Efeu - Die Kulturrundschau

Bis auf weiteres Distanz

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.01.2019. Die Filmkritiker werden ganz weich und gerührt angesichts eines knarzigen Clint Eastwoods als neunzigjähriger Drogenkurier in "The Mule". Die taz feiert die schier unglaubliche Fantasie des japanischen und chinesischen Animationsfilms. In der nachtkritik fragt der Germanistikprofessor Kai Bremer: Kennen die Theaterkritiker eigentlich ihre Klassiker noch? Was wird aus dem Kertesz-Nachlass, fragt die SZ..
9punkt - Die Debattenrundschau vom 31.01.2019 finden Sie hier

Film

Auf dem Weg zum Reifenwechsel: Clint Eastwood in "The Mule"
In "The Mule" zeigt sich Clint Eastwood nach einigen Jahren wieder selbst vor der Kamera - als 90 Jahre alten Drogenkurier, basierend auf einer wahren Geschichte (hier dazu die Reportage im New York Times Magazine von 2014, auf die der Film sich stützt). Die Kritiker sind bestrickt von diesem für Eastwoods Verhältnisse ungewöhnlich licht und hell inszeniertem Film: Der Altmeister hat offensichtlich "immensen Spaß" an der Figur, schreibt Gerhard Midding in der Berliner Zeitung, während SZ-Kritiker Tobias Kniebe den Saal mit der Erkenntnis verlässt, dass "im Zwielicht des Lebens nicht nur ein friedvoller Garten mit Taglilien wartet".

Dieses Roadmovie ist "im besten Wortsinn konservativ", freut sich Tobias Sedlmaier in der NZZ und unterstreicht, dass dies mit dem Flegeltum eines Trump nichts zu tun hat: Eastwoods altmodischer Konservatismus ist "auf Werte bedacht, mit stark liberalem Einschlag und Empathie gegenüber anderen Lebensentwürfen. ... Es ist, als wolle er mit einem Augenzwinkern sagen: Schaut her, ich als Vertreter des alten Amerika werde das mit der politischen Korrektheit nicht mehr lernen. Macht ihr es einmal anders als ich. Aber vergesst dabei bitte nicht, wie man einen Autoreifen wechselt!" Dass Eastwoods "Weltbild etwas nuancierter ausfällt als das seines Präsidenten", sieht auch Andreas Busche im Tagesspiegel so.

Unglaubliche Fantasie: "Big Fish & Begonia" aus China
Asien hat die USA in Sachen Animationsfilm längst abgehängt, schreibt Fabian Tietke in der taz: "Während Pixar nach der Übernahme durch Disney weitgehend auf Fortsetzungen seiner ohnehin nur mäßig originellen animierten Zivilisationsparaphrasen reduziert wurde, entstehen in China und Japan visuell und narrativ originelle Animationsfilme." Aktuelles Beispiel aus China: Liang Xuans und Zhang Chuns märchenhafter Film "Big Fish & Begonia", der "eine bis ins Detail hinein schier unglaubliche Fantasie" an den Tag legt.

Weitere Artikel: Juliette Binoche, demnächst Jurypräsidentin der Berlinale, plaudert im Gespräch mit der Zeit über ihre Filme, Regisseure, mit denen sie gearbeitet hat, und Sexismus im Filmgewerbe. Carolin Weidner stellt in der taz das Programm der Ludwig Wüst gewidmeten Retrospektive im Berliner Kino Arsenal vor. Im Freitag porträtiert Jenni Zylka die Schauspielerin Florence Kasumba, die mit "Black Panther" ihren Durchbruch feiern konnte. Für die NZZ plaudert Urs Bühler mit Viggo Mortensen, der seinen neuen, bei der Kritik ziemlich umstrittenen Film "Green Book" (weitere aktuelle Besprechungen heute in taz, Freitag und Presse) vorstellt. Geri Krebs stellt in der NZZ das mexikanische Programm der Solothurner Filmtage vor.

Besprochen werden Lauren Greenfields Dokumentarfilm "Generation Wealth" (taz, FAZ), die von Arte gezeigte BBC-Serie "Verrate mich nicht" über eine falsche Ärztin, die aufzufliegen droht (NZZ, FAZ), Eric Caravacas Dokumentarfilm "Carré 35" (SZ) und die Netflix-Doku "Get Me Roger Stone" (Presse).

Und eine traurige Meldung: Variety meldet den Tod von Dick Miller, ähnlich wie Harry Dean Stanton ein ewiger Nebendarsteller, dessen Gesicht man aus der zweiten Reihe zahlreicher Filme kennt.
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Architektur

Jan Maruhn macht für die Weltkunst anlässlich des Bauhaus-Jubiläums eine Rundreise durch Weimar, Dessau, Krefeld und Bernau. Besprochen wird die Ausstellung "The Sea Ranch - Architecture, Environment, and Idealism" im San Francisco Museum of Modern Art (AD, Hyperallergic, FAZ).
Archiv: Architektur
Stichwörter: Bauhaus, Bauhaus-Jubiläum

Bühne

Der Germanistikprofessor Kai Bremer ist in der nachtkritik erschüttert über die Reaktionen der Theaterkritiker auf Moritz Rinkes Bearbeitung von Goethes "Wahlverwandtschaften" am Deutschen Theater: Goethe raune im Hintergrund, hieß es da etwa. Kennen die eigentlich ihre Klassiker noch? "Selbstverständlich muss eine Theaterkritik mehr Themen und Sachverhalte gleichzeitig berücksichtigen als zum Beispiel ein literaturwissenschaftliches Referat. Aber metaphorische Bewertungen ohne nachvollziehbares literaturkritisches Fundament machen sie beliebig und scheinen zudem sich entschieden widersprechende Urteile zu befördern. Diese These legt zumindest die Beschäftigung mit den Kritiken zu 'Westend' nahe."

Weiteres: Patrick Wildermann stellt im Tagesspiegel die Auswahl für das 56. Berliner Theatertreffen vor. Nina Belz berichtet in der NZZ über das Dau-Projekt in Paris.

Besprochen werden zwei Operninszenierungen in Berlin: Barrie Koskys Inszenierung von Puccinis "La Bohème" an der Komischen Oper und Jossie Wielers Inszenierung von Bellinis "Somnambula" an der Deutschen Oper (FAZ) sowie Tobias Kratzers Inszenierung von Verdis "La forza del destino" in Frankfurt (Stuttgarter Nachrichten, Bayerischer Rundfunk, SZ).
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Kunst

Die Künstlerin Gala Goebel erzählt im Interview mit Monopol vom schwierigen Einstieg in den Kunstbetrieb für junge Künstler.

Birgit Jürgenssen, Ohne Titel, 1976, Privatsammlung Wien
Besprochen werden Birgit Jürgenssens Ausstellung "Ich bin" in der Kunsthalle Tübingen (SZ), eine DVD mit der Filmtrilogie zur Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts von Helmut Herbst (monopol), eine Ausstellung mit den Grimmschen Märchenbildern des Jugendstilmalers Otto Ubbelohde im Otto-Ubbelohde-Haus in Goßfelden (mehr dazu hier, FAZ), eine Ausstellung des Werk des belgischen Symbolisten Fernand Khnopff im Petit Palais in Paris (France Culture, FAZ, SZ), die Ausstellung "1948" mit 42 Werken von jüdischen und arabischen Künstlern im Stadtmuseum von Haifa (Haaretz, SZ) und die Ausstellung "Chinese Whispers" mit Werken von Ai Weiwei im Wiener MAK (Presse).
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Literatur

Im Streit um den Kertesz-Nachlass hat ein Gericht in Budapest entschieden: Die Rechte liegen fortan nicht mehr bei der Berliner Akademie der Künste, sondern bei einer regierungsnahen ungarischen Stiftung, berichtet Lothar Müller in der SZ. Zwar werde der in Berlin lagernde Nachlass nicht nach Budapest gehen, doch hat die Stiftung nun bei Veröffentlichungen maßgeblich mitzureden: Sie kann sie verhindern oder eigene auf den Weg bringen. Der Akademie der Künste und dem Rowohlt Verlag rät Müller "bis auf weiteres Distanz", was Kooperationen betrifft. Denn die ungarische Regierung "will den jüdischen Nobelpreisträger Imre Kertész in die offizielle Erinnerungspolitik integrieren. War es zeitweilig, wie in Kertész' Tagebüchern nachzulesen, in Ungarn gang und gäbe, ihn wegen seines Judentums, seines Kosmopolitismus und seines Wohnsitzes in Berlin als Autor zu schmähen, der für Ungarn nicht repräsentativ sei und aus der Distanz zu Ungarn Profit ziehe, so ist nun seine Verwandlung in einen regierungskompatiblen Autor das Ziel."

Über Takis Würgers umstrittenen Roman "Stella" wird demnächst vor Gericht verhandelt, berichtet Micha Brumlik in der Zeit. Stella Goldschlags Erben haben den Hanser Verlag und die Neuköllner Oper, die ein "Stella"-Musical aufführt, aufgefordert, beides zu unterlassen. Stella Goldschlag, selbst Jüdin, war von den Nazis gezwungen worden, in Berlin untergetauchte Juden aufzuspüren. Sie beging 1994 Selbstmord. Buch und Musical, so die Erben, würden Stellas tragische Geschichte aus dem Zusammenhang reißen und damit verfälschen. Angesichts der widersprüchlichen Urteile des BGH zum Persönlichkeitsrecht wagt Brumlik, der die Klage unterstützt, keine Prognose. Weiteres dazu auch bei Gerrit Bartels im Tagesspiegel.

Weitere Artikel: Für die Welt spricht Wieland Freund mit Jonatham Lethem, der seinen neuen, zu Trumps Wahlerfolg fast schon fertig geschriebenen Roman "Der wilde Detektiv" danach noch einmal umgeschrieben hat. Im Dlf Kultur verteidigt Christoph Heins Lektor Thorsten Ahrend den Autor vor Andreas Platthaus' Anwürfen. Besprochen werden unter anderem John Lanchesters "Die Mauer" (SZ), der Briefwechsel zwischen Erwin und Eva Strittmatter (Berliner Zeitung), Erich Follaths Reportage "Siddhartas letztes Geheimnis" über eine Reise auf der Seidenstraße (Tagesspiegel), Philippe Bessons "Hör auf zu lügen" (Welt), Klaus Merz' Prosa- und Gedichteband "firma" (NZZ) und eine fünfbändige Peter-Hacks-Ausgabe sowie Ronald Webers Hacks-Biografie (FAZ).
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Musik

Richard Carpenter versteht im Interview mit der Zeit gut, dass die Musik der Carpenters heute wieder angesagt ist: "Ich war davon gar nicht so überrascht. Denn nach all den Jahrzehnten hat sich unsere Musik doch ganz gut gehalten. Man liebt die Melancholie in unserer Musik."

Hier die Carpenters in ihrer ganzen melancholischen Harmonie:



Deutlich weniger harmonisch geht es bei den russischen Gothic-Rapperinnen Ic3peak zu, die heute Abend in Berlin bei der Club Transmediale auftreten, versichert Ina Hildebrandt in der taz. In ihrer Heimat sind sie den Behörden längst ein Dorn im Auge, zahlreiche abgesagte Shows sind die Folge. "Im Videoclip verspeisen die beiden leichenblassen MusikerInnen rohes Fleisch vor dem Leninmausoleum, trinken unweit des Kreml Blut und spielen vor der Zentrale des Geheimdienstes FSB ein Klatschspiel, auf den Schultern von Polizisten einer Spezialeinheit sitzend."



Weitere Artikel: In der taz legt Stephanie Grimm den Berlinern Gregor Schwellenbachs Aufführung von Steve Reichs "Six Pianos" am kommenden Samstag ans Herz. Auch Andrian Kreye zeigt sich in der SZ, wie gestern sein taz-Kollege Ambros Waibel, skeptisch über die Aussagekraft einer Studie, die herausgefunden hat, dass Popmusik seit den Fünfzigern textlich immer düsterer wurde. Hans Keller empfiehlt in der NZZ ein Konzert der brasilianischen Sängerin Marília Mendonça. In der Welt erinnert sich Joan Baez an Woodstock. Mira Karadjova führt auf Electronic Beats anhand von zwölf Stücken durch die Welt der bulgarischen Cosmic Disco der 80er. Die Grundlagen dafür entstanden in den späten Siebzigern und versprechen guten Stoff:

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