Efeu - Die Kulturrundschau

Unaufdringlich großartig

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19.08.2020. Die Kritiker begutachten wohlwollend die Longlist des Deutschen Buchpreises: Schön vielfältig, loben taz und Tagesspiegel, auch im Erzählen. In der Berliner Zeitung spricht die Bühnenbildnerin Aino Laberenz über das Gebirge an Material, das Christoph Schlingensief hinterlassen hat. Wie gut würde ein Schlingensief dem heutigen Debattenklima tun, seuzft Monopol. Der Perlentaucher bewundert die Explosion des Lichts in Michael Almereydas Biopic "Tesla" .
9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.08.2020 finden Sie hier

Bühne

Zum zehnten Todestag von Christoph Schlingensief kommen ein neues Buch und ein Filmporträt von Bettina Böhler über ihn heraus. Im Interview mit Ulrich Seidler spricht die Bühnenbildnerin Aino Laberenz in der Berliner Zeitung über den Nachlass ihres Mannes, der wie ein Gebirge in ihrem Leben steht: "Ich habe natürlich auch seine Arbeit ganz anders entdeckt nach seinem Tod. Christoph kannte sein ganzes Material und ihm war immer daran gelegen, dass es veröffentlicht wird. Wenn er sich dafür entschieden hat, etwas nicht zu zeigen, dann möchte ich das auch nicht. Es ist ja sein Material. Man muss auch gucken, wie man mit Theateraufzeichnungen umgeht. Ich würde auch keine bewegten Bilder, die in einer Installation vorkamen, zu einem Film erklären. Das wäre ein Eingriff in seine künstlerische Arbeit, als würde ich hier und da ein bisschen was nehmen und nach meiner Vorstellung kombinieren. Das wäre auch eine Aneignung, die ich nicht möchte. Ich respektiere ihn zu sehr als Künstler. Auch wenn er Genregrenzen überschritt und mit dem Chaos arbeitete - er war sehr genau, klar und nicht willkürlich."

Der Standard bringt einen Vorabdruck aus dem Interviewband "Kein falsches Wort jetzt". Und Elke Buhr, die das Buch schon gelesen hat, sinniert auf Monopol: "Wie würde Schlingensief im aufgeheizten Debattenklima von heute wohl bewertet werden? Er, der er Asylbewerber in Container sperrte? Der an der Volksbühne den Schauspieler Alfred Edel wetten ließ, dass er es schafft, innerhalb von zehn Minuten einen Judenstern an ein türkisches Lebensmittelgeschäft zu malen? Hätte er Shitstorms gesammelt ohne Ende? Wäre er überhaupt noch kompatibel gewesen für ein Klima, in dem vermeintlich jedes Wort auf die Goldwaage gelegt werden muss?"

Weiteres: Auch SZ-Kritiker Egbert Tholl hat jetzt beim Zürcher Theaterspektakel Yan Duyvendaks Krisenspiel "Virus" erlebt, hadert aber mit dem Ausgang: Die eine Hälfte der Bevlökerung ist tot, die andere lebt in einem totalitären Regime und für Europa ist die beste Option der erstarkte Kapitalismus. Ebenfalls in der SZ freut sich Till Briegleb über einen gelungenen Auftakt des Hamburger Sommerfestivals auf Kampnagel, dessen besondere Qualität er im "klug organisierten Anekdotischen" entdeckt.
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Literatur

Sehr zufrieden ist Dirk Knipphals mit der gestern bekannt gegebenen Longlist für den Deutschen Buchpreis. Dass keine Jury aus alten Hasen in diesem Jahr dafür verantwortlich zeichnete, habe dem Ergebnis gut getan: Man stoße auf "erwartete Namen, Überraschungen, alte Bekannte, schöne Debüts" sowie einige Leseempfehlungen für Kommendes oder zuvor Übersehenes, die der taz-Kritiker gerne auf seine Leseliste packt. Ähnlich geht es auch Gerrit Bartels vom Tagesspiegel, der ebenfalls ein paar Tipps mitnimmt und feststellt, dass die Longlist sehr unterschiedliche Formen des Erzählens bündelt - "doch, ja, genau, es geht um Vielfalt, nicht zuletzt die des Erzählens (und dazu gehört das pralle Erzählen eben auch)." Alles in allem wenig überrascht ist Andreas Platthaus in der FAZ, der sich immerhin darüber freut, dass "das Rätselraten, wie diese Liste zustande kam und wer davon es in vier Wochen wohl auf die dann nur noch sechs Titel umfassende Shortlist schaffen wird, uns ein hochwillkommenes Stück Normalität bieten wird", selbst wenn die Siegerbekanntgabe im Oktober aus bekannten Gründen ohne Publikum stattfinden wird. Schade findet es Judith von Sternburg hingegen in der Berliner Zeitung, dass Thorsten Nagelschmidts "Arbeit" oder Anna Katharina Hahns "Aus und davon" bei der Auswahl auf der Strecke geblieben sind.

Weitere Artikel: Gregor Dotzauer beugt sich im Tagesspiegel über Hegels Gedicht "Eleusis", das der Philosoph Hölderlin gewidmet hatte. Claudia Schwartz spricht in der NZZ mit Lisa Eckhart.

Besprochen werden unter anderem Uli Oesterles Comic "Vatermilch" (Intellectures), Ben Lerners "Die Topeka-Schule" (SZ), Jean-Marc Rochetts Comic "Der Wolf" (Tagesspiegel) und Mieko Kawakamis "Brüste und Eier" (FAZ).
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Film

Wo ist eigentlich mein Macbook abgeblieben? Ethan Hawke als Tesla.

Über die Brecht'schen Verfremdungsgags, die Michael Almereyda in seinem Biopic "Tesla" aufführt, kann Perlentaucher Lukas Foerster zwar nur milde lächeln ("oh, ein Macbook! In einem Historienfilm!"), aber in seinen schönsten Momenten ist dieser Film über den verschrobenen bis waghalsigen Erfinder "ein Schaulaufen aller Lichter dieser Welt. Tesla-Licht und Edison-Licht, das Licht des Wechselstroms und das Licht des Starkstrom, das Licht der Kohlebogenlampe und das Licht des Oszillators, blaues Licht und orangenes Licht, spitzes Licht und stumpfes Licht, gemaltes Licht, gefilmtes Licht, Lichtmontagen, Lichtparzellen, Kerzenlicht in der Gelehrtenstube, eine regelrechte Lichtexplosion im Pavillon of Light auf der Weltausstellung 1893. Sean Price Williams, der Impressionist unter den jüngeren amerikanischen Kameraleuten, ist zweifellos der richtige Mann für eine solche Lichtparade." SZ-Kritikerin Kathleen Hildebrand hingegen fehlt in diesem Film die Spannung.

Zwischen Frankophilie und New Hollywood: "The Climb"

Ein böses Buddy-Movie haben Michael Angelo Covino und Kyle Marvin mit "The Climb" vorgelegt: Zwei Freunde suchen Halt im Leben, eine Frau - und kommen sich dabei immer wieder in die Quere. Klingt nach Standard, ist es aber nicht, versichert Jenni Zylka im Tagesspiegel: "Die gleichzeitig liebevollen und sarkastischen Tableaus, die Covino und Marvin ihren Helden ausbreiten, hieven das Buddy-Movie auf eine neue Ebene": "Die Dialoge versprühen klassischen Comedy-Appeal, die Schlagfertigkeit erinnert in ihrer Neurotik an frühe Woody-Allen-Filme." Auch taz-Kritiker Tim Caspar Boehme ist begeistert von dieser "unaufdringlich großartigen Komödie, insbesondere weil sie aus existenziellen, oft tragischen Wendungen komische Funken schlägt, die nicht abgegriffen wirken." Kurz: "Ein Feel-Good-Movie, das gern weh tut."

Weitere Artikel: Lory Roebuck porträtiert in der NZZ die Nachwuchs-Schauspielerin Luna Wedler. Besprochen werden Visar Morinas "Exil" (Standard, Berliner Zeitung) und das Netflix-Remake der 80s-Zeichentrickserie "She-Ra" (taz).
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Kunst

Der irisch-amerikanische Künstler Sean Scully sucht für seine Kunst eine neuen Hafen, berichtet Stefan Trinks in der FAZ, da die Kunsthalle Karlsruhe nicht die Mittel für einen Erweiterungsbau aufbringen kann, die eine üppige Schenkung erfordern würde. David Kampmann blickt in der FAZ auf die schwer gebeutelte Kulturszene im Libanon, für die sich in Brüssel und Paris jetzt Unterstützung regt.

Besprochen werden die Schau "Un_controlled territories" des Belgrader Künstlers und Politaktivisten Siniša Ilic im Kunstraum Innsbruck (Standard) und und eine Ausstellung in der Kremser Landesgalerie, die erkundet, wie die Kunst den Mythos Wachau schuf (Standard).
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Musik

Nora Noll berichtet in der SZ von MeToo-Vorwürfen gegen den Sänger Mark Kozelek. Wolfgang Fuhrmann berichtet in der FAZ vom flämischen Musikfestival "Polyphonie verbindet".

Besprochen werden A.G. Cooks sieben Discs umfassendes, avantgardistisches "Hyperpop"-Album "7G" (taz), das neue Album von The Killers (Berliner Zeitung), Makaya McCravens Jazzalbum "Universal Beings E&F sides" (FAZ) und weitere neue Popveröffentlichungen, darunter eine neue EP von The Notwist (SZ). Wir hören rein:

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