Efeu - Die Kulturrundschau

Auf dem Schirm nur geduldeter Gast

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27.04.2020. Die FAS betont, dass nicht nur der Berliner Mäusebunker abgerissen werden soll, sondern auch das Potsdamer Rechenzentrum. Die NZZ bewundert Jan van Eycks zeitlos faszinierenden Genter Altar. Etwas gelangweilt betrachten FR und Tagesspiegel den Filmpreisregen für Nora Fingscheidts "Systemsprenger": War es noch Harmoniebedürfnis oder schon Eintönigkeit? Große Trauer herrscht über den Tod des schwedischen Schriftstellers Per Olov Enquist. Berthold Seliger erinnert in der Jungen Welt an Karl Amadeus Hartmanns Dachau-Sonate "27. April 1945".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.04.2020 finden Sie hier

Literatur

Unruhige Gestalt mit ruhigem Blick: Per Olov Enquist (Bild: Frankie Fouganthin, CC BY-SA 3.0)

Die Feuilletons trauern um den schwedischen Schriftsteller Per Olov Enquist, den Thomas Steinfeld in der SZ als "einen der großen europäischen Autoren der vergangenen Jahrzehnte" würdigt: Er stehe im Ruf, ein "Wahrheitssucher" zu sein, aber das treffe so nicht zu: "Denn über die Kategorie 'Wahrheit' war Per Olov Enquist immer schon hinaus. 'Wahrheit' mag wie ein glückliches Versprechen klingen, aber es ist Teufelszeug, ein unbedingter, aber leerer Imperativ, etwas, das eine Sucht erzeugt, die, wie alle Sucht, unbefriedigt bleiben muss."

NZZ-Kritiker Andreas Breitenstein imponiert vor allem Enquists Breite des Schaffens: "Die Brisanz seiner Themen, die Substanz seines Denkens und die Virtuosität seiner Technik ließen keine Wünsche offen. Es ist das historische Menschheitsprojekt des Fortschritts in seiner Faszination und seiner Monstrosität, seiner Krise und seinem Scheitern, das Enquist in rund dreißig Büchern beharrlich umkreist hat. ... Wie das Gute durchsetzen, ohne zu den Mitteln des Bösen zu greifen? Per Olov Enquist gibt sich in der Beantwortung dieser Frage geschichtspessimistisch - dies, obwohl er lange Zeit ein bekennender Linker war." Weitere Nachrufe schreiben Fokke Joel (ZeitOnline), Gerrit Bartels (Tagesspiegel) und Matthias Hannemann (FAZ).

Weitere Artikel: In China wird die Schriftstellerin Fang Fang für ihre Pläne angefeindet, ihr Corona-Tagebuch über Wuhan in den USA zu veröffentlichen, berichtet Fabrian Kretschmer in der taz: Sie wird "vom aufgebrachten Internet-Mob als 'Verräterin' und 'Marionette des Westens' gebrandmarkt". Im Standard meditiert der Schriftsteller Tex Rubinowitz über die neue Rolle der Fenster im Alltag. In der NZZ verteidigt Daniel Ammann Horrormotive in Kinderbüchern, denn "gute Geschichten ermutigen Kinder, sich den Nachtseiten des Lebens zu stellen."

Besprochen werden Klaus Buhlerts Hörspielbearbeitung von Thomas Pynchons Romans "Die Enden der Parabel", das laut 54books-Kritikerin Christina Dongowski gemessen an der Vorlage von Vornherein nur scheitern konnte, dies aber im Vorfeld "ästhetisch und konzeptionell deutlich ambitionierter und differenzierter" hätte "wollen müssen", Jeanine Cummins' "American Dirt" (Presse), Thorsten Nagelschmidts "Arbeit" (Tagesspiegel), Edna O'Briens "Das Mädchen" (Berliner Zeitung), Arno Widmanns "Szenen aus der frühen Corona-Periode" (Freitag),  Téa Obrehts "Herzland" (NZZ), Ulrich Bechers "New Yorker Novellen" (FR), Martin Panchauds Comic "Die Farbe der Dinge" ("einfach nur grandios", jubelt Thomas Hummitzsch von Intellectures) und neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Philip Pullmans "Ans andere Ende der Welt" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Norbert Hummelt über Paul Celans "Drüben":

"Erst jenseits der Kastanien ist die Welt.
Von dort kommt nachts ein Wind im Wolkenwagen...
..."
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Architektur

Fritz Eisels Glasmosaik "Der Mensch bezwingt den Kosmos" am Rechenzentrum Potsdam. Foto: RZ

Nicht nur der Mäusebunker in Berlin soll abgerissen werden, auch das Rechenzentrun in Potsdam ist vielen ein Dorn im Auge. In der FAS kann Niklas Maak nur ungläubig beobachten, wie mit Meisterwerken der Moderne umgegangen wird: Ob im preußisch-seligen Potsdam bald auch Perückenpflicht eingeführt wird? "Das 1971 eröffnete Rechenzentrum steht sozusagen mit einem Fuß auf dem Grundstück, auf dem der Turm der alten Potsdamer Garnisonkirche wiederaufgebaut wird. Und deswegen ist die Kollision von Düsenjet und Adler, Krone und Kosmonaut auch das Bild eines Risses, der durch die Gesellschaft geht: Es geht darum, welche Stadt man will, welchen Platz die Geschichte in ihr hat und welchen die Kunst. Denn das Rechenzentrum wird schon lange nicht mehr als Rechenzentrum genutzt; Seit 2015 hat sich in dem leerstehenden Verwaltungsbau eine Kulturszene angesiedelt, um die viele Kreativquartierplaner Potsdam beneiden: Hier mieten zweihundert Künstler und Start-ups auf 5000 Quadratmetern günstig Büros und Ateliers, im Hof finden Aufführungen und Feste statt."
Archiv: Architektur

Kunst

Jan van Eyck Genter Altar


In der NZZ erzählt Thomas Ribi die Geschichte des Genter Altars, den Jan van Eyck im Auftrag des Bürgermeister Joos Vijd 1432 anfertigte und den das Museum der Schönen Künste in Gent Corona-bedingt nicht in seiner großen Ausstellung, dafür aber nur in einem hervorragenden Katalog zeigen könne: "Der Genter Altar ist ein Riesenwerk, und es ist vom majestätischen Hauptbild mit Christus, Maria und Johannes dem Täufer und der Verehrung des Lamms Gottes über die hinreißende Verkündigungsszene bis zu den anrührenden Darstellungen von Adam und Eva so aufwendig gemalt, dass ein Einzelner damit kaum zurande kam. Allein das Zepter, das der thronende Christus auf der Haupttafel in der Hand hält, dürfte einen Maler rund einen Monat lang beschäftigt haben. Ohne Hilfe einer ausgezeichneten Werkstatt hätte Jan die Aufgabe nie bewältigt."

Im FR-Interview hofft Franziska Nori, Direktorin des Frankfurter Kunstvereins, auf eine schrittweise Öffnung der Museen ab dem 5. Mai - auch wenn digitale Formate längst fester Bestandteil der Kunst sind und Museen digitale Kanäle nutzen müssen: "Es gibt auch Kunst, die meiner Meinung nach ihre Wirkkraft einbüßt und zur visuellen Information verflacht, wenn sie nur online zu sehen ist."

Auch in der SZ berichtet Jörg Häntzschel heute vom Abzug der Flick-Collection aus Berlin. Er erinnert zwar an ihre düstere Geschichte, bedauert den Verlust für die Stadt aber doch: "Das alles wäre wohl vermeidbar gewesen, hätte man sich nur dahintergeklemmt. Zurück bleiben immerhin 286 Werke von Paul McCarthy, Stan Douglas, Candida Höfer, Isa Genzken, John Cage, Franz West und anderen, die Flick 2008 und 2016 den Berliner Museen geschenkt hat."

Weitere Artikel: Stephan Lehmann berichtet in der FAZ, dass die Bronzeplastik im Aachener Dom erstens keine Wölfin, sondern eher eine Bärin darstellt und dass sie neuesten Erkenntnissen zufolge nicht aus spätrömischer Zeit stammt, sondern bereits auf die griechisch-hellenistische Zeit datiert werden müsse. Sebastian Strenger hofft in der taz auf eine Öffnung der Monet-Ausstellung im Museum Barberini, bevor die wertvollen leihgaben zurückmüssen.
Archiv: Kunst

Film

Am Freitagabend wurde der Deutsche Filmpreis vergeben - und es regnete Lolas für Nora Fingscheidts "Systemsprenger". Corona machte aus der Fernsehübertragung allerdings eine Szenenfolge von inszenatorischem Minimalismus und Schalten in die Wohnzimmer der Nominierten und Ausgezeichneten. Bei dieser brüchigen Darbietung stach ziemlich ins Auge, "wie fremd der deutsche Film im deutschen Fernsehen wirkt", meint Andreas Kilb in der FAZ: "Die Selbstfeier der Filmakademie, üblicherweise durch Revuegepränge, Bigband und Promi-Auftritten getarnt, wurde diesmal in ihrem ganzen berufsständischen Partikularismus vorgeführt. Das Kino, dessen Überleben als Erfahrungsraum und Mittelstandsbranche auf der Kippe steht, ist auf dem Schirm nur geduldeter Gast."

Die geringe Anzahl der Preisträger, die die Lolas unter sich verteilten, ließ in FR-Kritiker Daniel Kothenschulte "ein Gefühl von Leere" entstehen: "Als dieser höchstdotierte deutsche Kunstpreis noch von Fachjurys vergeben wurde, galt gerade die Vielfalt des Filmangebots als besonders fördernswert. ... Offensichtlich geht die Pluralität bei einem Abstimmungsverfahren verloren, das dringend reformiert werden muss. Besser noch: Man sollte den Staatspreis vom Akademiepreis trennen." Im Tagesspiegel bescheinigt Andreas Busche der Branche an diesem Abend  ein großes Harmoniebedürfnis. Ausgezeichnet wurde eindeutig der allgemeine Konsensfilm des Jahres: "Dass Fingscheidts Spielfilmdebüt hingegen weder für den Oscar nominiert war, noch beim Europäischen Filmpreis einen der Hauptpreise gewann (John Gürtler wurde für den Score ausgezeichnet), ist bei aller Euphorie allerdings auch eine Erinnerung daran, dass der deutsche Film 2019/20 ein regionales Phänomen bleibt."

Tobias Kniebe feiert in der SZ den Schauspieler Albrecht Schuch, der als "bester Hauptdarsteller" (für "Berlin Alexanderplatz") und "bester Nebendarsteller" (für "Systemsprenger") gleich zwei Lolas erhielt. Weitere Berichte in der Berliner Zeitung und taz,

Besprochen werden die Netflix-Serie "Feel Good" (Freitag, Tagesspiegel), die Amazon-Serie "Tales from the Loop" (NZZ), die letzte Staffel der Netflix-Serie "Messiah" (Freitag) und neue Heimmedien-Veröffentlichungen, darunter George Cukors "Der Chapman-Report" (SZ).
Archiv: Film

Bühne

In der Berliner Zeitung beklagt der Intendant des Deutschen Theaters, Ulrich Khuon, dass über eine Wiederöffnung der Bühnen nicht einmal ansatzweise diskutiert wird: "Mein persönlicher Gemütszustand schwankt zwischen Angriffslust und Enttäuschung." In der Nachtkritik fordert auch der Direktor des Bühnenvereins, Marc Grandmontagne, Planungssichertheit.

Weiteres: Die Nachtkritik zeigt in ihrem Theaterstream heute Abend "Drei Milliarden Schwestern" von Bonn Park und Ben Roessler sowie "IchundIch" von Else Lasker-Schüler in Wuppertal. Hier gibt es den digitalen Spielplan der Nachtkritik und hier gibts die Streaming-Vorschläge des Tagesspiegels.
Archiv: Bühne

Musik

Berthold Seliger erinnert in der Jungen Welt an Karl Amadeus Hartmanns Klaviersonate "27. April 1945", die unter den Eindrücken des Todesmarsches der Häftlinge des KZs Dachau entstanden ist - "ein Schlüsselwerk der Moderne und eine grandiose, virtuose und spieltechnisch ebenso aberwitzige Komposition wie ihre wichtigsten Nachfolgerinnen, Frederic Rzewskis 'The People United Will Never Be Defeated!' oder Cornelius Cardews 'Thälmann-Variationen', mit denen sie auch die Verwendung revolutionärer Lieder und solcher der Arbeiterbewegung teilt." Wolfgang Döberleins Einspielung steht auf Youtube:



Außerdem: Julian Weber schreibt in der taz einen Nachruf auf den Detroiter Technoproduzent Mike Huckaby. Besprochen werden das neue Album von Laura Marling (Berliner Zeitung), ein Album des Klarinettisten Martin Fröst mit Andreas Tarkmanns nach den Vorgaben von Vivaldis Stilistik erstellten Kompositionen (Welt), das Comeback-Album der Strokes (Jungle World) sowie Gavin Fitzgeralds und Charlie Lightenings Musikdoku "Liam Gallagher: As It Was" (SZ).

In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Lorenz Jäger über Iris DeMents "Not With a Lover's Lyre":

Archiv: Musik