Efeu - Die Kulturrundschau

Das hat Kraft, das zieht mit

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30.04.2019. Laut Guardian stellen sich Stephen Fry, Marina Abramović und andere Kulturgrößen gegen einen Boykott des Eurovision Song Contest in Israel. Der Tagesspiegel blickt gutgelaunt der ersten Philharmoniker-Saison mit Kirill Petrenko entgegen. Die FAZ spürt bei der Uraufführung von Detlev Glanerts Oper "Oceane" das Meer im Menschen. Die SZ isst in Bargfeld noch eine letzte Wurst im Bangemann. Und TechCrunch spoilert: Die letzten Folgen von "Game of Thrones" sehen dank Videokompression ziemlich miserabel aus.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.04.2019 finden Sie hier

Musik

Unter anderem Stephen Fry, Sharon Osbourne, Marina Abramović und der Popmogul Scooter Braun haben sich in einem offenen Brief gegen den von BDS angekündigten Boykott des European Song Contest in Tel Aviv ausgesprochen, meldet der Guardian. Darin heißt es: "Wir glauben, dass diese Bewegung des kulturellen Boykotts einen Affront darstellt gegenüber jenen Palästinensern und Israelis, die mit den Mitteln des Kompromisses und der gegenseitigen Anerkennung am Frieden arbeiten. Mögen unsere Ansichten zum Nahostkonflikt und dem besten Weg zum Frieden auch unterschiedlich ausfallen, so kommen wir alle doch dahingehend überein, dass ein kultureller Boykott auf diese Fragen keine Antwort darstellt."

Klüger und staunend kehrt SZ-Kritiker Peter Richter aus New York zurück, wo er im Metropolitan Museum of Art eine Ausstellung über Rockgitarren  besucht hat: Dort hat er erfahren, dass "elektrische Gitarren mehr sind als nur Instrumente, sie sind offensichtlich sogar die eigentlichen Subjekte der Rockmusik." Und "gemessen an der Zerstörungswut, der Gitarren im Besitz berühmter Rockmusiker neben all der Liebe und Verehrung mitunter auch ausgesetzt waren" grenze es an ein Wunder, wie viele überlebende Instrumente das Haus heute noch präsentieren kann.

Bei Kirill Petrenkos Pressekonferenz zu seiner ersten Saison bei den Berliner Philharmonikern herrschte auf allen Seiten glänzende Laune, berichtet Frederik Hanssen im Tagesspiegel: "Dass er mit Beethovens Neunter loslegt am 23. August, möge vielleicht auf den ersten Blick allzu konventionell erscheinen. Doch ihm sei es damit absolut ernst. 'Denn es gibt nur ein Werk, mit dem ich meine Tätigkeit hier beginnen könnte. Weil die Botschaft der Neunten alles enthält, was uns als Menschen auszeichnet, im Positiven wie im Negativen.'"

Weitere Artikel: Für die Welt porträtiert Manuel Brug die Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla, die künftig wie weiland von Karajan exklusiv für die Deutsche Grammophon verpflichtet ist. In der FAZ gratuliert Jan Wiele der Folksängerin Judy Collins zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden das neue Matmos-Album "Plastic Anniversary" (Jungle World, mehr dazu bereits hier), eine Stockhausen-Aufnahme der Pianistin Sabine Liebner (taz), das neue Album von Vampire Weekend (Tagesspiegel), ein Lambchop-Konzert (SZ), ein Adorno-Abend mit dem Solistenensemble Kaleidoskop (Tagesspiegel), ein Auftritt des Schlagzeugers Ginger Baker in Berlin (FAZ), Volker Hagedorns Buch "Der Klang von Paris" (FAZ) und neue Klassikveröffentlichungen, darunter eine Tschaikowsky- und Dvořák-Aufnahme des Trios Lahav Shani, Kian Soltani und Renaud Capuçon (SZ).
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Bühne

Von tenor begehrter Sopran: Detlev Glanerts "Oceane" an der deutschen Oper. Foto: Bernd Uhlig 

An der Deutschen Oper Berlin wurde Detlev Glanerts Oper "Oceane" nach einem Romanfragment von Theodor Fontane uraufgeführt. In der FAZ bewundert Jan Brachmann, wie suggestiv die Oper beginnt und auch endet: "Mit einem Versinken, dem Einswerden der Stimme von Maria Bengtsson mit der Stimme des Meeres, die seit jeher ihre eigene Stimme war und wie ein dem Menschen Fremdes aus ihr heraus sang. Das hat Kraft, das zieht mit, man spürt diesen selbstzerstörerischen Sog des Meeres im Menschen, und dieses Faszinosum ist stark genug, um über die Vorhersehbarkeit der Geschichte hinwegzutragen." In der Berliner Zeitung sieht Peter Uehling in der Oper ein schönes Bekenntnis zum 19. Jahrhundert: "Zu einer Gattung, in der ein Tenor einen Sopran begehrt und am Ende nicht bekommt."

Weiteres: Für die FAZ wirft Kornelius Friz einen Blick auf die belgische Theaterlandschaft.

Besprochen werden Herbert Fritschs Slapstickabend "Zelt" im Burgtheater (den Uwe Mattheiss in der taz als "überbordend farbenprächtig, darin dann aber doch rätselhaft spröde" beschreibt, FAZ), Jan Philipp Glogers unterhaltsame Inszenierung von Rossinis "Il turco in Italia" am Zürcher Opernhaus (NZZ), Burkhard C. Kosminskis Inszenierung von Shakespeares "Othello" am Stuttgarter Schauspiel (FR) und das neue Toxic-Dreams-Stück "The Bruno Kreisky Lookalike" im Wiener WUK (Standard).
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Kunst

Claudia Schwartz findet in der NZZ Angela Merkels Entscheidung, Emil Noldes Bilder aus dem Kanzleramt abzuhängen, ebenso richtig wie die kritische Ausstellung zum Werk des Expressionisten, klagt aber dennoch über den "alltäglichen Gesinnungsterror der Kulturkritik". Am Wochenende fand auch die ArtMonte Carlo statt, berichtet Brigitte Werneburg in der taz. Und wie praktisch: Die Damen und Herren Sammler konnten vom Gallery Weekend in Berlin per Flugshuttle dorthin verfrachtet werden. Nanina Egli sinniert in der NZZ über Tod und Wiederaufstehung von Notre Dame in der Karwoche.
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Literatur

Mit Kummer nimmt Willi Winkler in der SZ zur Kenntnis, dass im Arno-Schmidt-Ort Bargfeld die Gaststätte Bangemann geschlossen hat: "Wer das kulinarische Angebot bei Bangemann kennt, weiß um die tiefe Wahrheit, die die Zeichnerin Tatjana Hauptmann in Verse gefasst hat: 'Rasch tritt der Tod den Menschen an,/isst er die Wurst von Bangemann.' Arno Schmidt soll in schwachen Momenten der Bangemann'schen Versuchung gleichwohl nachgegeben haben und ist nicht zuletzt deshalb so früh gestorben."

Weitere Artikel: Perlentaucher-Kritikerin Stefanie Diekmann kann sich den allgemeinen Lobeshymnen auf Emil Ferris' Comic "Am liebsten mag ich Monster" nur anschließen: Das im Stil eines von der jugendlichen Protagonistin mit Kugelschreiber und Buntstiften vollgekritzelten Ringbuchs gehaltene Werk ist "in aller programmatischen Ungefälligkeit vielleicht das Schönste, was seit Richard McGuires 'Here' als Comic publiziert worden ist." In der Jungle World gratuliert Magnus Klaue der Schriftstellerin Ulla Hahn mit einer "Lahme Literaten"-Kolumne zum 74. Geburtstag. Jan Wilm schreibt in der NZZ einen Nachruf auf den Lyriker Les Murray.

Besprochen werden Anna Cottens "Lyophilia" (taz), Kathrin Passigs "Vielleicht ist das neu und erfreulich. Technik, Literatur. Kritik" (Freitag), neue Bücher der Dichterin Monika Rinck (Freitag), Daniel Mendelsohns "Eine Odyssee - mein Vater, ein Epos und ich" (Welt), Bret Easton Ellis' "Weiß" (Tagesspiegel), Leonardo Paduras Krimi "Die Durchlässigkeit der Zeit" (taz), Josef Winklers Hörbuch "Lass dich heimgeigen, Vater, oder Den Tod ins Herz mir schreibe" (SZ), Karl-Markus Gauss' "Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer" (NZZ) und Emil Hakls "Kiras Version" (FAZ).
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Film

Wenn der Codec unfreiwillig Videokunst ausliefert: "Game of Thrones", aktuelle Episode (HBO)
Bei "Game of Thrones" klopfen mit der gestern ausgestrahlten dritten Episode der letzten Staffel (hier die Besprechung in der NZZ) die Untoten an und das große Schlachten hat begonnen - aber auch das große Rauschen: Das über weite Strecken bei Nacht und Schneegestöber spielende Schlachtengetümmel sah auf den meisten Geräten nämlich, pardon, ziemlich Scheiße aus. Woran lag's? Devin Coldewey klärt auf TechCrunch auf: Unkomprimiert müsste eine Episode mehr als ein Terabyte groß sein - viel zu viel für gängige Internetverbindungen, über die Serien heute in erster Linie gesehen werden. Und düstere Farbverläufe bringen selbst noch moderne Codecs ziemlich ins Schwitzen, denn "es gibt nur so und so viele Farbgrade und Helligkeiten, die ein Codec anzeigen kann." Wobei Videokompression heute nicht zwangsläufig zu so schlechten Ergebnissen führen muss, wie gestern zu bestaunen. Doch "die Bandbreite des Streams zu vergrößern, kostet HBO viel Geld, da die Episode an zig Millionen Zuschauer ausgeliefert wird - eine Bitratenvergrößerung, um die Qualität signifikant zu verbessern, würde deren Datenkosten ebenso signifikant erhöhen. Wenn man an so viele Leute ausliefert, steigt zudem das Risiko des verhassten Videobufferings oder dass es zu Fehlern beim Abspielen kommt, was aus offensichtlichen Gründen absolut nicht in Frage kommt. Es könnte sogar sein, dass HBO wegen des begrenzten Netzwerks die Bitrate gesenkt hat - 'Game of Thrones' belastet die Grenzen digitaler Distribution tatsächlich in mehrfacher Hinsicht."

Weitere Artikel: Auf critic.de stimmt Udo Rotenberg auf die Filmreihe des Berliner Kinos Arsenal zur Commedia all'italiana ein, "in der jeder Film uneingeschränkt empfehlenswert ist." Im Standard schreibt Bert Rebhandl zum Auftakt des Jüdischen Filmfestivals in Wien. Benjamin Ködler verspricht sich im Freitag einiges von dem neuen Streamingdienst Means TV, der sich bewusst als politisches Arbeiterklassen-Netflix in Position bringt. Die dpa (hier in der FR) meldet, dass der Regisseur John Singleton im Alter von nur 51 Jahren einem Schlaganfall erlegen ist. Singleton war 1992 mit "Boyz n the Hood" der erste afroamerikanische Regisseur, der für einen Regie-Oscar nominiert wurde.

Besprochen werden Roger Michells "Tea with the Dames" über die vier geadelten britischen Schauspielerinnen Eileen Atkins, Judi Dench, Joan Plowright und Maggie Smith (SZ, unsere Kritik hier), Ben Stassens und Vincent Kesteloots Animationsfilm "Royal Corgi" (Welt), die BDSM-Serie "Bonding" auf Netflix (ZeitOnline) und die Agatha-Christie-Serie "Die Morde des Herrn ABC" mit John Malkovich als Hercule Poirot (FAZ).
Archiv: Film