Efeu - Die Kulturrundschau

Glücklicher, produktiver, ausgeschlafener

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.04.2019. Die SZ steht in Münchens Alter Pinakothek vor Caravaggio und der Frage, woher im Barock der Kult der Härte rührte. Die FAZ freut sich über die schöne Botschaft, die Milo Rau aus den Trümmern von Mossul nach Gent bringt. Die NZZ beklagt das Schließen der Bibliotheken in der Türkei. Die taz  schwelgt in der calvinistischen Strenge von Paul Schraders Film "First Reformed". Und ZeitOnline hält fest, dass der weiße, heterosexuelle Gitarrenrockheld in der Statistik des globalen Pop keine Rolle mehr spielt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.04.2019 finden Sie hier

Film

Ethan Hawke in "First Reformed"

Nachdem er hierzulande schon im Video on Demand verramscht wurde, kommt Paul Schraders in den USA bereits als künstlerisches Comeback gefeierter Film "First Reformed" nun doch noch in die hiesigen Kinos. Taz-Kritikerin Barbara Schweizerhof ist von diesem bewusst karg inszenierten, offen an Andrei Tarkowski anschließenden Film über einen von Ethan Hawke gespielten Priester, der angesichts der nahenden Klimakatastrophe mit seinem Glauben hadert, restlos begeistert: "Je mehr man schaut, desto mehr Facetten entdeckt man. Der Schluss ist verrückt, in mehrfacher Hinsicht. So ausführlich hier Argumente ausgesprochen werden, so wenig wird doch erklärt. Ähnliches gilt für das Netz von Verweisen, das sich durch den Film zieht. Da gibt es Anklänge an Ingmar Bergmans 'Licht im Winter' und an Robert Bressons 'Tagebuch eines Landpfarrers'. ... Aber vor allem ist dies ein Paul-Schrader-Film: Noch in keinem seiner Drehbücher und Filme hat der 'Taxi Driver'-Autor die calvinistische Strenge seines eigenen Aufwachsens so produktiv eingesetzt. Als Erzählmethode entfaltet sie hier eine Unerbittlichkeit, die trifft und nachwirkt."

Bereits im Februar 2018 hat Michael Kienzl den Film für den Perlentaucher besprochen. Auch für ihn bleibt Schrader sich in seinem künstlerisch ambitioniertesten Film treu: In jedem Schrader-Film "haben wir es mit einem Protagonisten zu tun, dessen Welt auf derart gravierende Weise erschüttert wird, dass Wahn und Raserei von ihm Besitz ergreifen und sich sein unstillbarer Drang nach Erlösung nur noch durch Gewalt artikulieren kann. Und wie schon öfter landet Schrader letztlich bei Bressons Schlussszene aus 'Pickpocket', wo der Taschendieb Michel plötzlich einsieht, dass er sich die ganze Zeit auf einem Umweg zu seinem eigentlichen Ziel befunden hat; zu der einzigen Hoffnung, die uns immer bleiben wird, der Liebe."

Weiteres: Für die FR hat Joshua Schößler das Go East Festival in Wiesbaden besucht, das dem osteuropäischen Kino gewidmet ist. Besprochen werden Julian Schnabels "Van Gogh" mit Willem Dafoe in der Titelrolle (SZ, FAZ), Ali Abbasis "Border" (Freitag, unsere Kritik hier), die erste Episode der letzten Staffel von "Game of Thrones" (NZZ) und Marco Kreuzpaintners Thriller "Der Fall Collini" (Welt).
Archiv: Film

Kunst

Valentin de Boulogne: David mit dem Haupt des Goliath und zwei Soldaten, 1620/22. Bild: Museo Nacional Thyssen-Bornemisza

Spektakulär ist die Schau natürlich, mit der die Alte Pinakothek in München Caravaggio und seinen Utrechter Adepten huldigt. Aber SZ-Kritikerin Kia Vahland stellt sie auch vor ein Rätsel, denn die Kunstgeschichte allein kann diesen Kosmos düsterer Brutalität nicht erklären, meint Vahland: "Jetzt kommt das wahre Leben, scheinen ihre Gemälde zu sagen - und führen dann die Betrachter doch nicht wirklich in die Spelunken und dreckigen Gassen, sondern auf eine theaterhafte Bühne, auf der Gaunerinnen und Mörder dramaturgisch perfekt inszeniert auftreten. So entstehen bildstarke, überwältigende Kompositionen. Und der Pinakothek ist es gelungen, das Beste vom Besten vor allem der Utrechter, aber auch der anderen europäischen Nachfolger Caravaggios in der Schau zu versammeln. Woher aber kommt der Kult der Härte im Barock? Was ist das für eine Gesellschaft in Rom, in der die Demütigung darstellungswürdiger ist als das Mitgefühl und nicht einmal mehr die Verhöhnten ihre Gefühle offenbaren?"

Ansicht von Kader Attias Museum of Emotion. Hayward Gallery, London.

Auf Hyperallergic feiert Naomi Polonsky Kader Attias "Museum of Emotion" in der Londoner Hayward Gallery und attestiert dem in Berlin lebenden französisch-algerischen Künstler ein echtes Talent für verbale und visuelle Pointen: "Er durchgräbt Geschichte, Politik, Literatur, Religion, Kunst, Anthropologie und Medizin und stößt überall auf Echos: Zwischen den Gesichtsnarben von Veteranen aus dem Ersten Weltkrieg und von afrikanischen Stämmen, zwischen den Emotionen, die Diktatoren und Jazz-Singer erregen, zwischen Masken aus dem Kongo und Edvard Munchs 'Schrei'. Aber in Attias Methode steckt nichts distanzierten oder klinisches. Die Retrospektive in der Hayward Gallery beweist, dass Attia zugleich über emotionale Tiefe und ernste Gelehrsamkeit verfügt."

Weiteres: Der Guardian erzählt im Schweinsgalopp die Kulturgeschichte von Notre Dame in den Künsten. Auf Hyperallergic erinnert Erica Rawles an die erste Generation schwarzer Film- und Videoküntler, die Filmemacher der LA Rebellion. taz-Kritikerin Katharina Cichosch begutachtet im Weltkulturenmuseum vergnügt, was der Frankfurter Künstler Reinhard Wanzke von seiner Reise um die Welt zusammengetragen hat.

Besprochen werden die Schau des DDR-Fotografen Roger Melis in den Berliner Reinbeckhallen (Tsp) und eine Ausstellung der Fotografin Barbara Probst in der Galerie Kuckei & Kuckei (Tsp).
Archiv: Kunst

Bühne

Heute Abend hat in Gent Milo Raus Inszenierung von Aischylos' "Orestie" Premiere. FAZ-Autorin Olivia Kortas war dabei, als Rau das Stück im Irak erarbeitete, im kriegszerstörten Mossul. Drei Jahre lang hatte dort der Islamische Staat die Bevölkerung terrorisiert: "In der griechischen Tragödie entscheidet ein Tribunal darüber, ob der Held und Mörder Orestes die Freiheit oder den Tod verdient. Rau spielt mit der Symbolik. Er fragt die jungen Iraker in Mossul nach ihrer Meinung. 'Hebt die Hand, wenn ihr wollt, dass die IS-Kämpfer freigelassen werden.' Keiner bewegt sich. 'Und jetzt, hebt die Hand, wenn ihr wollt, dass die IS-Kämpfer getötet werden.' Wieder bewegt sich keiner. Der Kameramann lässt die Aufnahme laufen. Rau ist überrascht, er hat ein anderes Ergebnis erwartet. 'Das ist auch eine schöne Botschaft', sagt er, 'Ich mag dieses Ende sogar mehr als das vom Samstag.'"

Besprochen werden Christian Thielemanns "Meistersinger" in Salzburg (NMZ), Frank Castorfs Inszenierung von Friedrich Dürrenmatts Roman "Justiz" am Zürcher Schauspielhaus (SZ, FAZ), Prokofjews Opernkomödie "Die Verlobung im Kloster" in Berlin (SZ), Michael Thalheimers "Othello" am Berliner Ensemble (der FR-Kritiker Ulrich Seidler zufolge von Shakespeare nur noch Sex und Todestrieb lässt) und Lore Stefaneks "Antigone"-Inszenierung in Klagenfurt (Standard).
Archiv: Bühne

Literatur

Constanze Letsch berichtet in der NZZ von der bestürzenden Lage der türkischen Bibliotheken: "Hunderte öffentliche Büchereien wurden in den letzten zehn Jahren geschlossen oder einem langsamen Tod überlassen. Laut den Zahlen des TKD gibt es zurzeit nur 1146 öffentliche Bibliotheken im Land, fast ein Sechstel dieser Einrichtungen sind vorübergehend geschlossen. Damit kommt auf 70 000 Einwohner eine einzige öffentliche Bücherei - ein Zehntel des EU-Durchschnitts."

In der FAZ schreibt Dietmar Dath zum Tod des Schriftstellers Gene Wolfe, "eines der sehr wenigen Science-Fiction-Autoren, auf deren Werk man zeigen kann, wo darüber geredet wird, ob dieses Genre Kunst sein kann". Insbesondere in der Reihe "Books of the New Sun" aus den frühen 80ern zeige sich Wolfes literarisches Genie: Die Tetralogie "ist ein in Myriaden Details feinst ausgesponnener Wandteppich aus literarischen Anspielungen, psychologischen Beobachtungen, historischen und theologischen Spekulationen, eine textgewordene Soteriologie der Phantastik."

Besprochen werden unter anderem Sibylle Bergs "GRM. Brainfuck" (Berliner Zeitung), neue Veröffentlichungen der Lyrikerin Monika Rinck (ZeitOnline), Saša Stanišićs "Herkunft" (Standard), Florjan Lipušs "Schotter" (NZZ), James Sallis' "Willnot" (Presse), die Ausstellung "Wien. Eine Stadt im Spiegel der Literatur" im Literaturmuseum  in Wien (Presse), Colin Dexters Krimi "Zuletzt gesehen in Kidlington" (Freitag), A. G. Lombardos Krimi "Graffiti Palast" (Freitag), Gunther Geltingers "Benzin" (SZ), der von Mawil gezeichnete Hommage-Comic "Lucky Luke sattelt um" (FAZ) und Anselm Oelzes "Wallace" (FAZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Archiv: Literatur

Musik

Hochinteressiert wirft Jens Balzer für ZeitOnline einen Blick in den Jahresbericht des internationalen Musikbranchenverbands, der mit einigen Klischees aufräumt und die Perspektive auf Pop im globalen Zeitalter geradezurücken versucht: Zu den Spitzenreitern zählen weder Hiphop-Acts noch weiße Rockbands: "Dass auch eine südkoreanische Band wie BTS in Deutschland die größten Hallen zu füllen vermag, ist historisch ohne Vorbild; ebenso wie der Umstand, dass das Publikum der großen Festivals mehrheitlich weiblich ist. Wenn man diese Entwicklungen betrachtet, dann verschwindet Pop (...) eben gerade nicht aus der Gesellschaft, sondern bewegt sich immer weiter in deren Mitte. Und dass der weiße, männliche, heterosexuelle, angloamerikanisch geprägte Gitarrenrockheld in den globalen Statistiken keine Rolle mehr spielt: Das lässt sich ja vielleicht als Zeichen dafür betrachten, dass der Pop die Realitäten unserer Welt heute weniger imperialistisch verzerrt und also genauer abbildet als jemals zuvor in seiner Geschichte." Passend dazu staunt Jonas Lages in der SZ über den Erfolg der koreanischen Popband Blackpink, die mit ihrer neuen Single "Kill This Love" derzeit einen Streamingrekord nach dem nächsten bricht.



Viel zu tun hat der von Balzer skizzierte globale Umbruch mit Streaming, das zuvor periphere Märkte zugänglicher macht. Dass mit Spotify und Co. sich nicht nur eine Utopie vollzieht, daran erinnert Jan Kedves in der SZ, der das von einem schwedischen Forschungsteam verfasste Buch "Spotify Teardown. Inside The Black Box of Streaming Music" gelesen hat. Konturiert wird darin unter anderem der ideale Spotify-Kunde: Ein "Mensch, der sich gerne dabei helfen lässt, rund um die Uhr passende Musik zu hören und durch diese glücklicher, produktiver, ausgeschlafener, fitter zu werden. 'Self-governance through mood control' nennen es die Forscher. ... Hat das noch irgendetwas mit Pop zu tun, im Sinne eines eben auch mal widerständigen, selbstverschwenderischen, extra-destruktiven, trotzigen, eskapistischen Musikkonsums?"

Weitere Artikel: Dlf Kultur befasst sich in einem Feature mit Karlheinz Stockhausens Nachlassverwalterinnen. In der taz gratuliert Robert Miessner dem Jazzkeller 69 e.V. in Berlin zum 50-jährigen Bestehen. Besprochen werden ein Pussy-Riot-Konzert in Buenos Aires (taz), King Pepes "Karma Ok" (NZZ), Capital Bras neues Album "CB6" (Welt, Freitag) und neue Popveröffentlichungen, darunter Gus Dappertons "Where Polly People Go To Read", "wirklich das schönste Debütalbum der Woche", wie SZ-Kritiker Jan Kedves meint. Ein aktuelles Video:


Archiv: Musik