkonstruktion, die hinauf zur großartigen Dachlandschaft des Groot Handelsgebouw führt. 380.000 Menschen nutzten einen Monat lang die Möglichkeit, ihre Stadt aus der Vogelperspektive wahrzunehmen... Tatsächlich möchte Maas, wie auch seine Rotterdamer Kollegen von ZUS Architects, eine weitere Stadtebene erschließen, um Fußgängerzonen und Promenaden zu erweitern."

Aus Protest gegen den Wiederaufbau der Garnisonkirche in Potsdam ist der Architekt und ehemalige Direktor der Stiftung Bauhaus Dessau, Philipp Oswalt, aus der Evangelischen Kirche ausgetreten, Im Welt-Interview betont er, kein grundsätzlicher Gegner von Rekonstruktion zu sein, aber beim neuen Schulterschluss zwischen Kirche, Staat und Militär macht er nicht mit: "Die evangelische Kirche betreibt bei ihrer Kampagne für den Wiederaufbau Geschichtsfälschung. Schlichtweg unwahr ist, dass die Garnisonkirche ein Ort des Widerstands gegen den Nationalsozialismus war und ihr Abriss von Walter Ulbricht angeordnet wurde. Auch war der 'Tag von Potsdam' kein singuläres Ereignis. Schon in der gesamten Weimarer Zeit war die Garnisonkirche Treffpunkt antidemokratischer und rechtsradikaler Kreise. Auch die Zeit vor 1919 ist problematisch, weil hier die preußischen Kriegszüge kirchlich abgesegnet wurden."
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Literatur

In der Literarischen Welt schreibt die deutsche, aus einer iranischen Familie stammende Schriftstellerin Shida Bazyar nach den Eindrücken des Trump'schen Einreiseverbots für Bürger unter anderem des Irans über die exiliranische Erfahrung, die sie als Entmündigung wahrnimmt: "Der Deal aus 'Ich handle, und du reagierst' und aus 'Ich handle und ziehe Konsequenzen' gilt nicht mehr. Für mich gilt er nicht mehr, denn ich werde nicht nur nicht mehr in den Iran (und Israel) reisen können, sondern, schwuppdiwupp auch darauf verzichten müssen, Unsummen für eine Nacht im 'Chelsea'-Hotel auszugeben. In dieser Welt sind 28-jährige Frauen plötzlich eine Gefahr, die man prüfen muss, um der Sicherheit willen. Absurd, zu erwähnen, dass ich hierbei als Muslimin gelesen werde und dass es doch ausgerechnet fanatische Muslime waren, die meine Eltern einst dazu brachten, den Iran verlassen zu müssen."

Im Wochenend-Essay der FAZ befasst sich der Lyriker Kurt Drawert mit dem Stottern: "Etwas bleibt aus, kann nicht erreicht werden, verschiebt sich. Dieses Loch im Gewebe des Textes ist zwar immer vorhanden, aber erst das Phänomen der beschädigten Stimme macht es uns klar, dass jede geschlossene Rede die reine Illusion und jedes fließende Sprechen deren grandiose Inszenierung ist."

Weiteres: Für die Welt sieht sich Tilman Krause im französischen Literaturbetrieb um, der bereits mitten in den Vorbereitungen zum Gastauftritt bei der Frankfurter Buchmesse steckt.

Besprochen werden Will Selfs "Shark" (taz), Elena Ferrantes "Geschichte eines neuen Namens" (Zeit), Paul Austers "4321" (FAZ), Gisela von Wysockis "Wiesengrund" (Jungle World), Michaela Karls Biografie über Unity Mitford (Tagesspiegel), neue Hörbücher von H.G. Wells' klassischen Science-Fiction-Romanen (online nachgereicht von der FAZ), Sara Gallardos "Eisejuaz" (FR), Fatma Aydemirs "Ellbogen" (SZ) und James Leslie Mitchells "Szenen aus Schottland" (FAZ).
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Musik



Kenntnisreich und sehr begeistert führt taz-Kritiker Diedrich Diederichsen durch das musikalisch-krachige Schaffen von Yoko Ono, das derzeit in einer großen Vinyl-Retrospektive zum Teil erstmals wieder aufgelegt wird. Diese in den 60ern und 70ern entstandenen Alben sind ihm "ein weiterer Beleg für die Nähe zwischen Popmusik und Konzeptueller Kunst (im weiteren Sinne), den man bislang immer nur an der Entstehungsgeschichte von Velvet Underground studieren wollte, zwischen Maxima des Expressiven und dessen totaler Durchstreichung durch Versuchsanordnungen und Anweisungen. Man kann der künstlerischen Politik der Liebe hier ein Kompliment machen, dass sie Ansätze und Denkmöglichkeiten öffentlich und beobachtbar miteinander verknotet hat, die die gesellschaftlichen Institutionen wie die High/Low-Unterscheidung gern noch eine Weile getrennt gehalten hätten."

Weiteres: Jens Uthoff und Julian Weber berichten in der taz von ihren Erlebnissen bei der Club Transmediale. In der Berliner Zeitung tut Jens Balzer es ihnen gleich. Michael Stallknecht porträtiert in der SZ den Sänger Benjamin Appl. Für die taz plaudert Gunnar Leue ausgiebig mit "Maschine" von den Puhdys. Dazu passend schreibt Birgit Walter in der Berliner Zeitung über das DDR-Plattenlabel Amiga. Die Zeit hat Volker Hagedorns Bericht von seinem Besuch bei der Cembalistin Zuzana Růžičková online nachgereicht. Für den Tagesspiegel war Carsten Niemann beim Auftakt des Berliner Fests der Chorkulturen. Die Neue Musik ist auch nicht mehr die allerjüngste, fällt FAZ-Kritiker beim Besuch des Festlichen Tagen Alter Musik in Wien auf.
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Film

Für die NZZ orientiert sich Daniela Segenreich in der ultrareligiösen Filmszene Israels, in der Frauen streng sittliche Filme mit Frauen für Frauen drehen. Im Tagesspiegel empfiehlt Kirsten Taylor Filme aus der Berlinale-Sektion "Generation". Gunda Bartels hat sich Filme aus der "Perspektive Deutsches Kino" angesehen.

Besprochen werden der Copthriller "Volt" mit Benno Fürmann (Tagesspiegel, SZ) sowie die Netflix-Serien "Santa Clarita Diet" (FAZ), "Frontier" (Welt) und "Lemony Snickett" (NZZ).
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Stichwörter: Israel, Deutsches Kino, Netflix

Kunst

In der NZZ beobachtet Susanna Koeberle, wie sich das Engadin zum Hotspot des Kunsthandels entwickelt. Als vorbildlich lobt Andreas Rossmann in der FAZ, dass das Leopold-Hoesch-Museum in Düren seine gesamte Sammlung auf ihre Provenienz hin untersuchen will. Hans-Jörg Rother erkundet für den Tagesspiegel Mario Marinos Fotoporträts "Die Vergessenen" in der Galerie von Kories.
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Bühne


Damendebatte in Alvis Hermanis' "Madame de Sade": Foto: Schauspielhaus Zürich

Eigentlich gar nicht von der Inszenierung überzeugt, berichtet Daniele Muscionico in der NZZ doch sehr vergnügt von Alvis Hermanis' "Madame de Sade" im Schauspielhaus Zürich, die Yukio Mishimas Roman aus dem Jahr 1965 in verschiedene, doch allesamt manieristische Theaterstile zerhackt: "Der Beginn ist groß und berückend. Ausstattungstheater, dass sich die Bretter biegen, und die Näherinnen in Schneiderei und Kostümateliers müssen sich die Finger blutig genadelt haben. Kein Wunsch bleibt offen! Die überdimensionierten Damenroben von Juozas Statkevicius zelebrieren Dekadenz, und Hermanis' Salonbühne zeigt die himmelhohe innere Leere des Pariser Adels. Den Sex-Appeal dieses Gegensatzes verstärkt die Ausgangslage: Keine der Anwesenden weiß, wo de Sade im Augenblick steckt, in welchem Gefängnis, in welcher Frau. Das macht die kitzlige Damendebatte besonders erotisch."


Das Rauschen der Flügel. Foto: Max Kaufmann / Odeon Theater.

Ganz hingerissen ist Andrea Schurian im Standard vom Auftakt der Trilogie "Fidèles d'amour" des Theaterphilosophen Erwin Piplits im Wiener Odeon: Um Aufklärung geht es, um Erkenntnis, das Geheimnis des Kosmos, um Spiritualität, universelle Liebe. Und um Herzensbildung. Der Titel bezieht sich auf die aus reinem Licht bestehenden Flügel des Engels Gabriel. Deren Rauschen erzählt von nichts Geringerem als der Schöpfung. Nein, Piplits scheut sich nicht vor monumentalen Gesten, großen Gefühlen und ebensolchen Worten. Das zeigt auch diese formvollendet anmutige, von weiser Melancholie gefärbte und in jeder Hinsicht bewegte und bewegende Aufführung wieder."

Frech und böse findet Manuel Brug in der Welt Avner Dormans Opernsatire "Wahnfried" am Badischen Staatstheater in Karlsruhe: "Große Wagner-Oper eben, satirisch intelligent kleingemacht." Besprochen werden zudem Daniel Kehlmanns Überwachungsstück "Heilig Abend" am Theater in der Josefstadt in Wien (FAZ), Barbara Freys "Europäisches Abendmahl" am Wiener Burgtheater (Welt). 
Archiv: Bühne