Efeu - Die Kulturrundschau

Als könne die Kunst die Religion ersetzen

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29.12.2017. Die SZ besucht die Tretjakow Galerie, zu deren Ausstellungen übereifrige Besucher schon mal die Tür eintreten. Die NZZ ist verschnupft über Gerhard Richter, der etwas zu unverblümt die Überlegenheit der Naturwissenschaften über den Altar feiert. Ufa-Filmoperetten sind nicht unschuldig, schreibt die SZ Christian Thielemann ins Stammbuch. Außerdem eröffnet die SZ eine neue Textreihe über Heimat mit einem Text des Schriftstellers Senthuran Varatharajah.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.12.2017 finden Sie hier

Kunst


Wassili Kandinsky, Troubled, 1917, Tretjakow Galerie (aus der Ausstellung "Jemand 1917")

Eskapismus, Identitätssuche - was immer es auch ist, die Tretjakow Galerie in Moskau feiert Besucherrekorde, berichtet Sonja Zekri in der SZ. "Wir entscheiden selbst, was wir zeigen", sagt Direktorin Zelfira Tregulowa im Gespräch mit Zekri. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Rund 2,3 Millionen Besucher jährlich kommen. "Videoclips zu den Ausstellungen werden hunderttausendfach geklickt [etwa zur großen Schau "Jemand 1917" mit russischer Kunst aus ebendiesem Jahr]. Dass Tickets auf dem Schwarzmarkt für das Zwanzigfache gehandelt werden, dass die Besucher in Eiseskälte über Stunden in Schlangen von sowjetischen Dimensionen stehen wie für die Ausstellung Walentin Serows und in den letzten Tagen aus Übereifer sogar das Tor zur Ausstellungshalle eintreten - wer hätte davon je gehört?"

Die Dominikanerkirche in Münster ist entweiht worden, damit der Altar einem Kunstwerk von Gerhard Richter - einem Foucaultschen Pendel aus Paris - Platz machen kann. Der Theologe Jan-Heiner Tück ist in der NZZ wenig glücklich über diese Entscheidung des Oberbürgermeisters Markus Lewe (CDU). Dazu trägt bei, dass Richter sein Projekt bei einem öffentlichen Gespräch wenig subtil als "kleinen Sieg der Naturwissenschaft über die Kirche" beschrieben und erklärt hatte, "er freue sich, dass das Pendel genau an der Stelle schwinge, wo bisher der Altar gestanden habe. Der Altar ist bekanntlich der Ort, an dem Christen das Leidensgedächtnis Jesu begehen und das Geheimnis ihres Glaubens feiern. Richters Äußerung wurde denn auch in dem Sinne aufgefasst, als könne die Kunst die Religion ersetzen, ja als sei die Rolle des Priesters auf den Künstler übergegangen. Diesen Beerbungsanspruch bestätigt ganz unverblümt eine Notiz Richters aus dem Jahr 1963: 'Nachdem es keine Priester und Philosophen mehr gibt, sind die Künstler die wichtigsten Philosophen auf der Welt.'"

Besprochen werden die Retrospektive "Gabriele Münter - Malen ohne Umschweife" im Münchner Lenbachhaus (Standard) und eine Ausstellung von Bildern und Objekten des Amerikaners Lawrence Carroll im Kunstmuseum Kloster Unser Lieben Frauen in Magdeburg (FAZ).
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Bühne


Szene aus "schlammland gewalt" am Deutschen Theater Berlin. Foto: Arno Declair

Am Deutschen Theater hat Josua Rösing das neue Stück des österreichischen Bachmannpreisträgers Ferdinand Schmalz uraufgeführt: "schlammland gewalt". Musikalisch betont, aber sonst reduziert "auf ein Konzert dreier Stimmen", merkt im Standard Bernhard Doppler an, "wobei der Sprachfluss außerdem immer wieder durch einen Schlagzeuger akzentuiert wird. Die drei Schauspieler und der Musiker (Thorsten Hierse, Olga Wäscher, Caner Sunar und Sebastian Deufel) haben sich auf einer mit Plastikplanen abgedeckten Bühne (Bühnenbild: Mira König) aufgestellt. Sie sind Berichterstatter einer apokalyptischen Katastrophe: Eine Erdmoräne hat nicht nur die Dorfkirche, sondern auch das Festzelt mit all den Dörflern mitten in den Orgien des Fests im Schlamm begraben." Als "akkustisches Kunstwerk" funktioniert das gut für den Rezensenten, doch Szenerie und Figuren gilt es noch zu entdecken, meint er.

Besprochen werden außerdem Jean-Stéphane Brons Kino-Dokumentarfilm über die Oper Paris (taz, Tagesspiegel) und Nilufar K. Münzings Inszenierung von Verdis "Nabucco" am Theater Ulm (FAZ).
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Literatur

Die SZ beginnt eine neue Textreihe über Heimat. Den Auftakt macht der in den Achtzigern in Sri Lanka geborene, nach seiner Flucht in Deutschland aufgewachsene Schriftsteller Senthuran Varatharajah mit einem Essay über seine Position in Deutschland und sein Verhältnis zur deutschen Sprache, die er zunächst bei den Zeugen Jehovas als religiös aufgeladene erlebt hat. "Wenn ich Deutsch spreche, führt das zu Gratulationen ('Sie sprechen aber gut Deutsch'), zu Interventionen ('Darf ich kurz stören? Wo haben Sie so gut Deutsch gelernt?'), und Irritationen ('Ich habe nicht erwartet, dass Sie meine Sprache sprechen'). Dieser Körper und diese Sprache scheinen sich zu widersprechen. Sie scheinen nicht zusammenzugehören. ... Diese Eingriffe in den Mund betreffen den ganzen Körper."

Wie dem Populismus, dem Eindeutigkeitsdenken politischer Binarität entgegenwirken? Am besten mit Gedichten, meint der Literaturwissenschaftler Roberto Simanowski in der NZZ: Die Erfahrung poetischer Sprache und deren Ambivalenzen wappne das Subjekt gegen die Zuspitzungen populistischer Welt-Einordnungen. "Die Hoffnung wäre, dass sich diese Erfahrung politisch mobilisieren ließe, wenn Populisten simple Antworten auf komplexe Probleme anbieten und zu schneller Identifikation einladen. Eine solche Hoffnung ist nicht unbegründeter als jene, die Populisten diskursethisch mit dem sanften Zwang des besseren Arguments zur Vernunft zu bringen. Aber sie operiert weitsichtiger, indem sie den Gestus des Rechthabens, der die Populisten so blind für die Komplexität der Dinge macht, untergräbt, bevor diese welche geworden sind."

Außerdem: Für die NZZ hat Angela Schader den Schweizer Joyce-Forscher Fritz Senn besucht, der am 1. Januar 90 Jahre alt wird - aus diesem Anlass gratulieren auch Dietmar Dath (FAZ) und Volker Breidecker (SZ). Auf Twitter berichtet der frühere Viva-Moderator Nilz Bokelberg von einem unerhörten Skandal aus der Welt Entenhausens. In der NZZ schreibt Angela Schader zum Tod der Schriftstellerin Ronit Matalon.

Besprochen werden Franz Hohlers "Das Päckchen" (NZZ), Pia Tafdrups Gedichtband "Tarkowskis Pferde" (NZZ), Robin Lane Fox' Biografie über Augustinus (FR), Neuübersetzungen von Voltaires "Der Fanatismus oder Mohammed" und seiner Briefe aus England (FAZ) sowie eine Ausstellung der Stadtbibliothek Köln über Heinrich Bölls Verhältnis zur Bildenden Kunst (FAZ).
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Film

Besprochen werden Yorgos Lanthimos' "The Killing of a Sacred Deer" (FR, mehr dazu im Efeu von gestern), Bryan Jay Jones' Biografie über George Lucas (Tagesspiegel), Aktan Arym Kubats "Die Flügel der Menschen" (Tagesspiegel) sowie Dorota Kobielas und Hugh Welchmans Animationsfilm "Loving Vincent" (FR, Berliner Zeitung, mehr im gestrigen Efeu).
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Stichwörter: Kuba, Lanthimos, Yorgos

Musik

In der Zeit rechtfertigt sich Christian Thielemann im Interview dafür, beim Silvesterkonzert in der Dresdner Semperoper Melodien aus Ufa-Filmoperetten aufspielen zu wollen: Bei den Ufa-Schlagern handle es sich um "Melodien, die zunächst einmal unschuldig sind. Und ich fände es schade, wenn man sich die mit der entsprechenden Schere im Kopf entgehen ließe." Ganz so einfach ist es dann doch nicht, meint demgegenüber Helmut Mauró in der SZ angesichts dieses "Winterfests der Filmmusik aus schlechteren Zeiten". Sehr nüchtern legt er dar, dass ein Großteil der Musik locker-unterhaltsam dann doch nur dem ersten Anschein nach ist: Die "gespielte Musik stammt vielfach aus der Zeit des Nationalsozialismus (teils wurde sie damals unter Pseudonym veröffentlicht) und war oft Propagandamusik, mal subtil, mal ganz direkt. ... Das ist alles nicht neu, aber offenbar schon wieder vergessen. So schrieb Theo Mackeben in der NS-Zeit nicht nur Musik zu (vordergründig unpolitischen) Unterhaltungsfilmen, sondern auch Filmmusik zu Propagandafilmen wie 'Patrioten' oder 'Ohm Krüger'. Franz Grothe, der im Mai 1933 der NSDAP beitrat, schrieb außer Filmmusik auch Durchhaltelieder, das berühmteste davon war 1941 'Wir werden das Kind schon schaukeln', ein anderes, ebenso eindeutiges 1942 'Wenn unser Berlin auch verdunkelt ist'."

Was bleibt vom Popjahr 2017? Für Jens Balzer ist es jedenfalls das Jahr, in dem gesellschaftliche Spalttendenzen endgültig auch in Pop-Utopia angekommen sind und nennt Xavier Naidoo, Morrissey und die unsäglichen BDS-Kampagnen als Kronzeugen. Neu sind solche Debattenlagen zwar nicht, schreibt er auf ZeitOnline, "neu ist nur, wie ernst dies alles plötzlich genommen wird. ... Gerade im scheinbaren Zustand der größtmöglichen Konfusion, der Polarisierung und des politischen Irrsinns spiegelt jedenfalls der Pop die Lage der Gesellschaft so getreu wider wie vielleicht noch nie in seiner Geschichte - das ist die paradoxe Situation, die sich am Ende dieses Jahres bietet." Nadine Lange geht im Tagesspiegel-Rückblick unterdessen nochmal die größeren Wegmarken des zurückliegenden Jahres ab: Pop entdeckt die Langsamkeit, Rockmusik verabschiedet sich aus der Relevanz und Frauen spielten im Pop 2017 eine weniger prägnante Rolle als in den Jahren zuvor, lautet ihr Fazit.

Lorina Speder schlendert für die taz durch die Straßen von New Orleans, wo nach Katrina 2005 längst wieder das normale, also musikalische Leben eingekehrt ist: "Ein Gitarrist spielt auf dem Gehweg, Zuhören lohnt sich: Das Klackern der Schreibmaschinen auf den kleinen Tischen der Street-Poets formt einen unregelmäßigen Rhythmus. Obwohl mir zahlreiche Musiker auf den Straßen in der Nacht begegnen, richtig kreativ werden sie tagsüber. Sie trommeln auf Mülleimern und anderen zweckentfremdeten Schlagzeugteilen vor den Geschäften im French Quarter."

Weiteres: Im Standard spricht Ljubisa Tosic mit Elke Hesse über den vor fünf Jahren eröffneten Konzertsaal der Wiener Sängerknaben. Für die taz porträtiert Stephanie Grimm den Hamburger Entertainer Erobique. Besprochen wird ein großer Band über die Geschichte des Trikont-Labels (FAZ).
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