Efeu - Die Kulturrundschau

Welch zarter Überdruss

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24.07.2020. Die Berliner Zeitung schwelgt im langen Y der jetzt auch singenden Schauspielerin Sandra Hüller. Wir verlernen unsere Material-Intelligenz, bedauert die NZZ. Die Zeit empfiehlt Uisenma Borchus Film "Schwarze Milch" über die mongolischen Schwestern Ossi und Wessi. In der SZ verteidigt Staatssekretärin Petra Olschowski Sandra Richter vom Literaturarchiv Marbach gegen ihre Kritiker.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.07.2020 finden Sie hier

Musik

Schon als Schauspielerin findet Sandra Hüller auf der Bühne wie auf der Leinwand ihren Weg tief in die Herzen des Publikums, schwärmt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung. Und erst recht gelingt ihr das mit "Be Your Own Prince", ihrem Debütalbum, in dem schon einzelne Buchstaben große Effekte zeitigen. In dem Stück "The One" etwa stößt Seidler auf "ein sehr langes Y, das ganze Dramen fasst." Es "gehört zu dem Wort 'sorry' und changiert zwischen Wut, Resignation, Liebe, Trauer und Ironie. Zwanzig Sekunden schwebt dieser Ton, bis der letzte Atemhauch ausgequetscht ist (wehe, da wurde irgendwas geloopt!) - und im Bild schiebt sie sich immer weiter in die Schräge, irgendwie yogaartig, ausgeschlafen und zugleich todmüde, bis sie mit ihrer Hand am Boden ist und sich zwar in einer stabileren Lage wiederfindet, in dieser aber, nach kurzer Prüfung, auch keine Erleichterung. Was für ein zäher Kummer! Und welch zarter Überdruss."



Weitere Artikel: Für eine Reportage im Guardian hat sich Charlotte Higgins in eines der Labore begeben, die Chorgesang und Blasinstrumentenspiel pandemiologisch analysieren. Das Garagenrock-Label Burger Records wurde nach MeToo-Vorwürfen aufgelöst, berichtet Johannes von Weizsäcker in der Berliner Zeitung. Michael Pilz hat für die Welt das Gut Fresenhagen besucht, auf dem Rio Reiser begraben liegt. Peter Keepnews (NY Times) und Wolfgang Sandner (FAZ) schreiben Nachrufe auf die Jazzsängerin Annie Ross. Hier ein Auftritt bei der BBC:



Besprochen werden Kamaal Williams' Jazzalbum "Wu Hen" (Pitchfork), weitere Jazzneuheiten (NMZ), die Yacht-Rock-Compilation ""The Ladies of Too Slow to Disco, Vol. 2" (taz) und eine Schostakowitsch-Aufnahme der Violinistin Alina Ibragimova (NZZ).
Archiv: Musik

Design

"Der Mensch verlernt, was man Material-Intelligenz nennen könnte", tadelt Eduard Kaeser in der NZZ und meint damit "eine vitale Direktheit zum Stoff, Kenntnis und Gespür für das Woraus der Dinge." Selbst "Leute, die professionell mit Materie betraut und vertraut sind, sind zu Spezialisten geworden. Sie haben vielleicht ein vertieftes, aber dadurch verengtes Wissen." Digitaler Weltanschauung liegt eine Verkümmerung der Perspektiven zugrunde, meint er: "Ein Stuhl ist nicht eine Sammlung von Informationen. Er lässt sich nicht googeln. Ein Stuhl ist ein Stuhl ist ein Stuhl. Eine umwerfende Trivialität, von akuter Brisanz. ... Die ganze gepimpte Armatur an Apps und Gadgets erweist sich im Grunde als technisch erweiterte Beschränktheit. Nichts wird verstanden, was nicht zuerst in den Sinnen war."

Die Herausforderungen für den Alttextilmarkt hat Heike Holdinghausen für die taz recherchiert: Dort wird die Lage zusehends desolater, weil immer mehr Billigkleidung produziert und verkauft wird. "Von sinnvoll geschlossenen Kreisläufen sei kaum ein Sektor so weit entfernt wie der Textilsektor. 'Wenn die Hersteller die Kleidung so produzieren, dass sie nur sechs bis sieben Maschinenwäschen halten', sagt Müller von Fairwertung, 'dann können sie die auch nicht mehr ordentlich Second Hand gebrauchen.' Nicht mal mehr zu Putzlumpen können viele alte Klamotten verarbeitet werden - ihr Kunststoffanteil ist zu hoch."
Archiv: Design

Film

Keine harmonische Natur: Uisenma Borchus "Schwarze Milch" 

Mit ihrem zweiten Film "Schwarze Milch" kehrt die Münchner Filmemacherin Uisenma Borchu an ihren Geburtstort in der Mongolei zurück, den sie als kleines Kind mit ihren Eltern verließ. Sie selbst spielt "Wessi" aus dem Westen und trifft in der Mongolei auf "Ossi" (Gunsmaa Tsogzol). Es geht um Fragen der Biografie, erklärt Lili Hering in der Zeit: "Wessi tritt ihrer Filmschwester mit einer gewissen Arroganz entgegen, sie, die Fremde, möchte der Nomadin die eigenen progressiven Werte aufdrängen. Der Film fragt: Ist Emanzipation nicht ein innerer Prozess und kann eine der Kulturen das Primat darüber haben? Borchu beschreibt Widersprüche: Die Nomadinnen seien allesamt Frauen mit viel Kraft, sagt sie. Nicht nur um die Tiere beisammenzuhalten, bedürfe es einer 'starken Stimme'; patriarchale Strukturen seien aber in den Grundfesten verankert. ... 'Rumgeleide', wie es Frauenfiguren im Film oft zu spielen hätten, das interessiert Borchu gar nicht." Im Tagesspiegel ist Dunja Bialas sehr dankbar für Borchus präzisen, an Sensationen nicht interessiertem Blick: "Das Leben in der Wüste, das Putzen der Zähne unter freiem Himmel, das Schlachten einer Ziege mit der bloßen Hand wird nie in 'atemberaubenden' Bildern von Kameramann Sven Zellner gezeigt. ... Borchu hat den Alltag in der Wüste in ihr Drehbuch eingebaut, sie will keine harmonische Natur beschwören. In der Wüste kann jeden Moment der Tod einfallen." Und Olga Baruk bezeugt im Perlentaucher "immer wieder dieses beeindruckende Nichts" in den Bildern der Wüste.

Außerdem: Sonja Thomaser freut sich in der FR darüber, dass Netflix und Co. nun auch Schurkinnen als Figuren entdecken. Besprochen werden Roberto Minervinis Dokumentarfilm "What You Gonna Do When the World's on Fire?" (Tagesspiegel, critic.de, mehr dazu bereits hier), ein Band mit Schriften der Filmemacher Danièle Huillet und Jean-Marie Straub (Tagesspiegel), Levan Akins "Als wir tanzten" (Berliner Zeitung), Justine Triets Tragikomödie "Sibyl" (Standard) und ein Biopic über Thomas Edison mit Benedict Cumberbatch in der Hauptrolle (Tagesspiegel, Welt, SZ).
Archiv: Film

Bühne

In der FAZ schildert Jan Brachmann die schwierige Lage in Bayreuth: Katharina Wagner krank (aber auf dem Weg der Besserung), Ausfall der Festspiele wegen Corona (aber die Reihe "Diskurs Bayreuth" findet statt und einen Film, Simon Steen-Andersens "The Loop of Nibelung", gibt es auch).
Archiv: Bühne

Kunst

Bild aus der Sammlung Ruth und Peter Herzog 


"Hier ist das Foto so, wie es sein soll: eigensinnig, ekstatisch und narzisstisch", ruft eine begeisterte Daniele Muscionico (NZZ) vor den - oft von anonymen Amateurfotografen geknipsten - Fotos aus der Sammlung Peter und Ruth Herzog, die das Kunstmuseum Basel ausstellt. "Kein Foto", lernt sie, "ist frei von Absichten, kein Bild ist neutral. Die Fotografie ist vielmehr das Medium, bei dem Absicht und Tat, Wunsch und Wirklichkeit in eins fallen. Die Lüge steht hier nicht im Gegensatz zur Wahrheit, und Illusion muss nicht antreten gegen Realität. Die Fotografie vereint alle vermeintlichen Widersprüche in sich - und birgt zudem ein latentes Suchtpotenzial. Von den Höhlen der Steinzeit bis in die Computerhöhlen der Gegenwart sind Menschen bildersüchtig: Die Doppelnatur der Fotografie scheint so betörend, dass wir ihr offenbar willenlos verfallen. Und wir verfallen, weil es magisch ist: Indem wir fotografieren, machen wir uns die Welt so, wie sie uns gefällt."

Weiteres: In Berlin eröffnen erste Galerien wieder, berichtet Anne Waak in der Welt.

Besprochen werden außerdem Lena Marie Emrichs Ausstellung ""Mainly fair later" im Kunstverein Göttingen (taz), eine Ausstellung mit Werken von Schiele, Rainer und Kokoschka aus der Kunstsammlung von Ernst Ploil in der Landesgalerie Niederösterreich in Krems (Standard), zehn künstlerische Interventionen aus Norwegen im Felleshus der Nordischen Botschaften in Berlin-Tiergarten (Tagesspiegel), Michel Layaz' Roman über den Künstler Louis Soutter (NZZ), eine Werkschau des amerikanischen Künstlers John Miller im Berliner Schinkel Pavillon (Tagesspiegel), eine Ausstellung zu "Reichskunstwart" Edwin Redslob im Werkbundarchiv in Berlin (Tagesspiegel), eine Ausstellung von Hans Haackes Frühwerk "Kunst, Natur, Politik" im Museum Abteiberg in Mönchengladbach (FAZ) und die Ausstellung "Das Auge des Fotografen. Industriekultur in der Fotografie seit 1900" im Museum für Druckkunst in Leipzig (FAZ).
Archiv: Kunst

Literatur

Im SZ-Gespräch stellt sich Staatssekretärin Petra Olschowski hinter Sandra Richter vom Literaturarchiv Marbach. Aus kulturpolitischer Sicht sei die Bilanz bislang "positiv". Im Hinblick auf die im Haus schwelenden Konflikte um Personalfragen und Ausrichung des Hauses  erinnert sie "an den Amtsantritt ihres Vorgängers Ulrich Raulff und an die enormen Diskussionen und Konflikte, die es damals - und auch über einen längeren Zeitraum - gegeben hat. ... Auch damals gab es schon Konflikte zwischen der Internationalisierung der Institution und ihrer Verankerung in der Region. Den Vorwurf, der Direktor sei zu wenig präsent, der jetzt gegen Sandra Richter erhoben wurde, den gab es auch damals schon. Man darf aber nicht vergessen, dass der Ausbau digitaler Kanäle zur Öffentlichkeit eine Anforderung gewesen ist, die die Findungskommission an die neue Leitung des Hauses gestellt hat. Das ist der Auftrag, den Sandra Richter hat."

Besprochen werden Hanns Zischlers Romandebüt "Der zerrissene Brief" (Tagesspiegel), Ulrike Almut Sandigs "Monster wie wir" (SZ), André Acimans "Find Me, Finde mich" (Freitag) und Thomas Kapielskis "Kotmörtel" (FR).
Archiv: Literatur