Efeu - Die Kulturrundschau

Das Manierliche und Unbefleckte

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.12.2019. Die SZ erlebt bei der Fotografie-Biennale in Bamako, wie Nachwuchskünstler die Nachbarschaft zum Tanzen bringen.  Die FAZ fragt, ob Kunst heute eigentlich noch misslingen kann. Belgien war der große Trend in der Architektur der Zehnerjahre, weiß der Standard. Der Freitag präsentiert 100 Gecs, deren neues Album wie Katzen-Memes klingt. Würdig und stolz beschließen die Feuilletons das Fontane-Jahr. Und die Handke-Wochen...
9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.12.2019 finden Sie hier

Kunst

Kollektif k2d

Enthusiastisch wie stets berichtet Jonathan Fischer in der SZ von Afrikas bedeutendster Fotografie-Biennale, den Rencontres de Bamako", die in diesem Jahr unter dem Motto des Panafrikanismus stehen. Tolle Arbeiten zu Migration hat Fischer gesehen, viele Frauen haben mitgewirkt und auch etliche Kollektive von beiden Seiten des Atlantiks - das Kollektif 2d aus Haiti, Kamoinge aus den USA oder Invisible Borders aus Lagos: ,  "Wie aber erreicht man die Bevölkerung von Bamako? Während man bei den offiziellen Anlässen nur immer wieder derselben In-Crowd an Fotografen, Kuratoren und Journalisten begegnet, öffnet die Ausstellung der Gruppe Yamarou ein Fenster zum malischen Alltag. Hier in einer Lehmstraße im Viertel Medina haben die lokalen Nachwuchs-Fotografen ihre Abzüge an Hauswänden aufgehängt. Ein Soundsystem bringt die Kinder aus der Nachbarschaft mit lokalen Hits zum Tanzen, zwei Marionettenspieler sorgen für zusätzlichen Auflauf. Straßenhändler, Schulkinder und Hausfrauen bleiben an den Mauern stehen, zeigen mit Fingern auf Szenen, die ihnen bekannt vorkommen oder Geschichten auslösen."

Initial der schwarzen Frauenbewegung in den USA: Betye Saars "The Liberation of Jemima", 1972.


Im kommenden Jahr wird die amerikanische Künstlerin Betye Saar mit dem Wolfgang-Hahn-Preis geehrt, für die taz hat sich Hanno Hauenstein ihre aktuelle Ausstellung im New Yorker Moma angesehen. Saars Arbeit "The Liberation of Aunt Jemima" war Angela Davis zufolge eine Initialzündung der  scharzen Frauenbewegung, weiß Hauenstein: "Der Einfluss von populärer Mystik und Okkultismus auf Saars Kunst ist unübersehbar. Ihre Werke reagieren auf ein Klima der Unsicherheit, aus dem sich auch die neue Affinität zur Mystik speist. Das allein aber kann das derzeit neu erstarkte Interesse an ihrer Kunst nicht erklären. Bereits seit über einem halben Jahrhundert ist Saar, die Design studierte und lange als Druckgrafikerin arbeitete, als Assemblage-Künstlerin aktiv. Sie bereicherte das Medium um eine schillernde Bandbreite an Inhalten, die Astrologie, Handlesekunst und Tarot genauso einbezieht wie ihre persönliche Familiengeschichte, politischen Aktivismus und ihre Erfahrungen mit Rassismus in den USA."

Kann Kunst heute überhaupt noch Misslingen?, fragt der Kunsthistoriker Jan von Brevern in der FAZ. Oder besser gesagt: Lassen der Betrieb und das Idiom der Kunstwelt das überhaupt noch zu? "Die Ansprüche, die damit an die Kunst herangetragen werden, scheinen paradoxerweise zugleich enorm hoch und völlig unbestimmt zu sein.  Wenn 'andere Räume' besetzt werden sollen, um damit 'Freiheitsräume zu öffnen' und so "das Andere zu denken", dann ist unklar, wie Kunst dieser zirkulären Anforderung entsprechen soll. Aber es ist eben gleichzeitig auch unklar, wie denn ein Kunstwerk aussehen müsste, dem dies nicht gelingt. Eröffnet Kunst nicht immer irgendwelche Freiheitsräume? Und solange man nicht weiß, was 'das Andere' ist - ein Teil des Subjekts in der Lacan'schen Psychoanalyse? Ein postkoloniales Diskurselement? -, kann man es auch jederzeit gefahrlos denken. Schon von Seiten der Institution wird es der Kunst eher schwergemacht, zu scheitern."

Weiteres: In der Berliner Zeitung freut sich Ingeborg Ruthe über die zahlreichen Ausstellungen mit Kunst aus der DDR - wie gerade noch im Düsseldorfer Kunstpalast zu sehen- und der damit verbundenen, wenn auch verspäteten Anerkennung: "Nicht schlecht wird auch gestaunt, wie vielfältig, stilistisch reich und divers, wie tiefsinnig, zeitkritisch und handwerklich meisterlich die Kunst der DDR Zeit ist." taz-Kritikerin Beate Scheder besucht in Turin die Casa Carol Rama. Claus-Jürgen Göpfert gratuliert der Fotografin Barbara Klemm in der FR zum Achtzigsten. Franz Kotteder schreibt in der SZ zum Tod des Schweizer Kurators und Museumsdirektors Christoph Vitali, weitere Nachrufe stehen in FR und Tsp.

Besprochen werden eine Schau zur "Fotografik" im Museum für Gestaltung Zürich (NZZ), die Ausstellung "Die Zukunft der SPD" in der Schöneberger Zwinger Galerie (taz), eine Ausstellung der Künstlerin Jutta Koether im Museum Abteiberg Mönchengladbach (FAZ), die Fotoausstellung "Body Performances" in der Berliner Newton Stiftung (Tsp)
Archiv: Kunst

Bühne

Im Standard-Interview mit Stephan Hilpold spricht die Star-Sopranistin Asmik Grigorian über ihre Salzburger "Salome", die Brutalität osteuropäischer Gesangsausbildung und die Qualitäten einer guten Sängerin: "Ein wirklich guter Sänger ist stark. Er oder sie muss viel an sich arbeiten, einen guten Humor haben und auch mit Misserfolgen oder mit negativen Kritiken umgehen können. Die Stärke braucht man in erster Linie, um sich selbst treu zu bleiben."

Weiteres: taz-Kritikerin Aida Baghernejad feiert in Volksbühne mit Peaches zwanzigjähriges Bühnenjubiläum, im Tagesspiegel schickt Nadine Lange ihre Eindrücke. Dorion Weickmann gratuliert dem Choreografen und früheren Frankfurter Ballettchef William Forsythe zum Siebzigsten, in der NZZ schreibt Lilo Weber, in der FR Sylvia Staude, in der FAZ Wiebke Hüster.
Archiv: Bühne

Literatur

Karin Janker erzählt auf der Seite Drei der SZ die beeindruckende Geschichte von Hartmut Geerken: Der 80-Jährige brennt mit Leib und Seele dafür brennt, den Schriftsteller Salomo Friedlaender dem Vergessen zu entreißen. Sein halbes Leben hat er damit verbracht, gemeinsam mit seiner Frau Friedlaenders Nachlass durchzusehen und zu erschließen. Die Friedlaender-Gesamtausgabe besorgt und veröffentlicht er selbst - via Books on Demand. "Friedlaender, der unter dem Pseudonym Mynona Grotesken schrieb, war Punk, Dada und Avantgarde in einem. 'Ein lachender Philosoph, denken Sie, was das in Deutschland heißt!', schrieb Kurt Tucholsky 1929 über ihn. ... 'Irgendwann wird sich jemand dafür interessieren', sagt Geerken. Sich von den Kisten in seinem Wohnzimmer zu trennen, fällt ihm nicht schwer. Was zählt, ist, was schon erledigt ist: In der zimmerbreiten Bücherwand leuchten die gelben Buchrücken. Im Mai 2021 ist Friedlaenders 150. Geburtstag, dann soll der letzte Band erscheinen."

Auf der Meinungsseite der SZ blickt Lothar Müller auf die Handke-Debatte der letzten Monate zurück: "Der Homer-Nachfahre, eher im Bleistiftgebiet zu Hause, hatte keine mediale Schnittmenge mit den Tweets, die seine Sätze kommentierten, verballhornten, parodierten. Die neue Patchwork-Öffentlichkeit, in der Printmedien und audiovisuelle Medien mit den sozialen Netzwerken verzahnt sind, begünstigt nicht nur Empörungskaskaden, diskursives Pingpong und Endlosstaffelungen von Repliken, sondern auch das Ignorieren von Kanälen, auf denen man selbst nicht ist." Dass die SZ selbst weite Teile der Debatte durchaus ignoriert hat, verschweigt Müller allerdings.

Die Feuilletons geben auf der Zielgeraden des Fontane-Jahres nochmal alles: Jens Bisky staunt in der SZ über die schiere Masse an Digital-Konvoluten, die im Onlineportal fontanearchiv.de mittlerweile hinterlegt sind. Generell haben sich die Anstrengungen des Jubiläumsjahrs gelohnt: "Entdeckerlust, nicht Weltbildzementierung, bestimmte das Fontane-Jahr. Er kann neu gelesen werden." Im FAZ-Leitartikel kommt Andreas Platthaus unter anderem im Rückgriff auf Petra S. McGillens Forschungen auf Fontane als Pionier im arbeitsteiligen Schaffensprozess zu sprechen: "Er beschäftigte seine ganze Familie mit der Ausarbeitung seiner Bücher, als Rechercheure und Schreibkräfte, ganz wie er es in den Zeitungsredaktionen gelernt hatte." FAZ-Autor Tilman Spreckelsen findet die Leseerfahrung irritierend, dass es in Fontanes Romanen vor Figuren nur so wimmelt, die "ebenso gut in unsere Zeit zu gehören scheinen". Lutz Herden wirft im Freitag einen Blick auf Fontanes Nebenfiguren, mit denen sich der Autor mitunter "auf das Stolze und moralisch Würdige der kleinen Bürger" berufe, "die das Manierliche und Unbefleckte ihrer Reputation zu achten wissen." Josef Kirchengast bespricht im Standard Hans Dieter Zimmermanns Fontane-Biografie, die es offen lasse, "ob man Fontane als Antisemiten einstufen kann." Und die SZ hat sich bei Schriftstellerinnen nach deren liebsten Männer-Figuren bei Fontane erkundigt.

Weiteres: Angela Schader schreibt in der NZZ einen Nachruf auf Alasdair Gray. Im Juli hatte sich das Prospect Magazine noch für eine große Story mit dem Schriftsteller getroffen.

Besprochen werden Yannick Haenels "Halt deine Krone fest" (Tagesspiegel), Peter Wawerzineks "Liebestölpel" (online nachgereicht von der FAZ), Roberto Bolaños "Monsieur Pain" (Tagesspiegel) und Louis Begleys Krimi "Killer's Choice" (Standard).
Archiv: Literatur

Architektur

Psychiatrie am Rand von Gent. Foto: De Vylder Vinck Taillieu

In einem Rückblick auf das zu Ende gehende Jahrzehnt resümiert Maik Novotny im Standard die auffälligsten Entwicklungen in der Architektur. Neben dem Ende der Stars, extrem profitablen Superhochhäuser und der Wiederentdeckung des Ländlichen macht er einen klaren Trend aus: Belgien. "Jedes Jahrzehnt hat seine Länder, auf die die Architekturwelt besonders schaut. Waren es in den 1990er-Jahren die Schweiz und die Niederlande und in den Nullerjahren Japan, so ist es in den Zehnerjahren vor allem das flämische Belgien. Architekten wie De Vylder Vinck Tailleu aus Gent kombinierten spröden Witz, konstruktiven Ideenreichtum und belgischen Surrealismus. Das Kollektiv Rotor arbeitet mit konstruktivem Recycling und ist damit nachhaltiger als so manches Öko-Label. Umbau statt Neubau: ein Trend, der die 2020er-Jahre mit Sicherheit prägen wird."
Archiv: Architektur

Film

Für den Tagesspiegel wirft Andreas Busche einen Blick ins Kinojahr 2020, das weiterhin ganz im Bann des Disney-Konzerns stehen dürfte, denn sieben der zehn erfolgreichsten Filme des noch laufenden Jahres stammen aus dem Maus-Haus: "So eine Akkumulation von Markt- und Markenmacht hat es in der Geschichte des Kinos noch nicht gegeben." Im Dekadenrückblick für die NZZ perspektivert Viola Schenz die Zehnerjahre als Jahrzehnt der Serie und feiert die erzählerische Freiheit, die das horziontale Erzählen mit sich bringt.
Archiv: Film
Stichwörter: Disney, Zehnerjahre

Musik

Im Standard-Interview schimpft der Dirigent Ádám Fischer auf Viktor Orbán und die mangelnde demokratische Kultur in Ungarn. Und er verbeugt sich zumindest teilweise vor Nikolaus Harnoncourt: "Er hatte recht: Man soll jedem Takt einen Inhalt geben, nach dem Motto: Ein Streichquartett ist eine Oper! Auch wenn ich nicht mit jeder seiner musikalischen Lösungen einverstanden war, ist sein Ansatz wichtig gewesen. Man soll nicht gedankenlos daherdirigieren! Für mich waren immer jene Kollegen bedeutsam, denen Interpretation wichtig war, die sich fragten, was jede Stelle in sich birgt."

Achtung, Reizüberflutung: "Das Debütalbum von 100 Gecs heißt 1000 Gecs und klingt, als hätte jemand alle Katzen-Memes, Cowboy-Emojis, Skateboardunfall-GIFs und identitätspolitischen Twitter-Debatten des Jahres gleichzeitig vertont", erklärt Daniel Gerhardt sichtlich fasziniert im Freitag. Und mit dieser Ultra-Verdichtung "ist symptomatisch für 2019, das Jahr, in dem die Popmusik den Logout-Button abgeschafft hat. ... Zwischen himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt liegen bei ihnen nur Millisekunden. In einem Lied finden sich immer noch zehn andere vergraben, die grinsend den Kopf herausstecken." Ein aktuelles Video:



Weiteres: Katharina Granzin wirft in der taz einen Blick zurück auf das sich neigende Clara-Schumann-Jahr und stattet dafür auch der neuen Dauerausstellung im Schumann-Haus-Leipzig einen Besuch ab. Die SZ-Kritiker präsentieren ihre Lieblingsplatten des Jahres.

Besprochen werden Richard Dawsons Album "2020" (taz), die Revue in der Volksbühne Berlin, mit der die Musikerin Peaches ihr 20-jähriges Bühnenjubiläum feierte (taz, Tagesspiegel) und diverse Beethoven-Gesamtausgaben auf CD zum Beethoven-Jahr 2020 (FAZ).
Archiv: Musik