Efeu - Die Kulturrundschau

Verflucht sei C.

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.03.2020. Die Gerhard-Richter-Retrospektive des New Yorker Met Breuer Museums findet online statt: Die NZZ rühmt Richters Werk als großen Akt der Negation. Die taz fragt, wie die große Hamburger Synagoge aussehen soll: Neubau oder Rekonstruktion? In der Welt verdammt Abel Ferrara den Ausverkauf New Yorks. Außerdem erkennt die Welt mit Albert Camus: Der Mensch, der sich gegen das Nichts auflehnt, ist ein Arzt in Norditalien. Und die SZ weiß Trost: Igor Levits Konzerte.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.03.2020 finden Sie hier

Kunst

Gerhard Richter: Cage, 2006. © Gerhard Richter / Met Breuer 

Die große Gerhard-Richter-Restrospektive im New Yorker Met Breuer Museum kann sich gerade niemand ansehen, aber das Museum hat alle ausgestellten Bilder online gestellt. Und NZZ-Kritiker Philipp Meier führt vor Augen, was die Bedeutung Richters ausmacht. Meier beschwört Richters stetigen Impuls der Selbstbegfragung, die bewusste Unschärfe, die Gesten der Negierung. Hätte man denn nach Auschwitz einfach weiter malen können? "Um solche Negation geht es insbesondere auch in den abstrakten Arbeiten ab den achtziger und neunziger Jahren, die wesentlich zur Diskontinuität von Richters Werk beigetragen haben. Richter malt nun farbintensiv. Aber nur, um das Entstandene sogleich wieder durchzustreichen. Die aufgetragene Farbe wird mit einer Rakel weggeschabt, vermischt und abgezogen. Schichten von Farbe reißen auf, was dem Bild eine eigentümliche Tiefenstruktur verleiht. Diese Strukturiertheit legt den Entstehungsvorgang des Bildes offen. Der Akt der Negation wird sichtbar. Wie die Dichtung Paul Celans, die sich in ihrem eigenen Sprachraum permanent auszulöschen droht und darin das Unsagbare aufscheinen lässt, sollen Richters abstrakte Bilder vor unseren Augen erscheinen als ihre eigene Unmöglichkeit." In der FAZ betrachtet Benjamin Paul die Unschärfe in Richters Bilder geradezu als "ikonoklastischen Akt, der darin besteht, mit einem harten Pinsel in horizontalen Bahnen über die nasse Farbe der gesamten Oberfläche zu streifen".

Weiteres: Hyperallergic hat eine Liste von Museen zusammengestellt, dank derer man seinen Kunsthunger online stillen kann. Annegret Erhard bedauert in der taz, dass Kunstgießereien nicht mehr unter den ermäßigten Mehrwertsteuersatz fallen: Ein Gießer gilt jetzt nur noch als ausführender Handwerker, nicht mehr als kreativ Schaffender: "Dass der Künstler in seinem Entwurf (Zeichnung, Gips und so weiter) immer die Vollendung des Originals durch den Gießer mitdenken muss, denn er hat in der Regel keine Gießerei, bleibt jetzt unberücksichtigt." Besprochen wird die Andy-Warhol-Schau in der Londoner Tate Modern (im Schweinsgalopp durch die Meisterwerke ritt der Observer, FR).
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Film

Für die Welt hat Hanns-Georg Rodek ein großes Gespräch mit dem Filmemacher Abel Ferrara geführt, der stolz berichten kann, vom Alkohol sieben, von Kokain und Heroin immerhin fünf Jahre frei zu sein. Geholfen hat ihm dabei auch der Bruch mit New York, der Stadt, mit der Ferrara biografisch und künstlerisch eng verbunden ist, aber die er heute nicht mehr wiedererkennt: "Es ist nun ein Tummelplatz für jeden internationalen Abzocker, Dieb, Gangster und Immobilienspekulanten, den Sie sich ausdenken können. Die Stadt ist ausverkauft worden. Die Indianer haben einst wenigstens 24 Dollar für Manhatten bekommen. Wir haben in den letzten Jahren nur Tritte in den Hintern gekriegt. Wer lebt heute in Manhattan? Das Apartment dort, für das ich lange 500 Dollar pro Monat gezahlt habe, kostet nun 10.000 Dollar im Monat. ... Wenn ich dort zu Besuch bin, sehe ich nur Leute, die sich für ihren Lebensunterhalt schinden. Reden Sie mit den Taxifahrern. Sie arbeiten sechs Tage in der Woche, zwölf Stunden jeden Tag."

Eine schöne Idee, die während des Social Distancing gern Schule machen kann, hat der allein schon wegen seines großartigen Programms wunderbare Grandfilm Verleih: Der veröffentlicht jetzt Teile seines Backkatalogs kostenpflichtig via Vimeo - und teilt die Einnahmen mit jenen Kinos, die regelmäßig Filme aus dessen Angebot spielen und gerade auf Umsätze verzichten müssen.

Besprochen werden die Amazon-Serie "Hunters" mit Al Pacino als Nazijäger (NZZ) und und die HBO-Miniserie "The Plot Against America" (ZeitOnline).
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Literatur

Es lohnt sich, in diesen Tagen wieder zu Albert Camus' "Die Pest" zu greifen, verspricht Hannes Stein in der Welt. Vor allem, wenn man dann auf Facebook die Nachrichten italienischer Ärzte wie einem gewissen Dr. Macchini liest, die hartnäckig gegen Covid-19 ankämpfen. "Natürlich ist 'Die Pest' ein philosophischer Roman. Der Mensch, der in eine absurde Situation geworden wird; der Mensch, der sich im Angesichts des Nichts weigert, klein beizugeben: der Mensch, der gegen den Tod kämpft, obwohl er weiß, dass er letztlich keine Chance hat usw. ... Es scheint sich bei Dr. Macchini - mit Camus zu sprechen - nicht um einen Heiligen zu handeln, sondern um einen von jenen, die sich weigern, vor Seuchen zu kapitulieren."

Weiteres: Paul Ingendaay hat für die FAZ Mark Twains Kindheitsort Hannibal besucht, wo man "dem gefeierten Autor und seinen Figuren auf Schritt und Tritt begegnet."

Besprochen werden Lutz Seilers gerade mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichneter Wenderoman "Stern 111" (NZZ), Leif Randts "Allegro Pastell" (Freitag), Ta-Nehisi Coates' "Der Wassertänzer" (SZ), Olive Kitteridges "Die langen Abende" (SpOn), Michael Kumpfmüllers Roman "Ach, Virgina" über Virginia Woolf (Tagesspiegel) und Christoph W. Bauers "Niemandskinder" (FAZ).

Das Literaturhaus Berlin meldet, dass es einige der für die nächsten Wochen geplanten Veranstaltungen nun via Online-Audio durchführen wird.
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Architektur

In Hamburg soll wieder eine große Synagoge im Grindelviertel gebaut werden, wo einst der größte und stolzeste der jüdische Bau des Nordens stand, am Bornplatz. Einhellig hat die Stadt das beschlossen, aber nun diskutiert sie, wie der Bau aussehen soll, berichtet Alexander Diehl in der taz. Der SPD-Politiker Johannes Kahrs etwa wünscht sich einen originalgetreuen Wiederaufbau.  Die Filmemacherin Marion Kollbach dagegen, findet das grundfalsch: "Ein solcher Bau, zumal in Deutschland, müsse 'Erinnerung speichern', sagt Kollbach. 'Und das kann er nicht, wenn er so tut, als wäre nichts gewesen.' Sie verweist auf zeitgenössische Neubauprojekte, etwa das Gebäude der jüdischen Gemeinde am Jakobsplatz in der Münchener Innenstadt: 'Es gibt ein vielfältigeres, ein modernes Judentum, und dafür muss eine neue Synagoge auch Ausdruck sein.'"

Weiteres: Alexander Menden besichtigt für die SZ das Eisenbahnmuseum in Bochum-Dahlhausen, das der Schweizer Architekt Max Dudler in "Klinker, Eiche und Sichtbeton" gestaltet hat. Auf Domus liefert Manuel Orazi noch einen Nachruf auf den im Sinne Rimbauds "absolut modernen" Architekten Vittorio Gregotti.
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Bühne

Nach der Absage aller Vorstellungen liefert die Nachtkritik einen sehr nützlichen Online-Spielplan für Hausmusik und Konzerte in größeren, aber ebenfalls leeren Sälen. Die Bayerische Staatsoper macht ihre Inszenierungen als Videos-on-Demand zugänglich,  zur Zeit laufen dort Bela Bartoks "Judith" und Verdis "Il Trovatore". Der Tagesspiegel meldet, dass die Berliner Staatsoper nun auch ihre Proben streicht: Gecancelt ist damit auch die geplante Online-Premiere von Mozarts 'Idomeneo' unter Simon Rattle. Und in der Berliner Zeitung meldet Ulrich Seidler das Aus für das diesjährige Theatertreffen: "Verflucht sei C."
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Musik

Igor Levits allabendlich um 19 Uhr gegebene, im Vorfeld auf Twitter angekündigte Onlinekonzerte mögen equipment-bedingt keine großartigen Klangerlebnisse sein, schreibt Alex Rühle in der SZ, "aber das ist egal. Worauf es ankommt, ist, dass da einer Kunst macht, um zu trösten. Um während dieser unfreiwilligen Vereinzelungserfahrung ein Gemeinschaftsereignis zu erzeugen. Der Chaconne in Turnschuhen hörten über 200 000 Leute zu. Bach hat sie komponiert, nachdem er 1720 von einer dreimonatigen Reise zurückgekehrt war und auf der Türschwelle erfuhr, dass seine Frau wenige Tage vor seiner Rückkehr gestorben war. ... Man muss das nicht wissen, die Musik klingt auch ohne das Wissen darum wie ein erlösendes Gebet." Alle bisherigen Konzerte kann man hier noch sehen.

Die Band Bohren & Der Club of Gore zählt "zu den großen Unbekannten der hiesigen Musikszene", die aber von einer treuen Fanschar abgöttisch geliebt wird, schreibt Max Dax in der SZ und begeistert sich für das neue Album der Mülheimer Band, die man nur nach einem oberflächlichen Höreindruck als Jazzband charakterisieren würde: "Die Musiker mäandern in den Untiefen der Langsamkeit, bremsen alles ab, was sich bewegt, komponieren Stillstand. Bohren beherrschen die schwere Kunst wie kaum eine zweite Band, wenigen Noten eine solche Autorität und Präsenz zu verleihen, dass man sich dieser intensiven Spannung kaum zu entziehen vermag." Dax schwärmt vor allem auch von diesem Video, seitdem hat die Band noch ein weiteres herausgebracht:



Kann schon sein, dass Streaming und die damit einhergehende Analyse von Erfolgssongs sich auf die Struktur von Popsongs auswirken, die ihren Refrain zusehends nach vorne in den Songbeginn verlager, schreibt Markus Ganz in der NZZ. Doch auch unkonventionelle Arbeiten haben "heute bessere Chancen ein internationales Publikum zu finden. Denn die Algorithmen fördern auch Songs unbekannter Musikerinnen und Musiker zutage, sie sind bis zu einem gewissen Grad blind gegenüber Prominenz. Songwriter, die längerfristig bestehen und über den Mainstream hinauswachsen möchten, sollten sich deshalb nicht irgendwelchen Streaming-Normen beugen. Vielversprechender sind der eigene Ausdruck, das besondere Profil."

Außerdem: Ueli Bernays meditiert in der NZZ über physische Präsenz und körperliche Grenzerfahrung bei Livekonzerten im Lichte des Künstlers im Zeitalter seiner holografischen Reproduzierbarkeit. Jan Kedves (SZ) und Luke Turner (The Quietus) schreiben Nachrufe auf Genesis P-Orridge (mehr dazu bereits hier). Pophistoriker Simon Reynolds gibt in seinem Blog Lese- und Podcast-Tipps fürs Social Distancing.

Besprochen werden neue Beethoven-Veröffentlichungen (SZ), Doglegs Album "Melee" (Pitchfork) und Jay Electronicas "A Written Testimony" (Pitchfork).

Und falls Ihnen bei all dem Social Distancing völlig langweilig werden sollte: Diese tolle Website gestattet es, sich für jedes Land dieser Welt dekadenweise durch die größten Gassenhauer zu hören - warum heute nicht mal japanische Hits aus den 60ern hören?
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