Efeu - Die Kulturrundschau

Künstlerin-Sein, Frau-Sein, Kind-Sein

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21.02.2020. Etwas zu gediegen ist den Filmkritikern der Eröffnungsfilm der Berlinale geraten, Philippe Falardeaus "My Salinger Year". Nur Sigourney Weaver rettet ihn vor allzu großer Gemütlichkeit. Wo bleibt die Stilkritik an Peter Handkes neuem Roman, fragt die Tell Review die Kollegen von der Literaturkritik. Das Van Magazin untersucht die Arbeitsbedingungen an deutschen Theatern. Die Berliner Zeitung versinkt in den Zettelaltären der Künstlerin Anna Oppermann.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.02.2020 finden Sie hier

Film

Reine Eleganz: Sigourney Weaver in "My Salinger Year"

Gestern Abend wurde die Berlinale eröffnet - angesichts des rassistischen Terroranschlags von Hanau mit einer Gala in sehr gedämpfter Stimmung und der Weltpremiere von Philippe Falardeaus "My Salinger Year", der tief ins vordigitale literarische New York der 90er eintaucht, genauer: in die Agentur, die sich mit den Fanbriefen an J.D. Salingers Adresse befasst. Mitten drin und großartig kühl: Sigourney Weaver, die "selbst im Straucheln noch reine Eleganz und Überlegenheit ist", schreibt Thekla Dannenberg im Perlentaucher. Der Film basiert auf den Memoiren Joanna Rakoffs. Von Weaver abgesehen gibt der Film jedoch nur wenig her, bedauert Dannenberg: Es geht "von den angesagten Cafés im Greenwich Village zu den Open-Mike-Bühnen im East Village, dem der revolutionäre Spirit so nachhaltig ausgetrieben wurde, dass der Film nicht mal versuchen kann, ihn einzufangen. Aber auch die anderen Fixsterne des Literaturlebens strahlen hier eher farblos. Voice-Over, Sepia-Farben und New-York-Evergreens sorgen für Nostalgie." Auch tazler Tim Caspar Boehme sieht in Sigourney Weaver "einen der Hauptgründe", sich diesen "gediegenen" Film anzusehen, der alles in allem aber "zu lieb und rund gemacht" ist.

Andreas Busche betrachtet den Film im Tagesspiegel aus festivalinterner, strategischer Sicht: Als Eröffnungsfilm wirke er "über weite Strecken eine Nummer zu sicher, aber es ist ein guter Testballon, um die Stimmung zu testen. Die beiden Wettbewerbe stehen dieses Jahrim Zeichen des avancierten Kunstkinos, da kann es nicht schaden, das Publikum mit etwas leichter Verdaulichem zu ködern." Einen "altmodischen Film" sah ZeitOnline-Kritikerin Wenke Husmann - dass der Kitsch ausbleibt, schreibt auch sie Sigourney Weaver und Margaret Qualley, die Joanna Rakoff spielt, zu. Beide retten den Film vor der "schieren Kinogemütlichkeit", meint auch Andreas Kilb in der FAZ. In diesem Film stehen "eindeutig Beharrlichkeit und Tradition, nicht Modernisierung im Zentrum", schreibt Dominik Kamalzadeh im Standard - und fragt sich, ob das ein Statement des neuen künstlerischen Leiters des Festivals, Carlo Chatrian, sein soll, von dem doch einige Erneuerungen für das Festival erwartet werden. Im taz-Staralbum verneigt sich auch Michael Meyns vor Sigourney Weaver.

Mehr zur Berlinale: Im Youtubekanal von Artechock diskutieren Rüdiger Suchsland und Sedat Aslan über "Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Festivals" mit genauem Blick darauf, was Chatrian in diesem Jahr überhaupt anders als Kosslick machen könne (Antwort: sehr wenig) und dass sich aber spätestens im nächsten Jahr die erhofften Renovierungen weit deutlicher zeigen:



Weitere Artikel: Barbara Schweizerhof schreibt in der taz über Helen Mirren, der in diesem Jahr die Hommage des Festivals gewidmet ist. Katja Nicodemus führt in der Zeit durch das Jubiläumsprogramm des Forums, das zum 50-jährigen Bestehen seinen ersten Jahrgang wiederholt. Außerdem werfen Michael Meyns (taz) und Gunda Bartels (Tagesspiegel) Schlaglichter aufs Programm der Perspektive Deutsches Kino. Kirsten Taylor empfiehlt im Tagesspiegel Filme aus der Jugendfilmsektion. Aus dem Forum besprochen werden Kazik Radwanskis "Anne at 13,000 ft" (taz) und Kazuhiro Sodas Dokumentarfilm "Seishin 0" (taz). Die Critic.de-Kritiker haben sich gestern noch zum ersten Berlinale-Podcast zusammengesetzt. Außerdem immer einen Blick wert: der große Kritikerinnen-Spiegel von critic.de. Die Welt dokumentiert Carlo Chatrians diesem Band entnommene Würdigung des amerikanischen Regisseurs King Vidor, dem die Retrospektive gewidmet ist. Im Dlf Kultur kommt die Filmwissenschaftlerin Lisa Gotto besonders auf Vidors Musical "Hallelujah" von 1929 zu sprechen - einem der ersten Hollywoodfilme mit einem schwarzen Cast. Eine Szene daraus:



Abseits der Berlinale: Die NZZ unterhält sich mit der Schweizer Filmregisseurin Sabine Boss über deren Film "Jagdzeit". Im Dlf Kultur erinnert sich der Filmemacher Cem Kaya an den vorgestern gestorbenen brasilianischen Regisseur José Mojica Marins, der sich in den 60ern und 70ern mit abenteuerlichen Horrorfilmen einen Namen gemacht hat.
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Architektur

In der SZ berichtet Jens Bisky über Pläne zur Gestaltung der Freiflächen rund ums Humboldt-Forum. Größtes Problem: Man möchte zwar viele Touristen, aber keine Reisebusse rumstehen haben.
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Stichwörter: Humboldt Forum

Literatur

Auf Tell-Review ärgert sich Sieglinde Geisel darüber, dass sich ihre Kritikerkollegen bei der Betrachtung von "Das zweite Schwert", Peter Handkes neuem, noch vor Bekanntgabe seiner Auszeichnung mit dem Literaturnobelpreis fertiggestelltem Roman, "zumeist jeglicher Stilkritik enthalten. Zum anderen ärgere ich mich über Handkes Schreibweise", die sie im folgenden anhand vieler Zitate zerpflückt. Insbesondere Handkes Literarisierung von Banalitäten bringt sie auf die Palme: "Ich bin gern bereit, mich beim Lesen anzustrengen, doch muss ich keine Bücher lesen, um zu wissen, dass Rauch nach oben steigt (und sich dabei, oh Weltwunder, mit einem zweiten Rauch verbindet). Für mich wirkt der sprachliche Überschwang in solchen Passagen angesichts der Banalität des Geschriebenen wie ein ungedeckter Scheck. Der Rauch bleibt Rauch, egal, wie ich sehr ich mich beim Lesen auch anstrenge." Für FR-Kritiker Arno Widmann ist dieser Roman dagegen "auch ein komisches Buch, ein witziges sogar."

Außerdem: 54books.de bringt Facebook-Updates von Elisa Aseva, die sich zusammengestellt wie Literatur lesen. Besprochen werden Michael Kumpfmüllers Virginia-Woolf-Roman "Ach, Virginia" (NZZ) und Cihan Acars Heilbronn-Roman "Hawaii" (Tagesspiegel).

Mehr in unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau. Alle besprochenen Bücher und viele mehr zum Bestellen finden Sie natürlich in unserem neuen Online-Buchladen Eichendorff21.
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Bühne

Im VAN Magazin stellt der Theaterforscher und -praktiker Thomas Schmidt die Ergebnisse einer von ihm erstellten Studie zu Arbeitsbedingungen an deutschen Theatern vor. Die Ergebnisse lesen sich nicht immer idyllisch. Besonders deutlich war bei den Befragten die Kritik am feudalistischen Intendantensystem der meisten öffentlichen Häuser, notiert Schmidt: "Eine Mehrheit der Teilnehmenden konstatiert, dass das hierarchische System Abhängigkeiten befördert (85,6 Prozent). Über die Hälfte merkt an, dass Strukturen und die Kultur am Theater Ungerechtigkeit und Machtmissbrauch vorantreiben (59,8 Prozent), dass die Macht der Intendant*innen zu groß und zu unkontrolliert ist (59,6 Prozent) und dass die kritischen Köpfe aus den Theatern verbannt werden (50,8 Prozent)."

Besprochen werden Nora Bussenius' Inszenierung von Goethes Drama "Iphigenie auf Tauris" am Theater an der Parkaue Berlin (nachtkritik), Ulrich Grebs "Parade 24/7", ein Stück über die Love-Parade-Katastrophe von Duisburg am Schlosstheater Moers (nachtkritik), die Philip-Glass-Oper "Untergang des Hauses Usher" in Münster (nmz), ein Tanzabend mit dem Alonzo King Lines Ballet im Staatstheaer Wiesbaden (FR) und ein "Fidelio" in der JVA Tegel (FAZ).
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Musik

Im Tagesspiegel gratuliert Hannes Soltau dem Berlin-Neuköllner Label Mansions and Millions, das aus Neukölln einen angesagten Indie-Hotspot gemacht hat, zum fünfjährigen Bestehen: "Längst laufen die Songs der Labelkünstler in HBO- und Netflix-Serien." In der Jungle World berichtet Nicholas Potter von den Anhörungen im Bundestag zum Clubsterben, die auf einen besseren Schutz der Clubkultur abzielen: "Die Vertreter der AfD zeigten sich begriffsstutzig und stellten die Frage, was einen Buchclub von einem Musikclub unterscheide." Der Dirigent Frank Strobel gibt in der NZZ Auskunft über seine Pläne, Fritz Langs Stummfilmklassiker "Metropolis" mit dem Tonhalle-Orchester musikalisch zu untermalen. Die Musik Beethovens "widersetzt sich erfolgreich letztlich allen Vereinnahmungsversuchen, durch wen und mit welcher Absicht auch immer", schreibt Andris Nelsons in einer kleinen FAZ-Notiz zum Beethovenjahr 2020.

Besprochen werden Jan St. Werners "Molocular Meditation" (Pitchfork), Grimes' neues Album "Miss Anthropocene" (taz, Pitchfork, mehr dazu bereits gestern) und Georgias neues Album "Seeking Thrills" (FR).
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Kunst

Installationsansicht der Ausstellung "Anna Oppermann: Das Bild steht auf der Fensterbank. Foto: Galerie Thumm


Immer noch außenseiterhaft, dieses Werk! Gebannt steht Ingeborg Ruthe (Berliner Zeitung) in der Berliner Galerie Thumm vor dem Bildreservoir der 1993 verstorbenen Künstlerin Anna Oppermann: "Ungehemmt wachsen an den Galeriewänden und in den Ecken kaleidoskopische Ensemble aus Zetteln, Zeichnungen, Fotos und seltsamen Fundstücken, Deckchen, Nippes, Murmeln, Topfpflanzen in den Raum. (...) Alles bei Oppermann ist Ambivalenz: Bild, Zettel, Raum, Titel, Fundstück. Und immer dreht es sich ums Künstlerin-Sein, Frau-Sein, Kind-Sein. Es ist eine enigmatische, avantgardistische Bildsprache, die sich aus scharfsinniger Spurensicherung, ironischer individueller Mythologie und offensichtlich manischer poetischer Erzähllust zusammensetzt, wobei gleichsam Raum-Romane entstehen. Paradoxe Intentionen freilich. Denn im Grunde sind all die Collagen und Ensembles ja längst Kunstgeschichte, prozesshafte Gebilde, die nun postum einer ständigen Veränderung unterliegen, aufs Neue Interpretation, Erklärung verlangen - und gewaltigen konservatorischen Aufwand überdies."

Besprochen werden außerdem die Doppelschau "Imagine Tomorrow" im Wiener Leopoldmuseum, die zeigt, wie stark Friedrich Hundertwasser zeitlebens von Egon Schiele beeinflusst war (Standard), die Ausstellung "Ottilia Giacometti" im Kunsthaus Zürich (NZZ), die Angelika-Kauffmann-Ausstellung im Düsseldorfer Kunstpalast (SZ) und die Ausstellung "Up to and Including Limits: After Carolee Schneemann" im Muzeum Susch im Unterengadin (FAZ).
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