Efeu - Die Kulturrundschau

Müssen Künstler denn Helden sein

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.05.2019. Die Welt ist absolut einverstanden mit den sechs Lolas für Andreas Dresens "Gundermann". Pitchfork blickt auf die große Karriere Joni Mitchells zurück. Die SZ erlebt mit dem venezolanischen Performer Ariah Lester noch einmal, wie wahr Camp sein kann. Außerdem freut sie sich über die Rückkehr der Sattel-, Walm und Schleppdächer. Der Standard hört Anton Weberns Chöre von Subjekten durch das Rote Wien schallen. Die taz feiert die zornige Kunst Miriam Cahns. Und die NZZ legt mit den Flintenweibern der Kunst den Damenrevolver ab.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.05.2019 finden Sie hier

Kunst

Miriam Cahn: Meredith Grey (gestern im TV gesehen), 15.7.2015. Foto: Markus Tretter.


Schön zornig findet taz-Kritikerin Beate Scheder die Arbeiten der Schweizer Künstlerin Miriam Cahn, der das Kunstmuseum Bern eine Überblicksschau widmet. Bei Cahn könne man sehen, was die Welt mit dem Menschen macht: "Eine Madonna mit schweren Brüsten, erigierte Genitalien, Masturbation, Begierde, Geilheit, ineinander verschlungene nackte Körper mit Strichmännchengesichtern, bei denen nicht immer klar ist, ob sie Liebes- oder Gewaltakte darstellen. Vieles bleibt mehrdeutig, hinterlässt ein Gefühl des Unbehagens. So verhält es sich auch mit Cahns schwarz-weißen Kohle- und Kreidezeichnungen, mit denen sie in den 1970er Jahren begann und die im oberen Stock hängen. Mit simplen Klebestreifen heftete Cahn Transparentpapier zu einer Fläche zusammen, die größer als ihr Atelier war und kritzelte männliche oder weibliche Erfahrungswelten darauf - Kriegsschiffe, Waffen bzw. Interieur oder sich auskotzende Frauenköpfe."

Im Visier. Ausstellungsansicht. Foto: Peter Kohl / Forum Schlossplatz.

In der NZZ freut sich Gabriele Detterer über die großartige Flintenweiber in der Schau "Im Visier" in Aarau, die nachzeichnet, wie sich die großen Kunstrebellinnen von Niki de Saint Phalle bis Maria Lassnig bewaffneten, um das Bild weiblicher Harmlosigkeit zu demontieren: "Todbringende Waffengewalt in eine Friedensbotschaft umzumünzen, hatte die US-Künstlerinnen-Gruppe Guerilla Girls im Sinn. Die Feministinnen imaginierten explosive Fantasy-Bomben, die mit Östrogen gefüllt waren und auf testosterongeladene, waffenlüsterne Militärs und Staatslenker zielten, um diese - na ja, recht klischeehaft - in Friedensengel zu verwandeln."

Weiteres: Im Standard unterhält sich Stephan Hilpold mit der Performancekünstlerin Renate Bertlmann, die bei drei Biennale in Venedig den österreichischen Pavillon bespielen wird. Besprochen wird eine Ausstellung zur Künstlersiedlung Margarethenhöhe im Ruhr Museum Essen (FAZ).

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Bühne

Ariah Lester in Rosa in "White". Foto: Bas de Brouwer / Radikal Jung

Junge Regie muss nicht krass sein, weiß SZ-Kritiker Egbert Tholl, trotzdem hat ihm beim Festival "Radikal Jung" in München vor allem Ariah Lester fasziniert, der venezolanische Choreograf und Performer mit einer vier Oktaven umfassenden Stimme: "Hätte Susan Sontag ihren Essay über 'Camp' nicht bereits 1964 geschrieben, sie hätte es nach einer Begegnung mit Lester getan. Dessen Produktion 'White [ARIANE]' ist Camp. Schwul, pathetisch, egozentrisch, voll mit Kitsch und einer überbordenden Musik, einer R'n'B-Oper von klebriger Künstlichkeit. Und doch ist die Aufführung umwerfend, großartig, verzaubernd und in jeder Sekunde wahr."

Weiteres: Eine Frauenquote beim Theatertreffen brächte nicht nur etwas mehr Geschlechtergerechtigkeit, sondern auch wohltuende Abwechslung, meint Katrin Bettina Müller in der taz. Als "strukturellen Durchbruch" wertet Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung immerhin den Theaterpreis für das feministische Kollektiv She She Pop. Im Tagesspiegel berichtet Rüdiger Schaper von der Eröffnung mit Simon Stones "Hotel Strindberg". FAZ-Kritikerin Kerstin Holm hat in Moskau eine Aufführung von Kirill Serebrennikows Revolutionsstück "Barokko" gesehen, bei der auch die halbe Kulturschickeria der Stadt anwesend war, wie sie etwas irritiert bemerkt. Nach der Aufdeckung der grausamen Praktiken an der Wiener Ballettakademie stellen sich Andre Heinz in einem Essay grundsätzlichen Fragen: "Müssen Künstler denn Helden sein? Muss man sich für Schwanensee opfern?"

Besprochen werden David Pountneys Inszenierung von Mieczyslaw Weinbergs Holocaust-Oper "Die Passagierin" in Tel Aviv (SZ), Besprochen werden Ernst Tollers "Hoppla, wir leben!" im Nationaltheater Mannheim (FR), Jean Raspail s "Heerlager der Heiligen" bei den Ruhrfestspielen (FAZ), Dave Eggers "The Circle" in Weimar (FAZ), der dreiteilige Ballettabend "Balanchine Forsythe Siegal" in der Berliner Staatsoper (Tsp).
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Literatur

Im Standard stellt Senta Wagner die österreichische Schrifstellerin Sophie Reyer vor, die gerade fünf Bücher veröffentlicht hat: "Wie geht das nun mit dem vielen Schreiben? Parallel. Sonst würde sie sich zu sehr in ein Projekt verbeißen. Beim Roman interessierten freilich mehr Handlung und Figuren, in der Lyrik Sprache und Form, experimenteller und 'formal freier' geht es in der Verbindung von Wissenschaft und Kunst zu - einem für die Autorin von den Surrealisten und Dadaisten geprägten Ansatz. 'Wenn man den Roman revolutionieren will, muss man ihn von innen heraus aufbrechen', sagt sie."

Besprochen werden Minna Rytisalos Roman "Lempi" (NZZ), Ruth Schweikerts Buch "Tage wie Hunde" (Tagesspiegel) und Tobias Schwartzs Roman "Nordwestwärts" (Welt) (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).
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Architektur

Thomas Kröger: Am Deich, ostfriesland.

In der SZ stellt Till Briegleb den Berliner Architekten Thomas Kröger vor, der auf die verschrobene Idee verfallen ist, seinen ländlichen Häusern keine Flachdächer aufzusetzen. Seine an traditionelle Bauernhäuser angelehnten Bauten haben Sattel-, Walm- und Schleppdächer, bei ihnen kann der Schnee runterrutschen, der Regen abfließen und die Sonne staut weniger Hitze. Irre, findet Briegleb: "Wer Ziegel auf dem Dach hat, gilt als ästhetisch nicht ganz dicht. Aber es gibt Hoffnung. Ein Mann namens Thomas Kröger praktiziert endlich, was die Moderne so lange gepredigt hat: Kunstarchitektur, die Sinn macht, und zwar mit Dachskalp drauf. Damit tritt er einer Bauauffassung im Greisenalter entgegen, nach der nichts Stil besitzen kann, was vom Land kommt. Thomas Kröger kommt vom Land. Und er sagt mit Leidenschaft: 'Ich liebe Dächer!'"


Fritz Sauer, Kinderfreibad am Margaretengürtel, ca. 1926 © Wien Museum

Voller Bewunderung für die Großherzigkeit und das noble Unterfangen geht Standard-Kritiker Ronald Pohl durch die Ausstellung "Das Rote Wien" im Musa, das an den kommunalen Wohnungsbau im sozialdemokratischen Wien der zwanziger und dreißiger Jahre erinnert: "Gerade bürgerliche Künstler und Intellektuelle wie Robert Musil, Alfred Polgar oder Hans Kelsen ziehen vor den Errungenschaften des neu entstandenen Gemeinsinns bewundernd den Hut. Das Bild lückenloser Behütung reicht vom Montessori-Kindergarten hin zu Arbeitergesängen. Zwölftöner wie der Schönberg-Schüler Anton Webern dirigierten voller Inbrunst Chöre von zu neuem Leben erweckten Subjekten. Ob die Wohnungen in den Gemeindebauten letztlich zu klein und zu eng waren; ob die Gleichstellung der Frauen nicht energisch genug betrieben wurde; ob der Baustil der Architekten zu kleinbürgerlich war, zu sehr befangen in Halbherzigkeit: Dies alles lässt sich heute nicht mehr eindeutig entscheiden."
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Film

In der Welt versichert Hanns-Georg Rodek, dass das Filmjahr nicht so saft- und ideenlos war wie die Gala zum Deutschen Filmpreis vermuten lassen könnte. Die sechs Lolas für Andreas Dresens "Gundermann" zum Beispiel gehen für Rodek völlig in Ordnung: "'Gundermann" ist der absolute Anti-'Das Leben der Anderen', ein kompletter Gegenentwurf vom Leben in der zweiten deutschen Republik, in dem es nicht nur Gut und Böse, Täter und Opfer gibt. Ein Film über einen Baggerfahrer, der Lieder singt, an den Kommunismus glaubt, deshalb zum Spitzel für die Stasi wird und sich nach der Wende weigert, sich bei den Bespitzelten zu entschuldigen...'Gundermann' hatte nicht in den neuen Ländern Premiere, sondern in Essen (die Förderung NRW gab ziemlich viel Geld), und das Erstaunliche war, dass die Ruhrgebietler diesen Film sehr gut verstanden, weil auch ihr Land, das Steinkohleland, abgewickelt wurde."

Weiteres: Susanne Kippenberger und Andreas Austilat unterhalten sich im Tagesspiegel mit der Schauspielerin Eva Matthes.
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Musik

Pitchfork blickt in einem sehr langen und mit vielen Audios gewürzten Feature auf Joni Mitchells fünfzigjährige Karriere zurück. Ann Powers erinnert sich, wie Mitchell in Martin Scorses Film "the Last Waltz" in "Helpless", einen Song von Neil Young einstimmte: "Wie Young wuchs Mitchell in einem frostigen Teil Kanadas auf, und die schiere Verträumtheit von 'Helpless', seiner Beschwörung eines Ortes, an dem Kreativität aus sehr verlorenen Terrain wächst, gehört auch ihr. Als Mitchell mit ihrem hohen, fast wilden, aber perfekt modulierten Wehklagen in das Lied eintritt, verschmilzt es nicht, sondern ihre Stimme trifft die anderen wie ein Wetterereignis, eine immaterielle und unwiderstehliche Strömung."

Hier der Filmausschnitt:

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