Efeu - Die Kulturrundschau

Die Bedarfsgruppe der Bienen

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25.05.2019. Die Literaturkritiker sorgen sich um den Geisteszustand der Lyrikerin Katarina Frostenson, die in ihrem Tagebuch den Skandal um ihren Mann Jean-Claude Arnault als Verschwörung abtut und für die Schwedische Akademie nur noch das Kürzel "SA" übrig hat. Empört sind auch die Filmkritiker, nachdem sie sich in Abdellatif Kechiches in Cannes gezeigtem Film "Mektoub, My Love: Intermezzo" drei Stunden lang weibliche Hintern angeschaut haben. Die Presse taumelt beglückt aus einer Wiener Op-Art-Ausstellung. Und die SZ lernt in München die Aktualität von Ödön von Horvath kennen. 
9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.05.2019 finden Sie hier

Literatur

Die Lyrikerin Katarina Frostenson ist eine zentrale Figur in der schweren Krise, die die Schwedische Akademie im vergangenen Jahr bis in die Grundfesten erschüttert und langfristig beschädigt hat. Im Zuge wurde sie geschasst - nicht ohne beträchtliche Kompensationen mitzunehmen. Jetzt rechnet sie in ihrem Tagebuch "K" ab: Die ganze Geschichte sei eine Verleumdung und Verschwörung gewesen, meint sie. Als der Skandal sich verdichtete, hat sie mit ihrem Ehemann Jean-Claude Arnault das Land verlassen und ist quer durch Europa getingelt, erfahren wir von Thomas Steinfeld in der SZ. An Pathos mangelt es dem Bericht dieser Reise nicht: "Frostenson spiegelt sich und ihr Schicksal in den vertriebenen, landflüchtigen, verratenen, im Stich gelassen und verleumdeten Dichtern aller Zeiten und Regionen, von Ovid bis Anna Achmatowa, von Carl Love Jonas Almqvist bis zu Ingmar Bergman. ... Ein Leichtes wäre es, an diesem Tagebuch die Momente des Wahns aufzuspüren", denn die Autorin will "um jeden Preis an eine Verschwörung wider ihren Ehemann und wider die Kunst glauben. Ihr Furor kennt dabei keine Grenzen. Nichts soll geschehen sein, kein sexueller Übergriff, kein Verrat, keine Korruption, und die Steuervergehen verdanken sich allein der Begeisterung für die Kunst. Folglich erhält die Schwedische Akademie das Kürzel 'SA', die 'Ständige Sekretärin' figuriert als 'SS', und an persönlichen Gehässigkeiten fehlt es nicht." Als Literatur betrachtet, ist dieser Text allerdings schon "bemerkenswert", geradezu "ein Kleinod", schreibt Frank Michael Kirsch im Tagesspiegel, doch "das völlige Ausblenden einer Schuld ihres Mannes macht Teile dieses Buches schwer erträglich."

Der ewig wiederentdeckte, 1987 verstorbene Jörg Fauser bekommt zu seinem 75. Geburtstag im Juli eine dritte Werkausgabe: Nach dem Alexander Verlag in den 00er Jahren besorgt diese nun der Diogenes Verlag. Fauser war ein Asphalt-Außenseiter im Literaturbetrieb der alten BRD, hält der Schriftsteller Michel Decar in der SZ fest. Und: Er brachte den Ruch der Underground-Literatur der USA in die Welt der heute weggentrifizierten Kneipen. "Zugegeben, er war kein begnadeter Stilist ... Ihn interessierte was anderes. Das Hässliche und das Normale, das Böse und das Brutale, der ewige Kampf mit sich selbst." Außerdem hatte er einen "Hang zur Kriminalgeschichte, zur Räuberpistole, zum kalifornischen Hardboiled, aus der er seine eigene Suppe kochte: bundesrepublikanischen Pulp par excellence." Die Literarische Welt hat aus Fausers Texten eine Interview-Collage zusammengestellt.

Weitere Artikel: Im literarischen Wochenendessay der FAZ begibt sich Frieder von Ammon auf Spurensuche nach den literarischen Einflüssen von Wolfgang Herrndorf. Christiane Müller-Lobeck plaudert in der taz mit Rocko Schamoni über dessen neuen Roman "Große Freiheit" und über das alte St. Pauli.

Besprochen werden unter anderem Siri Hustvedts "Damals" (taz), Maryanne Wolfs "Schnelles Lesen, langsames Lesen. Warum wir das Bücherlesen nicht verlernen dürfen" (NZZ), Yves Bonnefoys "Der rote Schal" (Zeit), Gerhard Falkners Gedichtband "Schorfheide" (Tagesspiegel), Alan Hollinghursts "Die Sparsholt-Affäre" (NZZ), Jan Brandts Doppelband "Ein Haus auf dem Land/Eine Wohnung in der Stadt" (SZ), Mawils Comic-Hommage "Lucky Luke sattelt um" (taz), Helene Bukowskis "Milchzähne" (Literarische Welt) und Benjamin Balints "Kafkas letzter Prozess" (FAZ).
Archiv: Literatur

Kunst

Erika Giovanna Klien. Diving Bird, 1939. © Belvedere, Wien

Großen Spaß und schwindelerregende Einblicke verdankt Presse-Kritikerin Almuth Spiegler der Ausstellung "Vertiko" im Wiener Mumok, die sich der Op-Art und der Geschichte des Schwindels widmet. Im ersten Geschoss etwa "werden didaktisch kunsthistorische Gegenüberstellungen gewagt, mit Riefelbildern aus dem 17. Jahrhundert, Camouflage-Beginnen um 1900 oder dem Wiener Kinetismus einer Erika Giovanna Klien. Im nächsten Stock dann darf man ganzkörperlich eintauchen in ein Labyrinth aus Kojen und Installationen, nachempfunden den kollektiven Ausstellungserlebnissen, die Op-Art-Künstler in Frankreich damals inszenierten: Laserlicht-Dunkelkammern, der Spazio Elastico von Gianni Colombo, in dem die Matrix, in der man sich wiederfindet, sich zu verschieben beginnt, oder auch mit Klang experimentierende Räume wie der von Jesús Rafael Soto wechseln sich ab. Alles bewegt sich hier, ob technisch oder (nur) optisch, ein Effekt, ein Faszinosum folgt auf das andere."

Keine Spur von "Altersmilde" entdeckt FAZ-Kritiker Stefan Trinks in den Karikaturen von Hans Traxler, dem das Frankfurter Caricatura Museum zum Neunzigsten eine große Werkschau widmet und dem bis heute keine Autorität heilig sei: "Nicht Päpste (die er von 'Pillen-Paul' VI. bis Ratzinger bevorzugt aufspießte und schon einmal mitsamt dem Petersdom, der einem Supermarkt weichen muss, einbrechen lässt), nicht Gott, nicht Teufel, genauso wenig aber auch Polit-Ikonen der potentiell eigenen Klientel: Mao, der als schwimmender Souverän im Juli 1966 den kilometerbreiten Jangtse durchschwamm und seinerzeit kultisch für seine Virilität verehrt wurde, wird von Traxler in 'Drama am Jangtse Kiang' gnadenlos im brackigen Wasser des Stroms versenkt."

Besprochen werden die Olga-Wisinger-Florian-Werkschau im Wiener Leopoldmuseum (Standard) und die Ausstellung "ZeitRäume" im Zürcher Museum Rietberg, die zeigt, wie die indischen Ragamalas, jene traditionellen Miniaturen, die indische Musikstücke illustrierten, auch die pakistanische Kunst der Gegenwartskunst beeinflusst (Weltkunst).
Archiv: Kunst

Musik

Für die NZZ spricht Arno Raffeiner mit Holly Herndon über deren neues, mit einem Gesangesensemble und einer KI-Technologie namens Spawn aufgenommenes Album "Proto", das sich als Kommentar zur Zeit versteht. "Herndon will vor allem den Faktor Mensch fördern: Man müsse in der Lage sein, bei der Gestaltung dieser sogenannten Intelligenz mitreden zu können. Bringt die neue Technologie auch den Durchbruch zu einer neuen Ästhetik? ... 'Der gegenwärtige Gebrauch von KI in Musik ist kein Anlass für Optimismus. Aber uns geht es um eine andere Vision. Man kann sie optimistisch nennen, vielleicht ist sie auch nur nuancierter und neugieriger.'" Eine Hörprobe:



Weiteres: Anlässlich der Veröffentlichung einer neuen Compilation aus dem Fundus des legendären Labels Federal Records führt Christoph Wagner in der NZZ durch die Geschichte der jamaikanischen Musik. In der Presse gibt Wilhelm Sinkovicz Klassiktipps im Netz. Manuel Brug berichtet in seinem Welt-Blog von seinem Ausflug nach Lugano mit den Bamberger Symphonikern. Außerdem listet die Welt zur morgigen Europawahl "die schönsten Popsongs, die man auf dem Weg zur Wahlkabine hören kann", darunter natürlich auch:



Besprochen werden eine digital restaurierte Edition von Wilhelm Furtwänglers musikalischem Nachlass mit den Berliner Philharmonikern (NZZ), Morisseys neues Album "California Son" (Pitchfork, Standard), das neue Album von Tyler, the Creator (The Quietus) und Earths neues Album "Full Upon Her Moving Lips" (The Quietus). Eine Hörprobe:

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Architektur

Was das Berliner Architekturbüro "Teleinternetcafé" letztendlich mit dem Haus der Statistik am Alexanderplatz, bis 2008 Sitz der Stasiunterlagenbehörde, vorhat, kann Peter Richter in der SZ noch nicht sagen. Aber das, was sich das Zentrum für Kunst und Urbanistik und das KW Institute for Contemporary Art mit Förderung der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa unter dem Titel "STATISTA - Staatskunst, Pioniernutzung, Repräsentation" als Zwischennutzung vorstellen, klingt vielversprechend, meint er: Man wolle verschiedene "Bedarfsgruppen" zusammenbringen: "Dazu zählt auch die Bedarfsgruppe der Bienen. Eine Gruppe von Statistikern wolle ein Bienenvolk erst wiegen, dann mit moderner Datenerfassung das Wohlergehen der zuletzt so dramatisch bedrohten Bienen messen und daraufhin über eine Blockchain eine Kryptowährung mit dem Namen Beecoin generieren. Urbanistische Vordenker argumentierten für eine Architektur, die nicht nur den Menschen als Nutzer im Blick hat, sondern auch die Tiere."

Weitere Artikel: Für die Welt ist Marcus Woeller zum Europagebäude nach Brüssel, zum Europäischen Parlament nach Straßburg und zur Europäischen Zentralbank nach Frankfurt gereist, um ernüchtert festzustellen: Auch architektonisch scheitert die Identifikation mit der EU: "Allesamt sind es technokratische, hermetische Architekturen, von denen nicht eine wie ein Haus wirkt, das auch nach außen darstellt, was innen passiert."
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Film

Zeigt auch mal Gesicht: Abdellatif Kechiches Hintern-Revue "Mektoub, My Love: Intermezzo"

"Nach diesem Film will ich nie wieder auf Hintern blicken", bekennt ein ziemlich geschaffter Frédéric Jaeger auf critic.de nach Abdellatif Kechiches in Cannes vor weitgehend empörtem Publikum gezeigtem "Mektoub, My Love: Intermezzo". Dreieinhalb Stunden dauert der Film, der offenbar ohne sonderlich nennenswerten narrativen Zusammenhang junge Leute beim Feiern zeigt und einen beträchtlichen Teil dieser Laufzeit damit zubringt, jungen Frauen auf den Hintern zu filmen. Eine viertelstündige, grenzpornografische Szene soll es auch geben. "Mit dem erdrückend ernsthaften Insistieren auf seinem Hinternfetisch hinterlässt das Intermezzo einen albernen Eindruck", meint Jaeger. "Selbst in seinem Fetisch/Kunst-Diskurs überschätzt sich der Macher in Sachen Innovation und Kreativität", schreibt Beatrice Behn auf kino-zeit.de. "Die Fetischisierung des derriéres hat Tinto Brass um einiges besser und interessanterweise mit viel mehr Respekt und Würde gemacht." Rüdiger Suchsland von Artechock mag hingegen die spätsommerlich-hedonistische Atmosphäre des Films: "Was gefällt an diesem Film, ist, dass Kechiche sich ganz auf die Perspektive seiner Figuren einlässt." Tazler Tim Caspar Boehme gibt sich damit allerdings nicht zufrieden, er hält den Film für "eher redundant." Zorniger ist Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche: Dieser Film ist ein einziger "Affront."

Und sonst? Das Festival neigt sich dem Ende zu, wie lautet die Bilanz? Dieser Jahrgang wird der Filmgeschichte einen ganzen Blumenstrauß an Klassikern geschenkt haben, ist sich Hanns-Georg Rodek in der Welt sicher - insbesondere Terrence Malicks "A Hidden Life", Céline Sciammas "Portrait of a Lady on Fire" und Pedro Almodóvars "Leid und Herrlichkeit" (von dem auch Patrick Straumann in der NZZ in höchsten Tönen schwärmt) werden bleiben. Andreas Busche tut sich im Tagesspiegel schwer, in diesem alles in allem ziemlich guten Jahrgang einen eindeutigen Favoriten zu benennen - sein Herz scheint für Bong Joon-hos "Parasite" zu schlagen, aber realistische Chancen rechnet er ihm nicht aus. Auch Verena Lueken in der FAZ ist sich sicher: Kinokrise hin, Besucherzahlen im Sinkflug her - Cannes hat sich in diesem Jahr mit einem erlesenen Programm von seiner besten Seite gezeigt. Für einen Rückblick aufs Festival empfehlen wir unsere Pressespiegel der letzten anderthalb Wochen.

Weitere Artikel: Gina Thomas gratuliert in der FAZ dem Schauspieler Ian McKellen zum 80. Geburtstag. Besprochen werden Karin de Miguel Wessendorfs Dokumentarfilm "Die rote Linie" über den Protest im Hambacher Forst (Tagesspiegel) und Sergey Dvortsevoys "Ayka" (Standard, mehr dazu bereits hier).
Archiv: Film

Bühne

Bild: Theatermuseum München
"Reizvoll sinnlich" nennt Christine Dössel in der SZ die derzeit im Münchner Theatermuseum gezeigte Ödön-von-Horvath-Schau, die ihr nicht zuletzt verdeutlicht, weshalb der Dramatiker, der sich unter anderem mit dem Verhältnis zwischen Frauen und Männern oder dem sich "aggressiv verschärfenden"  Klima der Zwischenkriegszeit auseinandersetzte, bis heute einer der meist gespielten Autoren ist: Das "hat einerseits genau mit diesen Themen zu tun, den offenkundigen politischen und sozialen Bezügen zu den krisenhaften Dreißigerjahren. Andererseits aber auch mit der modernen Schreib- und Bauart dieser Stücke; ihrem offenen, lakonischen, für Regieideen anschlussfähigen Stil; den typischen Horváthschen Gedankenstrich-Pausen und Szenenanweisungen für 'Stille'; den decouvrierend vorgeführten Phrasen und Sprachschablonen der Figuren. Ihr Aneinander-Vorbeisprechen verweise bereits 'auf das allgegenwärtige Geplapper von Tweets und Postings, in denen das Missverständnis geradezu kultiviert und nur noch auf Reizwörter reagiert wird', befinden die Kuratoren, die beide Horváth-Experten sind."

Weitere Artikel: Im Tagesspiegel ärgert sich Udo Badelt über den Hang der Berliner Musiktheaterszene zur "Uraufführungitis" und plädiert für Wiederaufnahmen.

Besprochen wird Antú Romero Nunes Inszenierung "Max und Moritz" am Berliner Ensemble (Tagesspiegel, nachtkritik),Pınar Karabuluts Inszenierung von Katja Brunners "Die Hand ist ein einsamer Jäger" an der Berliner Volksbühne (nachtkritik), René Polleschs "Deponie Highfield" bei den Wiener Festwochen (nachtkritik), Tom Kühnels Inszenierung von Martin Mosebachs "Rotkäppchen und der Wolf: Ein Drama" am Schauspiel Hannover (nachtkritik), Zino Weys Inszenierung von Jonas Lüschers "Kraft" am Konzerttheater Bern (nachtkritik), Mieczeslaw Weinbergs Kammeroper "Lady Magnesia" an den Münchner Kammerspielen (FAZ).
Archiv: Bühne