Efeu - Die Kulturrundschau

Die Massivität der feinen Unterschiede

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.03.2019. Die Literaturkritiker feiern den Beatnik und reportierenden Dichter Lawrence Ferlinghetti. Der Tagesspiegel entdeckt die Bedeutung des Handwerks neu im Gropius-Bau. Im Filmdienst erklärt der Dokumentarfilmer Talal Derki, wie Kinder zu Dschihadisten werden. Die NZZ ermuntert, Künstler mit ihren Fehlern als dialektisches Gesamtbild wahrzunehmen. Die Theaterkritiker gratulieren dem Schauspieler Jens Harzer zum Iffland-Ring.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.03.2019 finden Sie hier

Literatur

Mit dem Lyriker, Buchhändler und Verleger Lawrence Ferlinghetti feiert morgen der "Zeremonienmeister der San Franciscoer Literaturszene" seinen hundertsten Geburtstag, schreibt Frank Schäfer in der taz - und damit ein lebendes Fossil der Beat-Literatur, in dessen Kanon er allerdings erst spät aufgenommen wurde. "Wie alle Beats macht Ferlinghetti den bigotten 'Squares' die Hölle heiß - und nimmt sich den Jazz als Reaktionsbeschleuniger sowie ästhetisches Vorbild. Legendär sind die Jazz-und-Lyrik-Sessions im Nachtclub The Cellar, wo die Hausband ihm hilft, seine 'oral messages' unter die Leute zu bringen." Wobei er selber gar so wild gar nicht unterwegs war, wie Willi Winkler in der SZ weiß: "Ohne selber einer zu sein, wurde Ferlinghetti der wichtigste Propagandist der Beats und blieb dabei ein pflichtbewusster Geschäftsmann, der pünktlich zum Abendessen nach Hause kam, keine Drogen brauchte und sogar William Burroughs' 'Naked Lunch' ablehnte, weil es ihm zu anarchistisch, zu wirr, zu verdrogt war. ... Das reportierende Dichten ist ihm immer leichtgefallen, alles kann ihn zum Vers reizen. Ferlinghetti verzaubert sich die rohe Welt, indem er sie fromm besingt." Aber was zeichnet Ferlinghettis Leben und Werk nun im Innersten aus? "Lässigkeit, freier Rhythmus, beißende Kritik an den Herrschenden, eine grandiose Komik", antwortet Tom Schulz in der NZZ. Die Junge Welt bringt zum Geburtstag Ferlinghettis Gedicht "Trumps Trojanisches Pferd". Und gute Nachricht: Gerade ist Ferlinghettis Autobiografie auch auf Deutsch erschienen.

Taz-Redakteur Dirk Knipphals kann sich dem Lob für Anke Stellings "Schäfchen im Trockenen", für den die Schriftstellerin mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeichnet wurde, nur voll und ganz anschließen: Stelling gelingt es mit ihrem Buch, "eine Erzählstimme zu behaupten, die gegen Widerstände anerzählt und dabei im Erzählen viel über diese Widerstände verrät." Der Roman handelt von "den sogenannten feinen Unterschieden im Verhalten und im Habitus, die die Gesellschaft dann aber eben doch ziemlich grob in Kategorien von Oben und Unten, Drinnen und Draußen strukturieren. ... Darüber hinaus hat Anke Stelling ein feines Gespür für die Massivität der feinen Unterschiede." Im Standard lobt Stefan Gmünder Stellings präzisen Blick: "Niemand hat das Milieu der saturierten und selbstgerechten Erbengeneration im 'Prenzlberg' genauer beschrieben."

Weitere Artikel: Für ZeitOnline haben sich die Schriftstellerin Theresia Enzensberger und ihre Berufskollegin Hanya Yanagihara zum großen Gespräch an einen Tisch gesetzt. Thomas E. Schmidt hat sich für die Zeit mit dem tschechischen Schriftsteller Jáchym Topol getroffen - "einer der ganz Großen der tschechischen Literatur, der sich über die Jahre auch zu einem verlässlichen Chronisten seiner Gesellschaft entwickelte." Über tschechische Literatur schreibt auch Susanne Lenz in der Berliner Zeitung (hier dazu mehr, außerdem hier dazu unser Schwerpunkt). Felix Philipp Ingold singt in der NZZ ein Loblied auf die Schreibmaschine und erinnert an deren "besondere technische und sinnliche Qualitäten." In der Welt-Reihe "Actionszenen der Weltliteratur" erinnert Matthias Heine online nachgereicht an Goethes nächtlichen Ritt zur Pfarrerstochter Friederike Brion, wiewohl "Körperliches zwischen den beiden wohl nie passiert ist." Ulrike Ninz war für die SZ bei einem gemeinsamen Auftritt von Wolf Biermann und Uschi Brüning auf der Leipziger Buchmesse. Für den Tagesspiegel plaudert Matthias Penkert-Hennig mit dem Comiczeichner Mike Mignola über dessen "Hellboy"-Reihe, die dieser Tage 25-jähriges Bestehen feiert.

Besprochen werden Annie Ernauxs "Der Platz" (Tagesspiegel), Emil Ferris' preisgekrönter Comic "Am liebsten mag ich Monster" (ZeitOnline), Nora Bierichs Neuübersetzung von Yukio Mishimas "Bekenntnisse einer Maske" (Tagesspiegel), Siri Hustvedts "Damals" (online nachgereicht von der FAZ), Saša Stanišićs "Herkunft" (NZZ), Reinhard Kaiser-Mühleckers "Enteignung" (Tagesspiegel), Sarah Burrinis Comic "Die nebenberuflichen Abenteuer von Nerd Girl" (taz) und Sheila Hetis "Mutterschaft" (FAZ).
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Kunst

Der Martin-Gropius-Bau hat nach einer kurzen Umbaupause mit neuem Lichthof, renoviertem Cafe und Buchhandlung sowie der Ausstellung "And Berlin will always need you" über die Wiederentdeckung des Handwerks in der Kunst neu eröffnet. "Der Gropius Bau soll künftig stärker als Plattform für Berliner Künstler fungieren", erklärte Stephanie Rosenthal, seit einem Jahr neue Leiterin, vor der Eröffnung, berichtet Birgit Rieger im Tagesspiegel. "Im Jahr des hundertsten Bauhaus-Jubiläums ist die Frage nach der Bedeutung des Handwerks wieder virulent. Wenn es im ausgehenden 19. Jahrhundert um Qualitätsstandards und die sich verändernden Produktionsbedingungen ging, in den 1920er Jahren um die soziale Kraft des Gestaltens, worum geht es dann jetzt, in digitalen Zeiten, wo der Computer eigentlich alles besser kann? Lernfähig bleiben, vielleicht ist das die Devise, die das künstlerische Tun mit den Händen begründet." (Auch die taz berichtet)

In der FR kann Dandy Manuel Almeida Vergara es nicht fassen, dass eine Ausstellung im Frankfurter Museum für Angewandte Kunst über "züchtige Kleidung" im Vorfeld Kritik ausgelöst hat (unser Resümee), weil hier das Kopftuch völlig unkritisch gesehen werde. Dabei schießt er sich besonders auf Inge Bell von "Terre des Femmes" ein: Sie "fordert einen übergeordneten Raum zur Darstellung von Steinigung und Scharia, der die muslimische Frau offenbar besser abbildet als Entwürfe und Designs von Musliminnen, die sich im Westen und in Nahost ein eigenes Unternehmen aufgebaut haben. 'Wenn es diesen Raum nicht gibt, ist diese Ausstellung für mich nur ein Dolchstoß in den Rücken der Frauen und Mädchen weltweit, die das Kopftuch nicht tragen wollen und sich dieser Lebensgefahr ausgesetzt sehen', sagt Bell. Und ignoriert einen ganz anderen Dolch im eigenen Gewande."

Besprochen werden eine Hrdlicka-Ausstellung im Käthe-Kollwitz-Museum Berlin (Berliner Zeitung) und die Ausstellung "Hyper! A Journey into Art and Music" in den Hamburger Deichtorhallen (FAZ),
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Film

Wie aus Kindern Soldaten werden: "Of Fathers and Sons"
Für seinen beeindruckenden Dokumentarfilm "Of Fathers and Sons" (aktuell besprochen in der SZ, mehr dazu bereits hier) ist es dem in Berlin lebenden Filmemacher Talal Derki gelungen, tief in die Welt der sich in der syrischen Provinz einigelnden Dschihadisten vorzudringen und, als vermeintlicher Kriegsfotograf und Sympathisant, deren Vertrauen zu gewinnen. Für den Filmdienst hat Wolfgang Hamdorf mit Derki über seinen Film gesprochen. Seine Motivation für den Film bestand vor allem darin, zu "verstehen, wie Islamisten es schaffen, aus ihren Kindern Soldaten zu machen, was sie wirklich antreibt. Es ging mir darum, ihren Alltag kennenzulernen, denn nur dort findet man vielleicht Antworten darauf, was sie zu ihren Handlungen antreibt. Erst wenn man versteht, was in ihren Köpfen vorgeht, kann man Lösungen suchen, wie man ihr Treiben beenden kann. ... irgendetwas hat sie zu Extremisten werden lassen. Für mich ist das eine Krankheit, und so wollte ich es im Film auch zeigen."

Weitere Artikel: Auf Artechock spricht Rüdiger Suchsland mit dem Filmwissenschaftler Marcus Stiglegger über die Faszinationskraft des Horrorgenres. Urs Bühler berichtet in der NZZ von der Vergabe des Schweizer Filmpreises.

Besprochen werden Eduard Zorzenonis und Sue-Alice Okukubos kapitalimuskritische Doku "Near And Elsewhere", die Wege in die Utopie aufweisen will (ZeitOnline), Jordan Peeles "Wir" (Freitag, Artechock, mehr dazu hier), Tilman Singers Kunsthorrorfilm "Luz" (critic.de, Artechock, unsere Kritik hier), eine BluRay-Edition von Federico Fellinis Filmen (Filmdienst), Muayad Alayans "Der Fall Sarah & Saleem" (Freitag), die Bergsteiger-Doku "Free Solo" (Tagesspiegel) und die Weltallnazi-Dinosaurier-Groteske "Iron Sky 2" (Standard).
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Musik

Für die taz plaudert Jan Feddersen mit der Altenpflegerin Daniela Alfinito, die als Teilzeit-Musikerin mit ihrem neuen Album "Du warst jede Träne wert" Herbert Grönemeyer von der Chart-Spitzenposition gestuppst hat. Simon Strauss hat sich für die FAZ mit dem in Berlin lebenden Schweizer Pop-Bohemien Dagobert getroffen, der auch weiterhin mit dem Begriff "Schlager" nicht in Verbindung gebracht werden will. Und eine Beobachtung unseres Filmkritikers Janis El-Bira bei der Berliner Maerzmusik:



Besprochen werden Prefab Sprouts "I Trawl the Megahertz" (Pitchfork), ein Schumann- und Lachenmann-Abend der Berliner Philharmoniker mit Simon Rattle (Tagesspiegel) und ein Konzert des Emerson String Quartets (Tagesspiegel).
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Bühne

Helden gibts eigentlich gar nicht mehr, dennoch ist in der Kulturwelt der Ikonoklasmus immer noch schwer in Mode, meint Christian Wildhagen in der NZZ mit Blick auf Daniel Barenboim, Michael Jackson, James Levine und Charles Dutoit. Das wäre eine gute Sache, würde sie uns lehren, "auch die Schattenseiten einer bedeutenden Persönlichkeit wahrzunehmen und sie als Teil eines dialektischen Gesamtbildes zu akzeptieren. Solch diskursiver Vielstimmigkeit, die uns das Problematische im Charakter eines Künstlers sehen und dennoch seine künstlerische Bedeutung anerkennen lässt, begegnet heute jedoch ein zunehmender Hang zu moralischem Rigorismus und zur Schwarz-Weiß-Malerei. So grenzenlos gerade im Netz einzelne klassische Künstler emporgehoben und auf irgendwelche digitalen Podeste gestellt werden, so erbarmungslos werden andere schon um geringer Verfehlungen willen verdammt. Rationale Abwägung und Ausgewogenheit des Urteils sehen anders aus."

Außerdem: In der SZ freut sich Christine Dössel, dass Bruno Ganz den Iffland-Ring an den Schauspieler Jens Harzer vermacht hat. In der Zeit singt Peter Kümmel ein Loblied auf Harzer. In der Welt gratuliert Jan Küveler, in der FR Ulrich Seidler, in der Presse Barbara Petsch und in der FAZ Simon Strauss. Der Germanist Kai Bremer beklagt in der FAZ, dass niemand mehr Dramen liest.

Besprochen werden Rimini Protokolls "Granma" im Maxim-Gorki-Theater Berlin (Tagesspiegel, taz), Ludwig Wüsts Inszenierung von Strindbergs "Fräulein Julie" am Schauspielhaus Graz (Presse) und Alexander Eisenachs "Räuber-Ratten-Schlacht" am Schauspiel Hannover (nachtkritik).
Archiv: Bühne