Efeu - Die Kulturrundschau

Das positivste Gefühl der Jetztzeit

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10.11.2020. In der FAZ erklärt die Gestalterin Christa Petroff-Bohne die besondere Nachhaltigkeit des DDR-Designs. Die Bilder des mit dem Leica Award aufgezeichneten Fotografen Luca Locatelli lobt sie dagegen etwas säuerlich als opportun und dekorativ. Ausgiebig kommentiert wird von taz bis SZ, dass Monika Maron ab jetzt bei Hoffmann und Campe veröffentlicht. Und der Guardian hört dank OpenAI nagenneue Stücke von Frank Sinatra und Freddie Mercury.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.11.2020 finden Sie hier

Literatur

Nachdem S.Fischer angekündigt hatte, keine Bücher von Monika Maron mehr zu veröffentlichen, ist die Schriftstellerin nun im Heine-Verlag Hoffmann und Campe untergekommen. "Der Kapitalismus funktioniert", schlussfolgert daraus Dirk Knipphals in der taz. Und auch, "dass nun auf einer womöglich sinnvollen, auf jeden Fall sachlichen Ebene diskutiert werden kann. Es geht eben keineswegs um Zensur und auch nicht um Cancel-Kultur, sondern letzten Endes um verlegerische Richtungsentscheidungen." Froh ist Knipphals auch, dass jetzt alles wieder in zwei Körbchen sortiert ist: "Nun aber kann man sich als Leser*in entscheiden: Öffnung bei Fischer, Ressentiments gegen Offenheit bei Hoffmann und Campe."

Auch für Gerrit Bartels im Tagesspiegel stellt sich die Sache nun endgültig als "typischer Geschäftsvorgang in der Verlagsbranche" dar. "Entfremdung ist traurig, aber für Monika Maron ist es gut ausgegangen", schließt Judith von Sternburg ihre Meldung in der FR. Auch für Cornelia Geißler in der Berliner Zeitung ist es nun "an der Zeit, wieder über Texte zu sprechen."

Und Hoffmann und Campe? Zielt der Verlag unter Tim Jung, der dort vor einem Jahr auf Birgit Schmitz folgte, auf einen Richtungswechsel oder eine Pluralisierung des Programms? Das fragt sich Felix Stephan in der SZ. Immerhin unterfüttert Jung die Verlagsentscheidung mit Heines Freiheitsbegriff . "Dass es ihm um eine 'lebendige Demokratie' geht, möchte man ihm gerne glauben. Dass aber ausgerechnet der jüdische Republikaner Heinrich Heine in Anschlag gebracht wird, der viele Jahre im Pariser Exil gelebt hat, um Marons Platz innerhalb der bürgerlichen Öffentlichkeit zu wahren, ist durchaus auch ein bisschen ruchlos."

Weitere Artikel: Der Schriftsteller Alexander Graeff erklärt im 54books-Essay, wie heteronormativ ihm der Literaturbetrieb, in den er vor einigen Jahren langsam vordrang, vorkam und welcher Gegenwind ihm dabei, queere Positionen sichtbarer zu machen, auch heute entgegenschlägt. Der Schriftsteller Luke Wilkins schreibt in der NZZ von seinem Weg zum ersten Roman. Besprochen werden unter anderem Uda Strätlings Neuübersetzung von Ann Petrys "The Street" (ZeitOnline), Stefanie Sargnagels "Dicht" (Berliner Zeitung), die Comicanthologie "Sie wollen uns erzählen", die Tocotronic-Songs ins Bild setzt (Berliner Zeitung), Andrea Petkovićs "Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht" (SZ) und Marita Krauss' Biografie über die Tänzerin Lola Montez (FAZ).
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Kunst

Luca Locatelli: Future Studies Bild: Leica skar Barnack Award

Der Leica Oskar Barnack Award war nie von solch politischer Dringlichkeit wie der World-Press-Photo-Preis, vergewissert sich FAZ-Kritiker Freddy Langer in der Ausstellung zu seinem vierzigjährigen Bestehen im Wetzlarer Ernst-Leitz-Museum. Aber so dekorativ wie die Bilder des neuen Preisträgers Luca Locatelli waren die Werke auch noch nie. Locatelli befasst sich mit Energie, Abfallvermeidung, Lebensmitteln: "Aber das lässt sich so leicht nicht abbilden, weshalb er etwa Salatbeeten im Treibhaus oder einem Algenbioreaktor mit knalligen Farben und strengen grafischen Kompositionen nur Momente von faszinierender Schönheit abgewinnt, doch ohne umfassende Erklärung sind seine Bilder nicht zu begreifen. Sie illustrieren Texte, statt selbst zu erzählen, führen die Redensart ad absurdum, wonach ein Bild mehr sagt als tausend Worte, und bestätigen Brechts Erkenntnis aus den dreißiger Jahren, wonach eine Fotografie der Krupp-Werke oder der AEG beinahe nichts über diese Institute ergebe." Interessanter erscheinen Langer die Bilder des Portugiesen Gonçalo Fonseca, der für seine Arbeit über die dramatische Wohnsituation in Lissabon mit dem Newcomer-Preis ausgezeichnet wurde.

Auch im Observer jubelt Laura Cummings über die bahnbrechende Schau der südafrikanischen Fotokünstlerin Zanele Muholi in der Tate Modern in London (mehr hier): "Es wäre untertrieben zu sagen, dass diese Bilder einen zweimal über Hautfarbe, Kolonialismus, Unterdrückung oder staatliche Grausamkeit nachdenken lassen. Diese Selbstporträts konfrontieren einen mit Bildern von außergewöhnlicher Schönheit - exquisit ausgeleuchtet, brillant aufgenommen, von tiefgründiger Intelligenz -, aber sie überlassen einem nicht der reinen Bewunderung. Sie wollen vermitteln, aufrütteln, diese Porträtkunst ist Aktivismus." Auf Lensculture erklärt Muholi ihre Arbeit.

Weiteres: In der taz stellt Fabian Lehmann die Comic-Biografiereihe vor, mit denen der Autor und Zeichner Willi Blöß die Kunstgeschichte nacherzählt. Inzwischen ist seine Reihe beim Band 36 über die Sammlerin Peggy Guggenheim angelangt, nach Band 35 über Paul Gauguin. Als "meta und melancholisch" goutiert Seph Rodney auf Hyperallergic die Bilder, die Mike Zahn in einer Online-Ausstellung "Todo y nada" von der leeren Shrine-Gallery präsentiert.
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Design

Jürgen Müller unterhält sich für die FAZ mit der DDR-Designerin Christa Petroff-Bohne, deren schlicht funktionale Edelstahl-Entwürfe immer noch zeitlos wirken und erst allmählich wieder wertgeschätzt werden. DDR-Design lehrt auch heute noch, "aus wenigem möglichst viel Sinnvolles, Haltbares und Langlebiges zu machen", sagt sie. "Es gehörte in der DDR auch eine große Bereitschaft dazu, sich mit Widrigkeiten auseinanderzusetzen. Da in der DDR, anders als in vielen westlichen Unternehmen, nicht der Profit die Industrieproduktion antrieb, waren die Widerstände gegen etwas Neues oft erheblich. Design bedeutet in jedem Falle eine Änderung von eingefahrenen Routinen. Da war oft viel Behäbigkeit im Raum." Im Design der Gegenwart beobachtet sie "große Verschwendung und viel Überflüssiges. Defekte Produkte, zu deren Wiederherstellung Baugruppen oder nur Kleinteile ausgewechselt werden müssten, werden entsorgt."

In der SZ schreibt David Pfeier über den nostalgischen Appeal im Produktdesign, der den bloßen Trend- und Modestatus längst überschritten hat und als Konstante anzusehen ist. Studien belegen überdies, dass Nostalgie "ein gutes Mittel gegen Einsamkeit sei" und generell dem Wohlbefinden diene: "So gesehen ist die Nostalgie das positivste Gefühl der Jetztzeit, ein freundlicher Narzissmus. Und die Produkte, die sie mit sich bringt, stellen den Wunsch nach Verbindung dar."
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Bühne

Für den Tagesspiegel holt sich Patrick Wildermann von Berlins IntendantInnen eine Abfuhr nach der anderen ein für Thomas Ostermeiers Vorschlag, die Theater gleich ganz bis Ostern zu schließen und dann im Sommer durchzuspielen. Der Standard baut auf den Neustart des Wiener Volkstheaters im Januar. In der Nachtkritik erinnert sich Atif Mohammed Nour Hussein an die Wendezeit als den Taumel der anderen.
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Film

Leider nur hinter einer Bezahlschranke meldet die Welt, dass sie bei Recherchen herausgefunden hat, wie sehr der Filmproduzent Ludwig "Luggi" Waldleitner bei der Entnazifizierung gelogen hat.

Besprochen werden die deutsche Netflixserie "Barbaren" (NZZ) und die heute Nacht beim NDR ausgestrahlte Doku "Die Heimkehr" über ehemalige IS-Terroristen, die es hier auch als Podcast zum Hören gibt (taz).
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Musik

Im Guardian wirft Derek Robertson einen Blick auf neueste Errungenschaften im Bereich Künstliche Intelligenz und Musikproduktion: Nachdem man das System OpenAI mit 1,2 Millionen Songs inklusive deren Metadaten und Songtexten gefüttert hat, könne diese nun annäherungsweise etwa neue Stücke von Frank Sinatra und Freddie Mercury ausspucken - Deepfake Music nennt sich das. Die Folgen könnten weitreichend sein: "Zahlreiche Startups wie etwa Amper Music produzieren maßgeschneiderte, KI-generierte Musik für Medieninhalte, weltweites Copyright inklusive. Auch Spotify versucht sich daran. ... Es fällt nicht schwer, vorherzusehen, dass solche Deepfakes zu ethischen und urheberrechtlichen Problemen führen können. Wer die Marktpreise nicht zahlen will, um die Musik eines etablierten Künstlers in einem Film, einer Serie oder einem Werbespot zu nutzen, könnte seine eigene Imitation generieren. Streamingdienste könnten unterdessen ihre Genre-Playlists mit ähnlich klingenden KI-Musikern aufpolsten, für die sie keine Tantiemen zahlen müssen, um so den Profit zu steigern." Auf Soundcloud hat der Entwickler einen eigenen Kanal. Die Ergebnisse klingen derzeit allerdings noch nach am eigenen Radiogerät per Sendersuche selbst gestalteter Klangkunst mit geisterhaftem Appeal. Hier "Elvis Presley":



Weitere Artikel: Im Standard erklären Kruder & Dorfmeister, warum ihr bereits vor 25 Jahren aufgenommenes Debütalbum erst jetzt erscheint. Wer die USA der Gegenwart verstehen will, muss Leonard Cohens 1992 erschienenes Album "Future" hören, schreibt Hannes Stein, dem sich die Platte im Rückblick als gespenstisch prophetisch offenbart. Die FAS hat ihr Gespräch mit Judith Holofernes online gestellt. In der FR spricht der Frankfurter Clubbetreiber Ata Macias über die Lage seiner Branche im Kultur-Lockdown. Jan Brachmann schreibt in der FAZ einen Nachruf auf den Cellisten Alexander Buslow, der im Alter von nur 37 Jahren gestorben ist. Laurenz Lütteken gratuliert in der NZZ dem Dirigenten Ralf Weikert zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden das neue Album der Dirty Streets (FR) und neue Schubert-Aufnahmen (SZ).
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