Efeu - Die Kulturrundschau

Unsere Rassismen, unsere Ängste

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.06.2017. In der taz pocht Regisseur Roger Vontobel auf sein Recht, eine rassistische Realität zu zeigen und zu reflektieren. In der FAZ beklagt der Literaturwissenschaftler Kai Kauffmann die Ausnüchterung des Literaturbegriffs in der Germanistik. Die Welt ahnt, warum Thomas Hengelbrock seinen Posten als Chefdirigent der Elbphilharmonie räumt. ZeitOnline beoabchtet Katy Perry im 72-Stunden-Livestream. Und der Standard hält in Münster einfach mal die Füße ins Wasser.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.06.2017 finden Sie hier

Bühne


Werner Wölbern und Max Mayer in Roger Vontobels Koltès-Inszenierung "Kampf des Negers und der Hunde" am Schauspielhaus Bochum

Beim Theatertreffen im Mai hatten die Berliner Festspiele darauf bestanden, in der Inszenierung "89/90" das abwertende Wort Neger durch einen Beep zu ersetzten (nicht aber Fidschi oder Ostfotze). In der taz fragt Barbara Behrendt den Regisseur Roger Vontobel, warum er jetzt ausgerechnet Bernard-Marie Koltès' Stück "Kampf des Negers und der Hunde" am Schauspielhaus Bochum inszenieren möchte (die Nachtkritik setzte im Titel Sternchen): "Wir tun viel, um im Alltag zivilisiert miteinander umzugehen - aber drunter liegt noch etwas anderes. Das darf sich auf der Bühne zeigen. Was sind unsere Rassismen, unsere Ängste? Sind wir wirklich so weit entfernt von diesen Figuren? Sie sind ein Spiegel für uns, ein Spiegel des Bösen in uns.... Theater ist unabdingbar für eine Demokratie, für eine vermeintlich aufgeklärte Gesellschaft. Es ist das Abgleichen mit unseren Vorfahren, mit dem Heute. Umso mehr brauche ich den Begriff 'Neger' und die Freiheit, ihn auf dem Theater so zu benutzen, dass er möglicherweise verletzend ist. Denn er IST natürlich verletzend - diese Realität muss ich abbilden dürfen."


Monteverdis "L'Incoronazione di Poppea" am Teatro Fenice in Venedig

Als Triumph bejubelt Dirk Schümer in der Welt John Eliot Gardiners Coup, alle drei Monteverdi-Opern en suite in Venedig aufzuführen: "Weil hier nichts vom Klang ablenkt, wird die Wucht von Monteverdis Innovation erst so richtig klar. Kein Komponist hat jemals der Musik solch einen Schub gegeben, hat derart Bahnbrechendes erfunden. Denn dass Bühnenfiguren nicht reden, sondern singen - diesen surrealen Kniff machte unter den Pionieren der Oper erst Monteverdi glaubwürdig, indem er das Deklamieren von Schauspielern in Töne fasste, auf die strikten Regeln des Kontrapunkts und die Musiktheorie pfiff und das Orchester die Stimmung mal begleiten, mal kontrastieren ließ."

Weiteres: Am Berliner Grips Theater läuft wieder "Eine linke Geschichte", freut sich Patrick Wildermann im Tagesspiegel und gratuliert dem Gründervater des linken Jugendtheaters, Volker Ludwig, zum Achtzigsten. Sylvia Staude berichtet in der FR vom Internationalen Wettbewerb für Choreographie in Hannover. Großes Theaterglück erlebt FAZ-Kritiker Simon Strauss mit Peter Brooks Inszenierung "Battlefield" bei den Wiener Festspielen, die noch einmal eine Passage der Mahabharata aufgreift.

Besprochen werden Marco Arturo Marellis Inszenierung von Debussys Oper "Pelléas et Mélisande" an der Wiener Staatsoper (die der Standard ausgesprochen elegant findet, und exquisit besetzt, meint die Presse), Tobias Kratzers Inszenierung von Rameaus Oper "Zoroastre" an der Komischen Oper ("fade Heckenspießigkeit" sieht hier der Tagesspiegel, "kleiner als nachbarschaftsklein", findet die FAZ), Franz Lehárs Operette "Das Land des Lächelns" am Opernhaus Zürich (NZZ) und Mudar Al Haggis' Stück über den Bürgerkriegsalltag in Damaskus "Your Love is Fire" (SZ).
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Film

Die FAZ bringt ihren nunmehr dritten Artikel ihrer Kampagne gegen die von der EU geplante Lockerung in Sachen Geoblocking und Territorialprinzip: Dazu wiederholt Jörg Seewald noch einmal die bereits zweimal vorgebrachten Positionen, hat aber immerhin neue O-Töne von Produzenten eingeholt, die Sturm gegen die EU laufen. Die in der arabisch-Neuköllner Mafia angesiedelte Serie "4 Blocks" sei "erstaunlich detailgetreu", schreibt Christian Stahl auf ZeitOnline, der selbst für ein Buch über Gangs in Neukölln recherchierte. Besprochen wird außerdem Fernando Muracas Mafiathriller "Das Land der Heiligen" (ZeitOnline).
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Literatur

Stimmt, die Germanistikdebatte gab es ja auch noch. Einen späten Nachtrag dazu schreibt der Literaturwissenschaftler Kai Kauffmann in der FAZ. Für ihn kam die Sprache bislang zu wenig auf die Deutschlehrer. Im Zuge der Noteninflation an den Unis kommen ihm viel zu viele laut Examen zwar sehr gute, realiter aber recht lau ausgebildete, von den Unis ohnehin stiefmütterlich behandelte Deutschlehrer auf den Berufsmarkt, die aus dem Studium zudem noch einen viel zu pragmatischen Literaturbegriff mitnehmen. "An dieser Entwicklung sind die an den Universitäten lehrenden Literaturwissenschaftler nicht ganz unschuldig. Die Ausnüchterung des Literaturbegriffs, zunächst als Gegenreaktion auf eine weltanschaulich überfrachtete Auffassung hoher Dichtung berechtigt, hat seit den siebziger Jahren die ästhetischen Werke immer weiter zu diskursiv auswertbaren Texten degradiert."

Weiteres: Im Standard schreibt Wolf Scheller über James Baldwin, dem Raoul Peck seinen jetzt in Österreich startenden, hier besprochenen Essayfilm "I Am Not Your Negro" gewidmet hat. Im Deutschlandfunk Kultur spricht Daniel Kehlmann über George Orwells "1984", zu dessen Neuausgabe er ein Nachwort verfasst hat. Schayan Riaz berichtet in der Berliner Zeitung vom 18. Berliner Poesiefestival. Die NZZ bringt eine Erzählung von Monique Schwitter. In der FAZ-Reihe über Figuren bei Jane Austen schreibt Patrick Bahners über Mrs Norris.

Besprochen werden Volker Sielaffs "Überall Welt" (Tagesspiegel), Ludwik Herings Erzählband "Spuren" (NZZ), Viktor Remizovs "Asche und Staub" (FR), Tomas Espedals "Biografie, Tagebuch, Briefe" (SZ) und Chris Kraus' "Das kalte Blut" (FAZ).
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Musik

Thomas Hengelbrock, Chefdirigent des NDR-Elbphilharmonie-Orchesters, will seinen Vertrag am Haus nicht verlängern. Das wirft Fragen auf, meint Manuel Brug in der Welt: "Warum hat Hengelbrock dann gegenüber dieser Zeitung vor eben einigen Monaten ostentativ von seiner guten Zusammenarbeit mit dem Orchester und dem Chor geschwärmt, hat er die Partnerschaft in rosaroten Farben gemalt, übersprudelnd vor Zukunftsplänen? Irgendwas muss da seither passiert sein." Brugs Verdacht: Die jetzt eröffnete Elbphilharmonie "offenbart (...) im Vergleich mit den gegenwärtig sich die Klinke in die Hand gebenden Tourorchestern de luxe das Qualitätsgefälle der örtlichen Ensembles. Was besonders der überambitionierte Hengelbrock zu spüren bekam."

Popstar Katy Perry ließ sich zur Promotion ihres neues Albums 72 Stunden lang im Livestream beobachten - was Annekathrin Kohout auf ZeitOnline sehr enttäuschend fand: "Eine kritische Perspektive auf Überwachung schien mit diesem Livestream nicht intendiert gewesen zu sein. Auch seinen Anspruch als Kunstprojekt löste 'Be my Witness' weder formal noch inhaltlich ein, sondern blieb in vielerlei Hinsicht der Logik des Fernsehens verhaftet."

Weiteres: In der SZ spricht Jonathan Fischer mit dem deutschen Jazzpianisten Joachim Kühn, dem amerikanischen Bluesgitarristen Corey Harris und dem Ngoni-Laute-Spieler Bassekou Kouyaté aus Mali, die bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen gemeinsam improvisiert haben.

Besprochen werden Halseys neues Album "Hopeless Fountain Kingdom" (taz), der Zürcher Auftritt von Depeche Mode (NZZ), ein Konzert der Beach Boys (FR), ein Konzert von Concerto Vocale Fankfurt mit Michael Quast (FR), die neue CD des Jazzsaxofonisten Roscoe Mitchell (SZ) und das Debüt des Rappers Lil Yachty (SZ).
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Kunst

Für den Standard ist jetzt auch Roman Gerold nach Münster zu den Skulpturen Projekten gefahren und betrachtet die Großkunstereignis recht wohlwollend: "Ja, der 'Eventcharakter' und die Liebe, die die Münsteraner nunmehr zu 'ihren Skulpturen' entwickelt haben, ist unverkennbar. Und ja, bisweilen beschleicht einen das Gefühl, dass hier Missverständnisse vorliegen. Aber erstens will eine Intervention wie On Water freilich über Münster hinausweisen, und andererseits fragt man sich dann auch: Was ist eigentlich schlecht daran, einfach einmal die Füße ins Wasser zu halten? Die 'neuen Perspektiven auf Gewohntes' können sich ja immer noch einstellen."

In der FAZ sprechen Bertram Kaschek und Jürgen Müller mit dem Dresdner Künstler Karl-Heinz Adler, der heute neunzig Jahre alt wird.
Archiv: Kunst